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Moonlight – Ein Flüstern in der Dunkelheit: Fünf Romane in einem Band

©2019 958 Seiten

Zusammenfassung

Übernatürlich schön! Der Romantic-Fantasy-Sammelband »Moonlight« von Bestseller-Autorin Kaitlyn Abington jetzt als eBook bei jumpbooks.

Umgeben von tiefen Wäldern wächst Prinzessin Lynn von Alba im Landschloss ihrer Familie auf. Bald soll sie ihre große Liebe, Lord Duncan, heiraten. Doch jede Nacht wird sie von demselben Albtraum heimgesucht. Als eine der grauenhaften Bestien aus ihrem Traum auf dem Schloss sein Unwesen treibt, flieht sie Hals über Kopf in den Wald und läuft einem Fremden mit wunderschönen Wolfsaugen in die Arme. Und obwohl sie Duncan von Herzen liebt, fühlt Lynn sich schon bald zu ihrem geheimnisvollen Begleiter hingezogen. Nach und nach muss Lynn erkennen, dass ihr bisheriges Leben ein einziges Lügengebilde ist. Selbst ihren eigenen Erinnerungen kann sie nicht mehr trauen. Doch wird sie ihrer wahren Bestimmung gewachsen sein?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Romantic-Fantasy-Sammelband »Moonlight – Ein Flüstern in der Finsternis« von Kaitlyn Abington. Dieses eBook ist auch unter dem Titel »Wolfsbraut« bekannt. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Umgeben von tiefen Wäldern wächst Prinzessin Lynn von Alba im Landschloss ihrer Familie auf. Bald soll sie ihre große Liebe, Lord Duncan, heiraten. Doch jede Nacht wird sie von demselben Albtraum heimgesucht. Als eine der grauenhaften Bestien aus ihrem Traum auf dem Schloss sein Unwesen treibt, flieht sie Hals über Kopf in den Wald und läuft einem Fremden mit wunderschönen Wolfsaugen in die Arme. Und obwohl sie Duncan von Herzen liebt, fühlt Lynn sich schon bald zu ihrem geheimnisvollen Begleiter hingezogen. Nach und nach muss Lynn erkennen, dass ihr bisheriges Leben ein einziges Lügengebilde ist. Selbst ihren eigenen Erinnerungen kann sie nicht mehr trauen. Doch wird sie ihrer wahren Bestimmung gewachsen sein?

Dieses eBook ist auch unter dem Titel »Wolfsbraut« bekannt.

Über die Autorin:

Kaitlyn Abington ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Nach ihrem Studium der Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte hat sie unter ihrem Klarnamen mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

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eBook-Sammelband-Originalausgabe Juni 2019

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Copyright © sämtlicher Originalausgaben 2015, 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2019 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © Shutterstock / Ase / justdd und © Pixabay / Pradasgarcia.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ca)

ISBN 978-3-96053-265-1

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Kaitlyn Abington

Moonlight – Ein Flüstern in der Dunkelheit

Fünf Romane in einem Band

jumpbooks

Kapitel 1

Lynn

Mein Puls hämmerte. Ich starrte in die Finsternis.

Mein Atem ging flach, während mir das Blut in den Ohren rauschte.

Was hatte mich geweckt?

Diese verdammte Stille!

Was war mit der Funzel auf meinem Nachttisch passiert? War sie von allein erloschen? Oder hatte sie jemand gelöscht? Kaum denkbar. Aber dann schoss mir eine wirre Erinnerung ins Bewusstsein, eigentlich war es nicht viel mehr als der Nachklang eines komischen Gefühls, als ob ein Fremder mitten in der Nacht hier in meinem Zimmer gewesen wäre. Eine irritierende Vorstellung: Ich fühlte, dass da jemand war, der nicht hergehörte, und im nächsten Augenblick – bin ich wohl wieder eingeschlafen. Aber – war das in dieser Nacht gewesen? Ich war mir nicht sicher, ich war mir absolut nicht sicher.

Vielleicht war es nur ein Albtraum. Schließlich konnte niemand so ohne weiteres bei mir eindringen.

Irgendwie beruhigten mich diese Überlegungen nicht. Im Gegenteil. Auf einmal stieg die Erinnerung an eine furchtbare Angst in mir auf und mir wurde siedend heiß.

Warum konnte ich mich nicht genauer erinnern?

Die Dunkelheit lastete wie eine zentnerschwere Decke auf mir, presste mich aufs Bett und hielt mich umklammert.

Jetzt war es nicht mehr ganz so still. Irgendetwas tat sich draußen auf dem Flur. Es hörte sich wie ein Scharren an, das sich langsam näherte. Es stoppte genau vor meiner Tür. Aus dem Scharren wurde ein Kratzen. Und dann folgte ein rasselndes Keuchen.

Mir wurde eiskalt.

Von draußen drang ein Knurren herein, tief, kehlig – nein, nicht von draußen, der Laut kam von hier, hier aus meinem Zimmer. Das war kein Albtraum. Ich war wach, ich war bestimmt wach und da knurrte es neben meinem Bett ...

Mein Verstand setzte aus. Die Angst überlief mich wie loderndes Feuer und versengte mir den Atem. Ich wollte schreien, aber es war, als drückte mir die Dunkelheit die Kehle zu. Ich konnte nur leise wimmern, dann schwanden mir die Sinne. Ich merkte kaum, wie mein Bewusstsein in einer Ohnmacht davonglitt.

Als ich das nächste Mal erwachte, kroch grau die Morgendämmerung durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Ich fühlte mich, als wäre ich die ganze Nacht gerannt und gerannt – genauer gesagt, vor etwas davongerannt. Jeder Muskel tat weh, sogar mein Nacken schmerzte, als ich zu dem Tischchen neben meinem Bett spähte. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich das hübsche Kirschholztischchen auf dem Dachboden entdeckt und war direkt stolz darauf gewesen, es in mein Zimmer geschleppt zu haben. Allerdings hatte ich mir damit zwei Tage Zimmerarrest eingehandelt, weil ich unerlaubt auf dem Dachboden herumgestöbert hatte. Ich wusste bis dahin nicht, dass der Dachboden eine Art Sperrzone darstellte.

Auf der Platte stand das Glas mit meinem gewohnten Abenddrink, der einen eigenartigen Grünschimmer angenommen hatte. Eklig.

Ich starrte das Glas an und konnte dabei kaum einen klaren Gedanken fassen. Eadha würde ihr übliches Geschrei machen, wenn sie entdeckte, dass ich die Milch nicht getrunken hatte. Das kam bei meiner Schusseligkeit alle paar Monate mal vor. Schon deshalb streckte ich halbherzig die Hand nach dem Glas aus – und zuckte zurück.

Neben dem Glas entdeckte ich das erloschene Nachtlicht. Ich liebte diese kleine Funzel, die dazu diente, meine Albträume in Schach zu halten.

Ich nahm das Lämpchen vom Tisch und schüttelte es sacht. Es war noch Öl darin, ich hörte es gluckern. Von allein konnte es nicht erloschen sein.

Ich stellte die Lampe zurück und strich mir über die schweißnasse Stirn.

Ohne mir ganz klar zu sein, was ich tat, griff ich nach dem Glas. Gerade, als das Getränk meine Lippen benetzte, stieg mir ein leicht modriger Geruch in die Nase. Dennoch war mein Durst so groß, dass ich einen kleinen Schluck nahm, einen sehr kleinen Schluck, den ich sofort bereute, dabei schmeckte das Zeug beinahe wie sonst, das hieß, es lief brennend die Kehle hinunter. Aber der Ekel war nicht mehr zu bremsen. Nicht mal das Aroma von frischen Erdbeeren, mit denen Eadha das Getränk versetzt hatte, vertrieb die faulige Unternote.

Ich schüttelte mich und stellte das Glas zurück auf das Tischchen neben die erloschene Lampe.

Was für ein scheußlicher Tagesanfang.

Dabei war es kein Tag wie jeder andere. Als mein Blick auf das Kleid fiel, das mir gegenüber am Schrank hing – ein Möbel, in dem sich ein Dutzend Einbrecher hätte verstecken können –, fiel mir ein, welch besondere Bedeutung dieser Tag für mich hatte.

Es handelte sich um ein Ballkleid aus himmelblauer Seide, über und über mit seltenen kleinen Perlen bestickt. Die Taille war tief angesetzt und darunter bauschte sich der Rock über sehr viel Tüll. Das enge Oberteil war so tief ausgeschnitten, dass der Ansatz des Busens enthüllt wurde – eines allerdings nicht gerade aufregenden Busens. Ich hätte gern mehr gehabt: genug, um die Blicke von meinem runden Puddinggesicht abzulenken.

Auf einmal durchströmte mich ein Glücksgefühl.

Wenn ich überhaupt einen Wunsch hatte – außer dem, nicht mehr von Albträumen heimgesucht zu werden –, dann den, mit Duncan am Abend den Ball zu eröffnen.

Vor lauter Sehnsucht seufzte ich seinen Namen. Ich wusste, dass er bereits eingetroffen sein musste, wenn auch zu spät, um ihn noch zu begrüßen. Außerdem bezweifelte ich, dass er mitten in der Nacht Wert auf meine Begrüßung gelegt hätte. Wahrscheinlich war er von Dùn Èideann bis hierher gehetzt und sofort todmüde ins Bett gefallen.

Genüsslich stellte ich mir vor, wie sich seine Augen vor Bewunderung weiteten, wenn ich in meinem Kleid die Treppe herabschwebte, die von einer Galerie im ersten Stock direkt in den über zwei Stockwerke reichenden Ballsaal hinabführte. Sehr viel wahrscheinlicher war aber, dass ich in meinen neuen Schuhen mit den hohen Hacken stolperte und die halbe Treppe hinabfiel.

Lord Duncan war der schönste Mann, den ich in meinem Leben gesehen habe. Bei jeder Begegnung wurden mir die Knie weich und das Herz tat weh. Trotz der irrsinnigen Verliebtheit machte ich mir nichts vor. Ein wohlbekannter Schmerz meldete sich in meiner Brust. Man musste uns ja nur zusammen sehen. Und außerdem: Duncan war elf Jahre älter als ich. Gegen ihn war ich bloß ein Kind, zumindest gab mir hier jeder dieses Gefühl – und er leider auch.

Aber jetzt betrug der Altersabstand rein rechnerisch nur noch zehn Jahre, fiel mir ein, denn heute war mein sechzehnter Geburtstag. War das wirklich der sechzehnte? Hatte ich den nicht letztes Jahr schon gefeiert?

Irgendwie trat ich altersmäßig auf der Stelle. Oder nicht? Zumindest kam es mir so vor.

War das nicht völliger Blödsinn? Aber wieso beschäftigte mich dann so etwas?

»Dacht’ ich’s mir, du bist wach«, unterbrach Eadhas Stimme meine Gedanken.

Rasch schloss ich die Augen und drehte den Kopf zur Seite, um das Gegenteil zu beweisen. Ich hatte sie nicht hereinkommen gehört.

»Hier ist dein Frühtrank«, fuhr Eadha unbeirrt fort. »Setz dich auf und plempere nicht damit rum wie gestern Morgen.«

Unwillig beäugte ich das Glas in ihrer Hand. Die Flüssigkeit schimmerte bläulich, und ich tippte auf Blaubeeren als Geschmackszutat. Ich mochte Blaubeeren, aber nicht jeden zweiten Morgen. Irgendwann musste mal Schluss damit sein. Warum nicht heute?

»Ich will Kaffee«, krächzte ich. »Schwarz, ohne Milch und Zucker. Ich hab nachgerechnet, ich bin sechzehn. Seit heute.«

Eadha beäugte mich verblüfft, dann lachte sie kehlig auf. Inzwischen hatte sie das Bett erreicht und hielt mir gebieterisch das Glas entgegen. »Solange ich für dich verantwortlich bin, trinkst du das hier. Kaffee ist was für Erwachsene. Ich hab dich letzte Nacht nicht schreien gehört.«

Eadhas Blick wurde lauernd. Für mich war sie, seit ich mich erinnern konnte, sowohl Kindermädchen als auch persönliche Dienerin. Sie schlief immer noch im Nebenzimmer, und die Verbindungstür blieb nachts angelehnt. Diese Angewohnheit aus Kindertagen sollte ich endlich abschaffen, bloß war ich bisher zu träge dazu gewesen. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, nachdrücklicher zu erklären, dass ich nicht mehr wie eine Fünfjährige behandelt werden wollte.

Ich wusste nicht, was an diesem Tag mit mir los war. Normalerweise dachte ich nicht so viel nach. Längere Zeit nachzudenken, machte mich hundemüde. Und dann erst erfasste ich Eadhas letzte Bemerkung so richtig.

Mit einem leisen Ausruf des Erstaunens legte ich die Hand an die Kehle. »Jetzt weiß ich’s. Ich hatte ...« Ich suchte nach den passenden Worten. Allein schon die Erinnerung ließ Panik aufkommen, die ich aber notdürftig unterdrückte. »Es ist vorbei«, sagte ich schließlich gefasst. »Mit sechzehn hat man keine Albträume mehr.« Wieder so eine dumme Bemerkung.

Eadha hatte die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, hielt den Kopf schräg und betrachtete mich forschend. In den letzten Jahren war sie ganz schön dick geworden. Sie hatte ein breiteres Gesicht als ich. Sein meist gutmütiger Ausdruck flößte Vertrauen ein und täuschte glatt darüber hinweg, dass sie mich liebend gern herumkommandierte.

»Keine Albträume mehr«, wiederholte ich nüchtern. »Das hoffe ich wenigstens«, schob ich zögernd nach. Mit einem Schaudern drängte ich die Erinnerung an die letzte Nacht noch tiefer in die Schatten des Vergessens.

Eadhas Blick wurde stechend. »Du hast nicht von riesigen Wölfen geträumt, die dich durchs Schloss jagen und am Ende kriegen und zerreißen?«

Unversehens sah ich es deutlich vor mir:
Gelb glühende Augen über mir, ein mächtiger, weit aufgerissener Kiefer, blutige Lefzen, Geifer, der aus der Schnauze auf mein Gesicht tropft, und dieses Knurren …

Meine Augen hatten sich geschlossen, ich riss sie aber wieder auf, um den grauenhaften Bildern zu entgehen. Ein unkontrollierbares Zittern befiel mich.

»Nein, hab ich nicht«, krächzte ich entsetzt.

»Trink!« Resolut hielt mir Eadha wieder das Glas entgegen.

»Und was ist das da?« Eadha hatte das fast volle Glas vom Abend auf dem Tisch entdeckt. Anklagend wies sie mit der freien Hand darauf. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass dieses Getränk wichtig für deine schwache Gesundheit ist? Na? Ist das zu viel verlangt, morgens und abends ein Glas davon zu trinken, damit du gesund und bei Verstand bleibst?«

Ich hörte gar nicht richtig zu, so oft hatte sie das schon zu mir gesagt. Aber auf einmal erstarrte ich.

»Was ist?« Eadha betrachtete mich misstrauisch.

»Der Schuh der Glücksfee ist nicht mehr da«, flüsterte ich und strich mir über die Kehle, tastete sogar mehrmals den Hals bis zur Brust ab.

Zu meiner Verblüffung schwankte Eadhas Hand, die das Glas hielt. Etwas Flüssigkeit schwappte heraus und ergoss sich auf meine Bettdecke. Eadha hatte den Kopf gesenkt, als ob sie verbergen wollte, was in ihr vorging. Aber dann hob sie ihn und runzelte die Stirn.

»Na, und? Wahrscheinlich ist das Band gerissen, als du dich die ganze Nacht im Bett herumgewälzt hast. Du wirst deinen Anhänger wiederfinden, und wenn nicht, ist es auch egal. Mach dich nicht lächerlich. Ein Schuh der Glücksfee! So was gehört zur Kindheit, und deine ist ab heute vorbei. Sagst du ja selbst.« Ein leichter Anflug von Hinterhältigkeit huschte über ihr Gesicht, so rasch, dass ich ihn für Einbildung halten konnte. Leider war es fast immer schwierig für mich, Einbildung und Wirklichkeit auseinander zu halten. Sobald ich anfing, über die Wirklichkeit nachzugrübeln, entglitt sie mir wie in einem Zauberspiegel. Und längeres Nachdenken weckte in mir Ängste und vage Erinnerungen, über die ich lieber nichts Genaues wissen wollte.

Meine Stimme zitterte, als ich wieder sprach. »Du hast recht. Na, dann her mit dem Glas.« Ich wollte es hinter mich bringen. Heute Morgen mit Eadha zu streiten, machte noch weniger Sinn als sonst, denn meistens zog ich doch den Kürzeren.

Ich trank das Glas in einem Zug leer. Nach dem letzten Schluck stellte sich Ekel ein, wie seit Wochen schon. Ich konnte mir diese Reaktion nicht erklären und versuchte, sie sofort zu vergessen. Das hieß, ich würde am folgenden Tag noch einmal um Kaffee bitten – bloß energischer. Wenn ich mich nicht endlich wenigstens bei solchen Lächerlichkeiten wie dem täglichen Zwangsgesöff zur Gegenwehr aufraffte, würde sich nie etwas ändern.

»Ich werde dir jetzt dein Bad bereiten«, sagte Eadha zufrieden, griff nach dem leeren Glas, nahm auch das andere mit und strebte zur Tür. Bevor sie sie erreichte, wandte sie sich um und lächelte mich warmherzig an. »Und was ich noch sagen wollte: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Zu deinem sechzehnten.«

Vermutlich meinte sie es aufrichtig. Das brachte mich dazu, einer weiteren kindlichen Anwandlung nachzugeben.

»Danke, Eadha. Und – der Anhänger war doch nicht wirklich ein Schuh der Glücksfee, oder? Du hast gesagt, es ist einer, aber das war ein Scherz, nicht wahr?« Schließlich sah der Anhänger nicht einmal wie ein Schuh aus, sondern wie ein formloser Klumpen geschmolzenes Blei. Und Glücksfeen gehörten ins Märchenland. Tatsächlich standen mir zum Lesen seit Jahren nur Märchen- und ein paar Erbauungsbücher zur Verfügung, ich kannte sie alle in- und auswendig. Ich war fit in Sachen Märchen und Legenden, zeitweise regelrecht fixiert darauf. Aber dass ich nun diese Frage stellte, musste Eadha davon überzeugen, dass mich die übliche Dummheit gepackt hatte und ich den restlichen Tag leicht zu lenken sein würde.

Dennoch: Dieser Klumpen hatte etwas mit meiner Vergangenheit zu tun, mit jener, an die ich mich nicht genau erinnern konnte.

Statt zu antworten, schielte Eadha zum Fenster hinaus. »Es wird ein schöner Tag«, murmelte sie, »und es wird einen klaren Abend und eine Nacht voller Sterne geben. Eine wundervolle Ballnacht.« Ihre Stimme nahm einen drängenden Ton an. »Pass auf, dass du nichts Falsches tust oder sagst, bevor es Nacht wird.« Ohne sich noch einmal umzuwenden, ging sie hinaus und ließ mich ratlos zurück. Was sollte denn diese Drohung bedeuten? War das nur einer ihrer üblichen Einschüchterungsversuche oder war mehr daran?

Sobald ich allein war, begann ich meine Kissen zu durchwühlen auf der Suche nach etwas, das mir auf einmal wieder wichtig und kostbar erschien. Ein kleines Ding, das nicht an einen Schuh erinnerte und das beim Zubettgehen noch dagewesen war.

Was war in der vergangenen Nacht geschehen? Dunkel und unscharf stellte sich eine Erinnerung ein und entglitt mir wieder. Alles, was blieb, war erstaunlicherweise eine vage Vorstellung von Mondlicht und Kühle.

Tatsächlich strich frische Luft durch das angelehnte Fenster herein und fesselte schließlich meine Aufmerksamkeit. Ich glitt aus dem Bett, lief hinüber, riss die Vorhänge zur Seite, stieß die beiden Fensterflügel weit auf und begann gierig die Luft einzuatmen, die mir über das erhitzte Gesicht strich und schließlich unter mein dünnes Nachthemd fuhr. Für einen Moment schloss ich die Augen, um die Erfrischung in vollen Zügen zu genießen. Als ich die Augen wieder öffnete, glitt mein Blick über den weitläufigen Schlossgarten. Rasenflächen bestimmten ihn und hohe alte Bäume, die ihre mächtigen Kronen in den Himmel reckten. Es war ein schönes vertrautes Bild in satten Grüntönen.

Ich meinte, mal etwas von üppigen Rosenbeeten gehört zu haben, die es früher gegeben hatte, von denen aber keine Spur mehr vorhanden war. Es gab nichts Blühendes, nicht einmal das Rhododendrongehölz am Ende des Gartens trieb Blüten. Lediglich ein fahles Gewächs, das sich kriechend am Fuß der Schlossmauern ausbreitete, direkt unterhalb der Fenster, produzierte Rispen giftgelber, scheußlich riechender Blüten, und ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, dass die Gärtner das widerliche Zeug endlich ausreißen würden.

Ich starrte hinunter und fing ungläubig an zu blinzeln. Vom taubenetzten Rasen her zog sich eine Spur durch das Gewächs, die direkt unter meinem Fenster endete. Am Abend zuvor hatte es dort keine Spur gegeben, da war ich mir ziemlich sicher. Ich beugte mich weit hinaus. Die Mauern unseres verwinkelten Schlosses bestanden in diesem Trakt aus grauen Natursteinen, zwischen denen breite Mörtelfugen klafften. Für einen geschickten Fassadenkletterer bildeten diese Fugen geradezu eine Einladung. Warum war mir das nicht früher aufgefallen?

Weil ich bisher noch keinen unbekannten nächtlichen Besucher im Schlafzimmer gehabt hatte!

In den Sommernächten standen meine Fenster offen, obwohl Eadha sie jeden Abend sorgfältig schloss. Aber sobald sie das Zimmer verlassen hatte und ich ihr Schnarchen aus dem Nebenraum hörte, riss ich die Fenster trotz der Mückenplage wieder auf und schloss sie erst im Morgengrauen, möglichst bevor Eadha zu mir hereinkam. Im Hochsommer konnte es im Zimmer ganz schön stickig werden.

Jetzt musste ich mich der Frage stellen, ob jemand in der Nacht zwei Stockwerke hochgeklettert und bei mir eingestiegen war.

Der springende Punkt für mich war, ob das Keuchen neben meinem Bett Teil eines Albtraums oder Wirklichkeit gewesen war.

Aufgeschreckt rannte ich zu der Tür, die auf den Flur hinausging, und prüfte, ob sie abgeschlossen war. Ja, diese Tür war verriegelt. Von dort war niemand bei mir eingedrungen. Langsam schloss ich sie auf, drehte mich wieder um und lehnte mich gegen die Tür. Plötzlich meldete sich die Erinnerung mit Macht und löschte jeden Zweifel aus. Jemand war bei mir im Zimmer gewesen, mitten in der Nacht, aber er war vom Garten hereingekommen, nicht vom Flur.

War so etwas möglich, ohne mich zu wecken?

Aber ich war doch wach geworden, oder?

Und was war mit diesen Geräuschen, die vom Flur hereingedrungen waren? Kratzen an der Tür, Knurren.

Einbildung oder Traum?

Meine Erinnerung, die gerade noch so klar gewesen war, verwischte, machte der nur allzu vertrauten Verwirrung und Hilflosigkeit Platz. Halluzinationen, Albträume. Ich hätte einen schwachen Verstand, erklärte mir Eadha immer wieder und oft genug glaubte ich ihr. Aber die Fußspuren draußen waren doch real!

Ich rannte zurück zum Fenster.

Da waren sie, die Spuren, die sich vom Rasen durch das Kraut zogen, klar und deutlich erkennbar.

Die Kühle auf meiner Haut war nicht mehr angenehm und ließ mich schaudern.

Eadha rief.

Wahrscheinlich wollte sie mich mahnen, endlich ins Badezimmer zu kommen. Die Hand auf mein wild pochendes Herz gepresst, versuchte ich, mich zu beruhigen. Schließlich war mir vergangene Nacht ja nichts passiert.

Eadha rief wieder, diesmal eindeutig ärgerlich.

Zitternd und frierend schloss ich das Fenster und nahm mir fest vor, es nie wieder für die Nacht zu öffnen, selbst wenn mich Erstickungsanfälle befielen. Solange sie mich nicht umbrachten, würde ich damit fertig werden. Ich dachte wieder über den Eindringling nach. Was hatte er gewollt?

Auf einer Kommode stand ein hübsches Kästchen mit silbernen Beschlägen, die meine paar Schmuckstücke enthielt. Ich klappte es auf und sah hinein. Es war alles noch da. Ich raffte meinen Morgenrock vom Sessel neben der Kommode und streifte ihn achtlos über. Während ich ihn zuband, fiel mir der verschwundene Talisman wieder ein. Aber wegen dieses wertlosen Dings würde kein Dieb ein Risiko auf sich nehmen. Und außerdem hätte er dann erst mal von der Existenz dieses Anhängers wissen müssen. Hatte mir jemand einen Streich gespielt, der wusste, wie leicht ich in Panik geriet und dass mir der Anhänger etwas bedeutete?

Aber war denn wirklich jemand eingestiegen? Das Parkett schimmerte überall gleichmäßig. Hätte jemand, der von draußen eingedrungen wäre, nicht eine Schmutzspur hinterlassen: etwas Staub, Reste zertretener Blätter und gelber Blüten?

»Das Badewasser wird kalt. Bist du wieder eingeschlafen?« Eadha war in der Tür erschienen.

Ich hatte mich neben dem Kleid an den Schrank gelehnt und antwortete nicht sogleich.

»Was ist? Was trödelst du hier herum?«

»Ich hab ...« Ich schluckte, setzte neu an und versuchte, nicht zu angespannt zu klingen. »Ich hab nur überall nach dem Talisman gesucht, blöd, nicht?«

»Du kriegst ihn wieder«, meinte Eadha, »nichts geht wirklich verloren in dieser Welt.«

Ich zuckte zusammen. Nichts geht wirklich verloren in dieser Welt, klang wie ein Echo, aber es war eine andere Stimme als die Eadhas, die ich innerlich hörte. Eine zärtliche, warme Stimme aus einer tiefen Vergangenheit, die wie durch dichten Nebel zu mir drang. Das war nicht das erste Mal, dass da etwas in mir emporstieg. Bilder, Gesichter, Stimmen, Klänge. Mein Blick verschleierte sich, heftete sich auf den Boden, auf den nun der erste Lichtstrahl der Sonne fiel, und in dieser glänzenden Sonnenbahn meinte ich, den schwachen, kaum erkennbaren Abdruck einer riesigen Pfote wahrzunehmen.

Ein seltsames Schwindelgefühl ergriff von mir Besitz, die Wirklichkeit entglitt mir, Finsternis breitete sich aus und schließlich hörte ich einen furchtbaren Schrei. Meinen eigenen Schrei.

»Trink, trink, Herzchen, gleich geht es dir besser.«

Eadha hielt mir ein Glas an die Lippen und ich trank durstig. Wieder dieses in der Kehle brennende Zeug, diesmal mit einem deutlich bitteren Beigeschmack.

»Danke.« Ich setzte das Glas ab und stellte fest, dass Eadha mich ins Badezimmer geführt und mir bereits aus dem Morgenmantel geholfen hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst. Immer diese Schwäche! Aber ich wollte keine Schwäche zeigen, nicht heute, nicht an diesem besonderen Tag. Ich presste eine Hand zur Faust zusammen und grub mir die Nägel ins Fleisch. Der Schmerz sollte mir dabei helfen, einigermaßen beherrscht zu bleiben.

»Kein Albtraum in der Nacht, aber dafür dieser lästiger Schwindel. Wieso überkommt der mich immer wieder? Bin ich krank?«, fragte ich halbwegs gefasst.

»Ich hab’s dir schon oft gesagt, und sag es dir noch mal: Das passiert jungen Leuten, die noch im Wachstum sind. Kein Grund zur Beunruhigung.« Es war großherzig von ihr, dass sie diesmal nicht auf meinen schwachen Verstand hinwies.

Ich sah skeptisch an mir hinunter. »Zehn Zentimeter mehr würden mir schon gefallen. Ich will nicht mein Leben lang so ein Zwerg bleiben.« Das Getränk half wie immer. Ein wenig spürte ich noch das Grauen, aber es begann sich zu verflüchtigen, zusammen mit den verstörenden Erinnerungen. Dankbar glitt ich in das warme Wasser der Wanne.

Als ich eine Stunde später, fertig angezogen für einen kleinen Ausritt, die große Eingangshalle durchquerte, begegnete mir Sir Cormac. Er war ein großer hagerer Mann, stets in Schwarz gekleidet, das durch den strengen Schnitt seines Anzugs umso finsterer wirkte.

Sobald er mich bemerkte, blickte er mich von oben herab an und näselte: »Guten Morgen. Wie ich sehe, wollen Sie ausreiten. In Hosen.« Ein leichter Tadel schwang in seiner Stimme mit, der mich augenblicklich verdross.

Cormac hatte die Oberaufsicht über den Haushalt, mehr aber auch nicht. Mir hatte er eigentlich nichts zu sagen. Versuchte es aber trotzdem immer wieder. Auf seine ganz eigene Weise verstand er es, mir jede Handhabe zu nehmen, mich dagegen zu wehren. Sein leichenfahles, schmales Gesicht zog sich noch mehr in die Länge und die Brauen, die wie ein halbiertes O nach oben geschwungen waren, unterstrichen das zusätzlich. Ich ging dem Mann gern aus dem Weg.

»Ja, Sir Cormac, ein kleiner Ausritt stählt den Körper, wie mein Vater immer sagt. Ist er schon auf?«

»Es ist ja auch noch recht früh.« Cormac stockte, als würde er gewaltsam eine Erinnerung zurückdrängen. Dann fuhr er gelassener fort: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Ausritt und ...«, wieder machte er eine Pause, aber diesmal verneigte er sich gemessen, »... und ich wünsche alles Gute zum Geburtstag – wenn ich mir das erlauben darf.«

»Aber natürlich, Sie dürfen.« Ich nickte dem alten Widerling knapp zu und wollte davoneilen, blieb aber, einem plötzlichen Impuls nachgebend, stehen.

»Ist«, ich stockte, »ist Lord Duncan schon hier?« Warum fiel es mir so schwer, seinen Namen vor anderen auszusprechen? Wahrscheinlich, weil ich fürchtete, dass es mir nicht gelang, meiner Stimme einen unbeteiligten Klang zu geben.

Cormac schüttelte bedauernd den Kopf. »Er müsste aber jeden Augenblick eintreffen, das ist sicher.«

»Ganz sicher«, mischte sich eine melodische Stimme ein. »Ich weiß es, er ist lange vor dem Mittagessen da.«

Ich schaute zur Treppe.

Mit unnachahmlich lässiger Grazie kam Fiona, eine Cousine dritten oder vierten Grades von mir die Stufen herab. Wie genau es sich mit unserer Verwandtschaft verhielt, wusste ich nicht und es interessierte mich auch nicht. Es genügte mir vollauf, ein bis zweimal im Jahr ihrem umwerfenden Charme ausgesetzt zu sein.

Ihr Aussehen sprach ganz klar dafür, dass wir nur entfernt verwandt waren. Wir waren uns kein bisschen ähnlich. Fionas Figur wies Kurven an genau den richtigen Stellen auf, dabei war sie beneidenswert groß und sehr, sehr schlank. Gegen ihre aufreizend langen, schönen Beine wirkten meine wie Kartoffelstampfer und mein kupferrotes, unordentliches Lockenhaar neben Fionas glatter, schimmernder schwarzer Haarpracht ähnlich attraktiv wie ein Wischmopp.

Fiona hatte die unterste Stufe erreicht und kam zu mir herüber. Sie trug ein enges dunkelrotes Kleid, das sich wie eine Schlangenhaut an ihre Figur schmiegte.

»Wieso weißt du es?«, fragte ich.

Cormac starrte Fiona unverhohlen bewundernd an, selbst diesen Stockfisch brachte ihr Anblick in Wallung.

»Weil wir uns hier verabredet haben. Heute findet doch dein erster Ball statt, deshalb kommen wir alle.« Fiona bedeutete Cormac mit einem beiläufigen Wink, uns allein zu lassen, und er gehorchte augenblicklich. Mir würde das nie gelingen, selbst wenn ich täglich bis zum Umfallen übte.

Doch was mir im Moment auf der Seele brannte, war etwas ganz anderes: Wie war das mit der Verabredung zu verstehen?

Fiona beugte sich zu mir herab. »Sicher siehst du in deinem Ballkleid entzückend aus. Es ist so ...«

Sie machte eine weit ausholende Handbewegung, um den Umfang des Kleides zu beschreiben, und in dieser Geste lag alles, was mir bisher entgangen war.

Es war ein Kinderkleid, eine blaue Zuckerwattewolke und Fiona selbst hatte mir zu diesem Rüschen- und Tüllunsinn geraten. Es war ihre Idee gewesen, meine pummelige Figur in ungefähr tausend Metern Stoff noch dicker und kindlicher erscheinen zu lassen, während sie ein schlichtes Kleid aus einem glänzenden anschmiegsamen Stoff trug, das allen zeigte, dass sie eine höchst attraktive, erwachsene Frau von zweiundzwanzig Jahren war. Es war überhaupt keine Frage, wem Duncan den Vorzug geben würde.

»Ein weiter Rock ist genau richtig für dich«, fuhr Fiona mit verschwörerischer Miene fort. »Besser als diese Hose, die zeigt, dass du ein bisschen zu viel Speck auf den Hüften hast. Du solltest keine Hosen tragen, glaub mir. Du reitest aus? Vielleicht sollte ich mitkommen?«

Bloß nicht, dachte ich betäubt.

»Aber nein«, beantwortete sie selbst die Frage. »Ich möchte Duncans Ankunft nicht verpassen. Das würde er mir übelnehmen.« Sie senkte den Blick und säuselte: »Und ich möchte ihn nicht gerade heute verärgern.«

Was du mir weismachen willst, stimmt einfach nicht, dachte ich. Mit Sicherheit war es nur einer der üblichen Versuche, mich zu verunsichern und die Oberhand über mich zu gewinnen – was ihr meistens gelang.

Wenn Duncan dich wollte, dachte ich wütend, wärt ihr längst verlobt, schließlich bist du schon über zwanzig. Zweiundzwanzig galt für Frauen aus unseren Kreisen als ziemlich alt für eine Verlobung.

Fiona trug einen auffallenden Ring am Finger, einen breiten goldenen Ring mit einem der höchst seltenen kostbaren Mondsteine. Jetzt drehte sie die Hand so, dass der Stein im Licht, das durch die hohen Fenster der Halle fiel, dunkel aufschimmerte. Sicher erwartete sie, dass ich sie fragte, von wem der Ring stammte.

Aber ich brauchte sie gar nicht zu fragen. Ihre selbstzufriedene Miene sprach Bände.

Duncan hatte Fiona einen Mondsteinring geschenkt? Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Es war ein wunderschöner Stein. Niemand verschenkte einen derartigen Stein ohne besondere Absichten, in diesem Fall Heiratsabsichten.

»Hübscher Ring, ich hoffe, er passt zu deinem Ballkleid«, stieß ich nicht sehr gewitzt hervor. »Verlier ihn bloß nicht, so einen bekommst du nie wieder.« Ich drehte mich um und rannte aus der Halle. All meine Vorfreude auf den Ball war erloschen.

Der Stallhof lag an einer der Schmalseiten des Schlosses hinter einer Mauer, die ihn vom Garten trennte. Ich schlüpfte durch das Tor und blieb stehen. Obwohl es so früh war, herrschte bereits rege Geschäftigkeit. Pferde wurden aus den Ställen geführt, um auf umliegende Weiden gebracht zu werden. Es waren fremde Pferde, die den Besuchern gehörten, die der weiten Anreise wegen einige Tage vor dem Ball eingetroffen waren und im Schloss übernachteten. Entfernte Verwandte wie Fiona. Viele von ihnen kannte ich nicht näher und war froh, keinem von ihnen hier zu begegnen. Diese Leute hatten etwas Einschüchterndes, nicht nur wegen ihrer Größe. Ich war es mehr als leid, dass beinahe jeder auf mich herabsehen konnte. Ich wusste nicht einmal, von woher die Einzelnen angereist waren. Nur wo Fiona am Vortag noch gewesen war, war mir bewusst. Im gleichen Ort wie Duncan. In Dún Èideann.

Nicht allzu weit davon entfernt, in Glenkinchie, hatte ich einige Zeit eine Klosterschule besucht. Die Nonnen waren nett, aber ich war so lange allein gewesen, dass es mir schwer fiel, Anschluss zu finden. Wahrscheinlich hielt mein Rang die anderen Schülerinnen davon ab, sich näher mit mir zu befassen. Sie blieben auf Distanz. Anfangs machte mir das nichts aus, ich hatte so viel nachzuholen, ich saugte das Wissen nur so in mich auf, denn endlich hatte ich einen Unterricht, der diesen Namen auch verdiente. Bis dahin hatte mich ein Hauslehrer unterrichtet, der es teuflisch gut verstand, mich regelmäßig einschlafen zu lassen. Er wusste nicht viel, kaschierte das aber durch endlos lange Sermone mit tausend Wiederholungen, die er in perfekt leierndem Ton vortrug.

Als ich es im dritten Jahr endlich geschafft hatte, mich mit zwei älteren Schülerinnen anzufreunden, war es auf einmal mit dem Unterricht im Kloster vorbei. Damals hatte ich mehr denn je unter Albträumen gelitten. An einem Tag hatte ich mit meinen beiden neuen Freundinnen eine Unterhaltung geführt, an deren Inhalt ich mich bis heute nicht erinnern kann. Nur daran, dass ich angefangen hatte zu schreien, bis eine der Nonnen herbeigerannt kam. Einige Tage später fand ein unangenehmes Gespräch mit dem Lordkanzler persönlich statt, der mir erklärte, dass ich leider in schlechten Umgang geraten wäre. Es wäre unverzeihlich, dass die mit meiner Sicherheit betrauten Personen nicht sorgfältiger auf mich geachtet hätten. Seitdem plagte mich die Frage, auf was für ein schreckliches Geheimnis ich damals gestoßen war.

Das lag über ein Jahr zurück. Einige Wochen hatte ich danach im Stadtschloss von Dún Èideann zugebracht, einem von Türmen und Zinnen gekrönten Bau mit schieferblau schimmernden Dächern, der auf einer Erhebung über der Stadt thronte und der in mir eine nicht zu bekämpfende Beklemmung auslöste. Ich war heilfroh gewesen, als ich in das Landschloss bei Tullibardine, das eigentlich nur eine Sommerresidenz war, zurückkehren durfte, wo ich bereits meine Kinderjahre verbracht hatte.

Woher kam der Albtraum, der sich Nacht für Nacht mit nur geringen Abweichungen wiederholte? Warum träumte ich von einem riesigen Wolf mit blutigen Lefzen? Mein Blick, mehr und mehr nach innen gerichtet, verschwamm, weil sich meine Augen mit Tränen füllten. Um Halt zu finden, war ich einen Schritt zurückgewichen und hatte eine Hand an den Torpfosten gelegt. Der raue Stein war kühl und seltsam tröstlich. Mein verschleierter Blick glitt nach oben. In die Torwölbung war ein Wappen eingemeißelt. Verwittert und grau war es kaum noch zu erkennen. Nur wenn ich mich stark konzentrierte, meinte ich, eine Blume zu sehen, eine Distelblüte.

Ein Ruf ließ mich zusammenschrecken.

»Ich hab dir gesagt, dass sie vor dem zweiten Hahnenschrei auftaucht«, rief eine fröhliche Stimme. »Die Wette hab ich gewonnen.«

Tatsächlich krähte wie zur Bestätigung laut und gellend ein Hahn.

»Du hast ihn abgerichtet, den dämlichen Hahn«, sagte eine andere Stimme kampflustig.

Zwei junge Stallburschen schauten mir entgegen und verneigten sich, als ich rasch in den Hof trat.

»Und um was habt ihr gewettet?«, fragte ich neugierig.

Die beiden schwiegen verlegen.

»Ich kann’s mir denken.« Ich winkte den einen, Gort, der meine Stute Meara am Zügel hielt, näher. »Aber daraus wird nichts. Ich reite allein aus.« Den Entschluss hatte ich eben erst gefasst. Und schon stieß ich damit auf heftigen Widerstand.

»Das, das ... dürfen Sie nicht.« Gort stotterte vor Aufregung. »Das geht auf gar keinen Fall.«

Ich mochte ihn lieber als Iogh, den anderen Stallburschen. Die beiden wechselten sich als meine Begleiter ab. Wir wussten alle drei, dass es mir strengstens untersagt war, allein auszureiten. Das Verbot gehörte zu den vielen Regeln, die alle dazu gedacht waren, mich vor Gefahren zu schützen. Aber was sollte mir in dieser durch und durch ländlichen und friedlichen Gegend schon groß passieren?

»Du kannst gehen, ich brauch dich nicht.« Ich nickte Iogh knapp zu und diesem blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen. Wenigstens hier konnte ich mich durchsetzen. Ob sich auch Gort meinen Wünschen fügen würde, stand noch nicht fest. An und für sich hatte ich an den Ausritten mit ihm noch die größte Freude. Er war ein hübscher achtzehnjähriger Junge von kräftiger, aber nicht allzu großer Statur mit weizenfarbenem, strubbeligem Blondhaar. Früher, bevor ich ins Kloster geschickt wurde, war unser Umgang miteinander lockerer gewesen. Aber seit meiner Rückkehr war unser Verhältnis ein anderes geworden, und er sah mich nur selten mit der alten treuherzigen Offenheit an.

Manchmal dachte ich daran, ihm zu sagen, wie albern er sich nun verhielt. Solange mir niemand eine Krone aufs Haupt drückte, waren wir immer noch die Gleichen wie früher. Aber wahrscheinlich handelte er auf Anweisung von oben, und ich würde ihn nur in Konflikte stürzen, wenn ich auf einer Rückkehr zum alten, legeren Umgangston bestünde.

»Aber mich«, sagte Gort leise und etwas von der alten Vertrautheit schwang in der Stimme.

»Nein!«, entgegnete ich und mied seinen Blick. »Heute nicht.«

»Warum nicht?« Gort musterte mich nachdenklich von der Seite, aber auf einmal huschte ein Grinsen über sein hübsches Gesicht. »Und warum nicht – wenn ich fragen darf?« Urplötzlich hatte sich sein Ton gewandelt, statt ehrerbietig war seine Frage eindeutig herausfordernd, und gleichzeitig verschlang er mich mit den Augen. Ich wusste nur zu gut, was in ihm vorging. Sobald er sich von mir unbeobachtet glaubte, glühte sein Gesicht hoffnungslos vor Verliebtheit.

Ich dachte an die Unterredung mit Fiona zurück und tat etwas Unverzeihliches.

»Gort?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja?«

»Findest du mich hübsch?«

Erst einmal verschlug es ihm den Atem.

»Fragst du im Ernst?«, erkundigte er sich schließlich und vergaß völlig die förmliche Anrede. Dafür hätte ich ihn umarmen können. Es klang so normal.

»Heute findet doch mir zu Ehren ein Ball statt, und ich finde mich nämlich überhaupt nicht hübsch und hab Angst, dass mich niemand zwischen all meinen gutaussehenden Verwandten bemerkt! Also, bin ich hübsch?«

»O, Lynn!« Gort verdrehte die Augen, unübersehbar überkam ihn Verlegenheit, aber schließlich gewann eine gewisse Kühnheit die Oberhand. Er betrachtete mich prüfend. Ich wusste nicht, ob mir das so gut gefiel.

»Doch, du bist ganz hübsch«, sagte er ausdruckslos, fast widerwillig.

Das war nicht ganz die Antwort, auf die ich gehofft hatte. Meine Laune sank. Nicht mal Gort fand mich schön. Spätestens jetzt hätte ich aus reinem Selbstschutz das Thema wechseln sollen, aber irgendein Teufel zwang mich, das Gespräch fortzusetzen.

»Und findest du, dass ich ein bisschen mollig bin?«

»Mollig?«, wiederholte Gort ratlos und wand sich vor Verlegenheit.

»Dick, zu dick«, half ich selbstmörderisch nach, »vor allem um die Hüften herum.«

Nun glitt Gorts Blick nachdenklich über meine Figur. Eigentlich eine Frechheit.

»Nö, ich finde alles richtig so.«

Ich verstand nicht, warum ich die Peinlichkeit, in die ich ihn und mich gestürzt hatte, nicht endlich beendete. Dabei meldeten sich gerade Kopfschmerzen bei mir und eine Mattigkeit, die ich nur zu gut kannte. Es war, als breitete sich Watte in meinem Hirn aus. Wenn ich mich nicht dagegen wehrte, würde mir bald alles egal sein.

»Meine Cousine Fiona findet mich zu dick«, brachte ich aber noch heraus.

Gort nickte weise. »Kann ich verstehen.«

»Was?« Ich schrie beinahe, nun war ich wieder hellwach. »Also bin ich zu dick!«

Gort trat einen Schritt zurück und rückte gleich wieder ein wenig näher an mich heran. Seine Augen begannen zu funkeln.

»Ah, ich weiß, wen du meinst. Lady Fiona, die Essig-Gräfin. Wir nennen sie so, weil sie immer so saure Bemerkungen uns gegenüber macht. Keiner von uns kann ihr irgendwas recht machen.« Sein Ton wurde unversehens heftig. »Wieso glaubst du, was diese dürre Ziege sagt? Von der lässt du dir einreden, dass du zu mollig bist? An dir«, er schluckte und sein Blick wanderte verlangend zu meinen Hüften, »ist alles genau richtig.« Er rang nach Worten, während seine Hände sich öffneten und schlossen, als hätte er nur zu gern meine Hüften gestreichelt und könnte sich nur noch mit Mühe zurückhalten. So weit hatte ich ihn also gebracht. Eigentlich sollte ich mich schämen.

»Du bist zum Anbeten schön, und du weißt es genau«, brach es plötzlich aus ihm heraus. »In deinen Haaren blitzen im Sonnenlicht rote Funken auf, und es glänzt wie Gold und gegen deine Augen sind Smaragde lumpige Kieselsteine.«

Wen meinte er bloß?

»O, Lynn!«, fuhr er ungebremst fort. »Du bist schön wie eine Feenkönigin, wenn du mich fragst. Aber du fragst mich nur, um mich zu quälen, gib es zu. Du bist die schönste, die wundervollste ...«

»Hör auf!«, stieß ich hervor. Jetzt tat er mir richtig leid. Irgendwann musste er aus seinem Traum aufwachen und dann war da bloß ich, und ich erkannte mich in seiner Beschreibung nicht wieder. Smaragdaugen! Außer mir kannte ich niemanden mit grünen Augen, grüne Augen waren abartig. Ich wünschte mir sehnlichst die silbergrauen Fionas und Duncans, die von echtem Adel zeugten. Nicht nur wegen dieser Augen kam ich mir in meiner Familie wie ein Kuckuckskind vor.

Gort zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, und blickte mich verletzt an. »Wusste ich’s doch. Du machst dich über mich lustig«, sagte er dumpf und schlug die Augen nieder. »Du kannst dir’s ja leisten, Hoheit

Ich seufzte.

»Wenn du nur wüsstest! Ach, Gort, ich fühl mich beschissen. Heute läuft alles schief. Von wegen Hoheit. Ich bin bloß ein Fußabtreter, auf dem jeder herumtrampeln darf.«

Einen Augenblick schwieg ich und gab mich dem unsäglich wehleidigen Gefühl hin, für die Leute, auf die es ankam, ein kleines dummes Nichts zu sein. Meara schnaubte, gedankenverloren tätschelte ich ihr das Maul. Gort wagte nicht, noch etwas zu sagen. Mir war klar, dass ich mich unverantwortlich hatte gehen lassen und ihn endlich aus dieser peinigenden Situation erlösen musste.

»Halt mir den Steigbügel – bitte, es wird Zeit, dass ich losreite und ein bisschen allein für mich bin.«

»Du willst wirklich nicht, dass ich mitkomme?« Gort straffte sich, dabei hatte er noch sichtlich mit Verwirrung zu kämpfen. »Warum? Warum Lynn? Nimmst du mir übel, was ich gesagt habe? Dann entschuldige, ich vergesse halt manchmal, wer du bist. Ich glaube, es wäre besser, wenn ich mitkäme. Jemand muss doch auf dich achten. Bitte!«

Fast hätte ich seinem Flehen nachgegeben. Behutsam nahm ich ihm mit einer Hand die Zügel ab, die andere legte ich ihm auf den Arm. Durch das schlichte Leinenhemd, das er trug, spürte ich seine kräftigen, glatten Muskeln.

»Es hat nichts mit dir zu tun oder mit dem, was du gesagt hast, sondern nur mit mir. Es ist wegen des Balls heute Abend, das sagte ich doch schon. Ich werde den ganzen Tag keine ruhige Minute haben, und ich fühle mich nicht besonders gut. Diese vielen Menschen, an die ich nicht gewöhnt bin, machen mir jetzt schon Kopfschmerzen. Dabei erwarten sie von mir, dass ich heiter bin und vor guter Laune nur so sprühe. Findest du, ich sprühe vor guter Laune?«

Staunend sah Gort mich an.

»Na ja, ich freu mich schon auf den Ball«, fuhr ich lahm fort. »Aber ich habe das Gefühl, dass sich heute in meinem Leben etwas ändern wird, seit Tagen spüre ich eine Unruhe, die mich verrückt macht. Ach, Gort, ich weiß eigentlich gar nicht, was mit mir los ist.«

Gort nickte weise. »Doch, das kenne ich. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Mir ging es genauso, aber das ist schon eine Weile her. Jetzt weiß ich, was ich will und ich weiß«, seine Augen verschatteten sich und die Stimme klang wehmütig, »dass ich es nie bekommen werde.« Sein Blick sagte eindeutig, was oder besser wen er meinte.

Ein entsagungsvolles Lächeln huschte über seine Miene. »Du wirst sicher mehr Glück haben als ich im Leben. Und ...«, er kramte in seiner Tasche und holte einen kleinen, in ein feines Leinentuch eingewickelten Gegenstand hervor, »... ich dachte, ich schenke dir das zum Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch übrigens.«

Ich wollte nach dem Geschenk greifen, um endlich von ihm wegzukommen, aber er hielt es außer Reichweite.

»Erst reiten wir aus. Wir beide

Meine Stute hatte begonnen, mir ins Haar zu schnobern und unruhig von einem Bein aufs andere zu wechseln. Außerdem wurde ich mir der neugierigen Blicke der anderen Stallburschen bewusst, die noch immer Pferde in den Hof führten, von den Befehlen eines Stallmeisters angetrieben, der unsichtbar blieb. Zum Glück, fand ich. Der Mann hätte der vertraulichen Unterhaltung mit Gort rasch ein Ende gesetzt.

Mein Blick wurde hart. »Nein, Gort, du bleibst hier, das ist ein Befehl. Ich reite allein aus.«

»Dann werde ich Ärger bekommen.« Gorts Hand krampfte sich um das Geschenk.

»Wenn jemand Ärger bekommt, bin ich das. Für das, was ich tue, stehe ich schon selbst ein«, entgegnete ich bestimmt. Um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meinte, trat ich einen Schritt zurück, setzte den Fuß in den Steigbügel und schwang mich ohne Hilfe in den Sattel. Mit einem leichten Schenkeldruck setzte ich das Pferd in Bewegung.

Kurz bevor ich im Trab den Torbogen erreichte, spähte ich über die Schulter in den Hof zurück. Gort stand noch an derselben Stelle und hielt die Hand mit dem Geschenk an die Brust gedrückt. Er dachte nicht daran, mir nachzukommen. Ich weiß nicht, warum ich gleichzeitig Befriedigung und Bedauern verspürte.

Ich war nicht sehr nett zu ihm gewesen. Denn er war ein Freund – eigentlich mein einziger Freund – und hatte es nicht verdient, von mir zu Geständnissen verleitet zu werden, die einer Liebeserklärung sehr nahe kamen. O, Gort, es tut mir leid, es war unverzeihlich, dachte ich reuevoll. Du musst wirklich glauben, ich weide mich an den Qualen eines hoffnungslos Verliebten. Aber so war es nicht, ich war nicht wie Fiona.

Kapitel 2

Eadha

Ich hielt den Kopf gesenkt, das war besser so. Nicht zum ersten Mal stand ich mitten in einer engen, düsteren Kammer und versuchte, möglichst gefasst zu bleiben und meine Gedanken in Zaum zu halten. Ich achtete auf das laute Atmen der beiden anderen, die mit mir in der Kammer waren, um zu erraten, wo sie waren und wann sich einer von ihnen mir näherte. Keinesfalls durfte ich mir mein Zittern anmerken lassen.

Die beiden ließen mich absichtlich auf die Eröffnung der Befragung warten, um mich schon im Vorhinein zu zermürben. Das kannte ich bestens.

»Es geht der Prinzessin gut?«, fragte schließlich einer.

»Sie hat heute Nacht nicht von Wölfen geträumt«, antwortete ich rasch.

»Das hat sie dir erzählt?«

»Ja, natürlich, sie erzählt mir alles.« Bleib bei der Wahrheit, ermahnte ich mich, das ist am sichersten.

Übelkeit stieg in mir auf. Ich schluckte krampfhaft.

»Gut, sehr gut.« Die Stimme des anderen war tiefer und rauer als die des ersten und fast etwas besänftigend. Aber ich wusste, dass er der Gefährlichere von den beiden war.

»Was soll gut sein? Dass sie nicht geträumt hat?«, widersprach der andere. »Gefällt mir nicht, jegliche Veränderung bei ihr gefällt mir nicht, vor allem solange wir nicht wissen, was dahinter steckt. Wir können nicht wachsam genug sein, denn wir sind die Verantwortlichen. Was sonst noch?«

In meinem Nacken spürte ich heißen Atem. Unwillkürlich erstarrte ich, jeden Muskel angespannt.

»Was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht«, stieß ich keuchend hervor.

»Ich frage, ob sonst etwas vorgefallen ist, was du uns zu berichten hast.« Der fremde Atem rasselte, es war ein unheimliches Geräusch.

Ich widerstand der Versuchung, einen Schritt nach vorn zu machen, raus aus der beängstigenden Nähe. Die Furcht krampfte mir den Magen zusammen, ich spürte bittere Galle die Kehle aufsteigen.

»Hast du Angst zu antworten? Du hast Angst! Leugne es nicht. Du hast etwas zu verbergen, sonst hättest du diese Angst nicht.« In der Stimme schwang etwas mit, das mich in Panik versetzte.

Nicht denken, nicht denken, nicht denken, befahl ich mir. Denk nicht an ...

Der fremde Atem brannte auf meiner Haut.

»Du willst nicht antworten.« Die Stimme ging in ein Knurren über.

»Doch!«, schrie ich entsetzt auf. »Ja, doch, es gibt etwas zu berichten. Ihr war wieder schwindelig, sie hat sogar das Bewusstsein verloren. Aber es war rasch vorbei – ich hab ihr eine Extraportion von dem Mittel gegeben.«

»Was hat den Schwindel ausgelöst? Weißt du es? Hat sie sich darüber geäußert?«, fragte der andere.

Schwarze, blank gewienerte Stiefel erschienen in meinem Blickfeld und verschwanden wieder. Der andere hatte begonnen, mich lautlos zu umkreisen. Das machte mich fast irre. Schwierig, unter diesen Umständen zu antworten.

»Ich hab sie nicht gefragt und sie hat nichts gesagt.«

Erst einen Tag zuvor hatte ich gehört, dass wieder jemand von den Dienstboten verschwunden war. Es hieß, er habe sich etwas zuschulden kommen lassen oder über zu viel Arbeit geklagt. Niemand wusste Genaueres, aber wir alle waren uns sicher, dass wir nie wieder etwas von ihm hören oder sehen würden.

»Wie? Du bist ihre Vertraute, aber sie erzählt dir nicht, was in ihr vorgeht? Junge Mädchen wollen sich mitteilen, sie haben Fantasien. Hat sie etwas gesehen oder sich an etwas erinnert, als ihr schwindelig wurde? Sag die Wahrheit! Sei nicht so verstockt, ich erwarte Aufrichtigkeit ...«

Meine Knie begannen nachzugeben. Immer stärker wurde mein Verlangen, aufzugeben, nicht weiterzukämpfen, mich fallen zu lassen. Mit größter Anstrengung riss ich mich noch einmal zusammen und blieb aufrecht stehen.

»Ich hatte keine Zeit, mit ihr zu reden. Ich hab sie schnell in die Wanne gesteckt, das war das Beste für sie. Sie ist zart, empfindlich, ich weiß manchmal gar nicht, wie ich mit ihr umgehen soll, dabei gebe ich mir solche Mühe, sie vor Schaden zu bewahren«, sprudelte ich hervor. Ich musste ihnen etwas anbieten, was sie beschäftigte und von mir ablenkte. »Sie ist immer so rasch müde und dann kaum noch zu irgendetwas zu bewegen. Dann ist sie wieder launisch oder weinerlich. Ein Mädchen in einem schwierigen Alter.«

Eigentlich ist sie inzwischen aus diesem Alter heraus, dachte ich bei mir und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

»Das hat sie bald hinter sich.« Das war der andere, der sich wieder einmischte. »Du hast sie im Griff«, fuhr er nachdenklich fort. »Du vergisst keinen Tag, sie unter Kontrolle zu halten.« Es war weder eine Frage noch eine Feststellung, sondern ein Befehl und zugleich eine unterschwellige Drohung. Wehe, dir entgleitet die Kontrolle! Bitte, Gott, flehte ich verzweifelt, lass mich das hier durchstehen und bitte behüte ...

»Was?«, schrie der Peiniger hinter mir. »Was wolltest du sagen?«

Nichts, nichts. Ich war zusammengezuckt und versuchte krampfhaft, jeden verräterischen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. »Ich habe nichts sagen wollen.« Ich riss mich zusammen. »Das heißt, doch: Sie freut sich auf den Ball heute Abend. Seit Tagen denkt sie an nichts anderes. Der bevorstehende Ball gibt ihr Auftrieb. Vielleicht hatte sie deshalb heute Nacht keinen Albtraum.«

Lachen erklang. Ein tiefes kehliges Lachen, bei dem es mir grauste. »Kann sein. Auch wir freuen uns auf den Ball. Es wird ein großartiges Fest.« Die Stimme wurde unversehens beinahe liebenswürdig. »Ja, sie soll ihre Freude an diesem Ball haben und nichts soll die Freude trüben.«

»Genug!«, sagte der andere nüchtern. »Ich sehe keinen Sinn mehr in dieser Unterhaltung. Es gibt nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten. Es geht ihr gut, sie ist folgsam und nichts wird dem geplanten Verlauf der Dinge im Weg stehen. Das Mädchen wird eine wunderbare«, er lachte trocken auf, »Schattenkönigin

Die beiden verließen den Raum, aber ich blieb stehen, ohne auch nur den Kopf zu heben, denn ich brauchte einen Moment, um die Starre, die meinen Körper bis in den Nacken versteifte, zu überwinden und mich wieder normal bewegen zu können.

Sie würden aus Lynn eine Schattenkönigin machen, und ich tat nichts anderes, als ihnen dabei in die Hände zu spielen. Dafür verachtete ich mich. Aber was hätte ich tun sollen, ohne selbst in Gefahr zu geraten?

Wie blind taumelte ich zur Wand und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Es tat gut, die solide Wand zu spüren.

Sie haben heute Abend etwas Besonderes mit Lynn vor. Nur was?, grübelte ich und seufzte auf. Lynn war nicht meine einzige Sorge, da gab es eine viel größere und quälendere. Bitte, Gott, lass sie nicht entdecken, dass ich einen Sohn habe. Beschütze meinen Gort.

Die Tür flog wieder auf und schlug krachend gegen die Wand. Mit einem Schreckenslaut sank ich auf die Knie. Mein Herzschlag setzte einen Moment aus und dann überaus schmerzhaft wieder ein. Es war, als würde mir ein Dolch in die Brust gestoßen. Ich ertrage diese Schrecken nicht länger, dachte ich.

»Denk daran«, sagte die tiefe Stimme des Älteren, der sich nur wenig an der Unterhaltung beteiligt hatte, »dass hier niemandem etwas Böses geschieht, solange er seine Pflicht tut.«

Schluchzend nickte ich.

Kapitel 3

Lynn

Mit jeder Minute, die ich allein unterwegs war, genoss ich die ungewohnte Freiheit mehr. Es machte mich geradezu übermütig. Nach und nach fielen alle Sorgen von mir ab, die Missstimmung verflog. Heute stand mir die ganze Welt offen, auch wenn sie tatsächlich nur aus hügeligem Bauernland mit ein paar Weilern inmitten von Wiesen, Äckern und Wald bestand, das ich in- und auswendig kannte. Und doch erschien es mir an diesem Morgen anders. Frischer, fremder, reizvoller. Das alte Schloss und der Garten lagen eingebettet in eine hügelige Landschaft, die sich bis zu einem Gebirgszug in weiter Ferne erstreckte, den ich nur vom Hörensagen und von einer Landkarte her kannte. Es war eine Schande, aber ich war noch nie in die Nähe der Highlands gelangt. Alles, was ich von den Bergen wusste, war, dass sich dort irgendwo wertvolle Minen befanden, auf die sich der Reichtum des Landes, meines Landes gründete. Vor allem Silber wurde abgebaut, daneben Eisenerz, Kupfer und Edelsteine. Seit einigen Jahren schon lagen die Felder mehr und mehr brach, denn in den Minen wurden so viele Arbeiter benötigt, dass in den Lowlands kaum noch Kräfte für die Feldbestellung übrig blieben. Und an einigen Orten waren Fabriken entstanden, in denen riesige Dampfturbinen liefen, für die auch Leute gebraucht wurden, sehr viele Leute. In den Bauernhäusern wohnten fast nur noch alte Menschen. Einige davon arbeiteten auf ihren fast abgeernteten Äckern.

In mäßigem Tempo ritt ich an einem schmalen Feld entlang, auf dem Korn und Wildblumen in einer bunten Mischung durcheinander wuchsen. Es sah hübsch aus. Blau, rot und gelb, das Gelb stammte hauptsächlich von dem Kriechgewächs, das auch am Schloss wucherte. Also auch hier breitete es sich aus. Dagegen, dachte ich zerstreut, sollte man wirklich mal etwas unternehmen. Auf einer Weide neben dem Feld tobten sich übermütig ein paar junge Pferde aus, wahrscheinlich stammten sie aus den königlichen Ställen. Eine Weile sah ich ihnen voller Freude zu. Ein großer Kastenwagen schwankte auf dem Weg zwischen Feld und Weide vorbei und bog auf einen der Hauptwege zum Schloss ein und wenig später zockelte ein Eseltreiber mit seinem schwer beladenen Tier hinterher und grüßte mich, indem er mit einer ausladenden Geste seinen Hut schwenkte. Lässig grüßte ich zurück.

Es war Spätsommer, eine milde Wärme drang durch meine samtene Reitjacke. Ich hatte die allergrößte Lust, mich einfach nur treiben zu lassen und das wunderbare Gefühl zu genießen, keinen Aufpasser im Nacken zu haben, nicht mal Gort, einfach niemanden, der argwöhnisch alles, was ich tat, beobachtete. Ich hatte nicht geahnt, wieviel mir dieses Alleinsein bedeutete. Sorglos überließ ich es Meara, den Weg fortzusetzen. Nach einer Weile kamen wir an einen Teich, den Erlen, Weiden und sehr viel Schilf säumten.

Hier hatte ich in meinem ersten Jahr in der Klosterschule in den Sommerferien Elfen gesehen. An einem nebligen Morgen hatten sie sich tanzend über dem Wasser gedreht, ein zauberhafter, schwindelerregender Anblick. Iogh war ein Stück hinter mir geritten, und als er mich eingeholt hatte, waren die Elfen verschwunden. Der Nebel allerdings auch.

»Elfen?«, hatte Eadha später spöttisch gefragt, nachdem ich mein Erlebnis dummerweise erwähnt hatte. Unnötig, dass sie auch noch hinzufügte: »Die gibt’s nicht.« Da war ich bereits zu alt gewesen, um an Märchen zu glauben. Das wusste ich natürlich. Es musste an den Büchern liegen, die ich so oft gelesen hatte, dass mir meine Fantasie Elfen vorgegaukelt hatte. Eine sehr naheliegende Erklärung.

Mit einem Schenkeldruck lenkte ich Meara über einen breiten Grasstreifen an zwei Bäumen vorbei zum Teich und glitt einige Meter vom Ufer entfernt aus dem Sattel. Hier gab es eine große Lücke im Schilfgürtel, sodassich ans Wasser gelangte. Ich ließ die Stute trinken, führte sie ein Stück zurück und band sie so an einem tiefhängenden Ast an, dass sie noch grasen konnte. Danach lief ich zurück zum Ufer, ließ mich ins Gras nieder, zog die Beine an und umschlang sie mit meinen Armen.

Über der Wasseroberfläche schwebten zarte Dunstschleier, es schien eine Eigenart dieses Teichs zu sein. Mit viel Fantasie konnte man sich schon einbilden, tanzende Gestalten zu sehen. Die Elfen waren nicht das Einzige, was ich mir im Laufe der Zeit eingebildet hatte. Ich meinte, mal ein grau getigertes Kätzchen gehabt zu haben, und ich erinnerte mich an Spiele mit gleichaltrigen Freundinnen, da war ich noch sehr klein, nicht älter als vier oder fünf. Immer wieder stiegen Fetzen der Erinnerung aus einer frühen und scheinbar sehr sonnigen Kindheit empor, die sich als Trug-, Traum- oder Wunschbilder entpuppten, sobald ich Eadha danach gefragt hatte. Sie lösten unausweichlich ein tiefes Gefühl von Verlust aus. Ein Ziehen in der Magengrube warnte mich. Wenn ich mich zu sehr in diese eingebildeten Erinnerungen vertiefte, würde meine Stimmung unweigerlich umschlagen. Manchmal kam es mir so vor, als sei ich eigentlich jemand anders oder zweigeteilt in die Lynn, die ich und alle kannten, und eine andere, geheime. Aber konnte man sich selbst so fremd sein?

Und warum träumte ich Nacht für Nacht von Wölfen? Ich wusste doch, dass es seit langem im ganzen Land keinen einzigen Wolf mehr gab, der letzte war schon vor Jahren erlegt worden. Manchmal fragte ich mich, woher ich überhaupt wusste, dass die Kreaturen in meinen Albträumen Wölfe waren. Am besten dachte ich nicht länger darüber nach, denn gerade setzten die Kopfschmerzen wieder ein.

Ich wollte an etwas anderes denken und ich wusste auch gleich, an was.

An Duncan! Ich brauchte mir nur sein Bild zu vergegenwärtigen, sein schönes, schmales, aristokratisches Gesicht und seine Stimme, deren samtener Klang mir mit jedem Ton eine Gänsehaut verursachte. Schade, dass er ein Regierungsamt innehatte, das machte ihn mir in fast allem haushoch überlegen, vom Rang abgesehen. Er galt als rechte Hand des Lordkanzlers und war ein wichtiges Mitglied des Kronrats. Ein Mann, auf dem bereits viel Verantwortung lastete, das kehrte er aber mir gegenüber nie heraus. Manchmal wirkte er angespannt und müde, dann war er weniger freundlich. Aber jedes Mal, wenn er hier auftauchte, nahm er sich Zeit für mich. Am liebsten ritt er mit mir aus, und manchmal schaffte er es, mir das Gefühl zu geben, geliebt zu werden – wenn auch nicht auf die Art, die ich erhoffte.

Ich ließ mich ins Gras sinken, gab mich ganz meinen wunderbaren, verrückten Träumen von Duncan hin und dämmerte schließlich weg.

Etwas ließ mich aufschrecken. Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich mich befand. Hastig setzte ich mich auf, erkannte aber sofort, dass es für Befürchtungen keinen Anlass gab. Vor mir schimmerte sanft und unbewegt der Elfenteich. Was war ich nur für ein ängstliches Huhn! Da war ich mal allein unterwegs, und schon erschreckte mich jeder Vogelschrei und jedes Rascheln im Schilf.

Hinter mir schnaubte Meara und scharrte ungeduldig mit dem Huf. Da ging mir auf, dass ich eingedöst war, und ich fragte mich, für wie lange.

Wie spät war es? Ich spähte zur Sonne, die in Dunstschleiern fast verborgen war. Dem Sonnenstand nach musste es gegen Mittag sein. O Gott, ich hatte stundenlang fest geschlafen. Wahrscheinlich dachte Gort inzwischen, ich hätte die Gelegenheit genutzt und wäre mal eben nach Dún Èideann geritten oder hätte mich im Wald verirrt.

Meara schnaubte wieder aufgeregt, es klang nicht nach Langeweile, und daher schaute ich mich nach ihr um. Erleichtert stellte ich fest, dass dort nichts und niemand war, nicht einmal ein Fuchs oder Dachs.

Ich schaute zurück zum Teich und ließ meinen Blick prüfend über das Schilf am Ufer gleiten.

Ringsherum herrschte immer noch verträumte Stille und Einsamkeit. Nicht mal Elfen zeigten sich über dem Wasser. Ich grinste. Wahrscheinlich hatte eine Bremse Meara gestochen und sie in Unruhe versetzt.

Bremse oder nicht, Meara zerrte wiehernd am Zügel.

Ich stand auf. Es wurde ja auch höchste Zeit zurückzureiten, aber ich nahm mir fest vor, diesen Ausflug ohne Begleitung zu wiederholen. Es lohnte sich, schon wegen dieses Gefühls von Freiheit.

Nicht weit von mir entfernt geriet das Schilf in Bewegung. Es sah nicht so aus, als ob der Wind darüber hinwegwehte, sondern, als ob ein Tier hindurchschlich. Eine Weile verfolgte ich diese Bewegung mit einiger Besorgnis, aber dann erinnerte ich mich, dass Schwäne hier brüteten, sie mussten ihre Jungen fast großgezogen haben. Nur, warum hatte ich nicht einen einzigen gesehen, als ich hergekommen war?

Um die Vögel aufzuscheuchen, klatschte ich laut in die Hände. Nichts geschah, jedenfalls nicht das, was ich erwartet hatte.

Die Bewegung hielt nämlich unvermindert an. Eine Kreatur, die mindestens die Größe eines ausgewachsenen Schwans hatte, glitt außer Sicht durch das Schilf und eindeutig auf mich zu. Die Schwäne waren alles andere als zahm und der hier – falls es sich um einen handelte – verhielt sich ungewöhnlich.

Ohne mir die aufkommende Furcht anmerken zu lassen, verließ ich das Ufer. Meara hatte die Ohren nervös nach hinten gedreht.

Ich begann schneller zu gehen und konnte nicht verhindern, dass sich mir die Haare im Nacken sträubten. Dennoch widerstand ich heldenhaft dem Impuls, mich umzuschauen. Schließlich hatte ich nur noch ein paar Meter zurückzulegen, vorbei an einem alten Baum, von dessen Ästen Moos hing und der von filzigem dunklem Gebüsch umgeben war, einer Schattenzone, in der nicht viel zu erkennen war. Ich wollte diese Stelle schnell hinter mich bringen.

Hinter dem Baum raschelte es, da war etwas ganz nah an mich herangekommen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Da lauerte etwas Großes und vielleicht Gefährliches, und hatte es eindeutig auf mich abgesehen.

Ich stolperte, streckte eine Hand haltsuchend nach dem Baum aus, fing mich wieder und starrte in das finstere Gebüsch, in dem zwei Irrlichter aufleuchteten – nicht länger als einen Wimpernschlag.

Bevor ich mir darüber klar werden konnte, was genau ich gesehen hatte, trat hinter dem Baum in geduckter Haltung ein Mann hervor.

Als Erstes fiel mir die abgerissene Kleidung auf, der Kerl sah wie ein Wilderer aus. Ich wollte nur noch weg, aber meine Füße blieben wie festgewurzelt im Gras stehen. Rabenschwarzes, widerspenstiges Haar hing dem Mann ungekämmt ins Gesicht, so viel bemerkte ich noch, bevor es mir vor Angst vor den Augen flimmerte. Ich war allein mit einem Fremden, mit einem ganz und gar nicht vertrauenerweckenden Subjekt, und verstand viel zu spät, wie gnadenlos dumm es gewesen war, auf Gorts Begleitung zu verzichten. Jetzt bekam ich die Quittung für meinen Leichtsinn. Ich kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, vor Schreck wie gelähmt.

Jetzt richtete er sich auf, hob den Blick. Ich sah ihm in die Augen und dieser Moment veränderte alles.

Seine Augen waren Wolfsaugen. So klar, so unumstößlich war diese Gewissheit, dass sich mein Inneres in einem tödlichen Schreck zusammenzog. Das war der Albtraum. Mein lebendig gewordener Albtraum.

Tausendmal und mehr hatte ich in diese Augen gesehen, der Blick war mir ins Gedächtnis eingebrannt, in meine Seele. Panik brandete in einer ungeheuren Woge in mir auf, ich taumelte rückwärts, stolperte und fiel hin.

Der Mann kam auf mich zu und streckte die Hand nach mir aus. Voller Entsetzen sah ich das dunkle Haar, das auf dem Handrücken spross. Eigentlich war das keine Hand, das war ... Er wollte nach mir greifen. Und auf einmal wusste ich, was nun passieren würde.

»Nein, neiin!«

Die Hand stockte. Nur kurz, nur ganz kurz.

Ich drehte mich weg, die Hand griff ins Leere.

Einen Moment setzte mein Herzschlag aus, einen Moment dachte ich ans Aufgeben, kroch aber auf allen vieren weiter, während ich hinter mir einen Laut hörte. Ein Knurren.

Ein Wolfsknurren.

Ich blendete jeden bewussten Gedanken aus, während sich meine Glieder in weiches Wachs verwandelten. Irgendwie gelang es mir dennoch, auf die Füße zu kommen. Ich rannte auf die andere Seite des Pfades. Mit einem Ruck riss ich den Zügel vom Ast, warf mich über den Pferderücken, die Stute galoppierte an. Ich schwang ein Bein über den Rist und glitt in den Sattel. Tief über den Pferdehals gebeugt, preschte ich davon und achtete nicht auf das Hecheln, das nach ein paar Augenblicken hinter mir zurückblieb.

Erst in Sichtweite der Ställe ließ ich Meara in Schritt fallen. Der Stute stand der Schaum vor dem Maul, das Fell war schweißnass. Jeder konnte sehen, dass sie zu scharf geritten worden war. Deshalb drehte ich zur Abkühlung langsam eine Runde in einem kleinen Kreis und zwang mich, ruhiger zu atmen. Das war gar nicht so leicht. Der Blick aus den Wolfsaugen peinigte mich noch immer. Am liebsten wäre ich in den Hof geprescht, hätte Meara dem nächsten Knecht übergeben und wäre ins Schloss geflohen. Nur dort konnte ich mich sicher fühlen.

Gort erschien im Torbogen zum Hof und winkte heftig. Jetzt konnte ich nicht mehr ausweichen. Ich ließ das Pferd antraben, Gort trat zurück, damit ich das Tor passieren konnte.

Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit auf meine Rückkehr gelauert.

»Lynn, du warst stundenlang weg. Wo bist du bloß gewesen? Ich wollte mir gerade ein Pferd schnappen und dich suchen. Wenn sich Iogh nicht verdrückt und alle Arbeit mir überlassen hätte, wäre ich dir längst nachgeritten«, zischte er aufgebracht, sobald er mich erreicht hatte. »Das, das war leichtsinnig, allein auszureiten.«

Er hatte ja so recht!

»Ich bin wieder da. Also reg dich ab«, sagte ich einigermaßen ruhig.

»Lynn, es ist Mittag!« Berechtigter Vorwurf klang aus seiner Stimme.

Wie aufs Stichwort begann das Mittagsläuten. Es hatte kaum eingesetzt, da liefen die ersten Stallburschen quer über den Hof zur Gutsküche in einem der Nebengebäude. Einige warfen neugierige Blicke zu Gort und mir herüber. In einem Pulk junger Männer erspähte ich Iogh, der stehenblieb. Hoffentlich kam er nicht näher.

»Da ist Iogh ja«, sagte ich gedämpft.

»Aber sicher, zum Essen ist er immer pünktlich.« Gort griff nach dem Halfter und hielt die Stute still, damit ich leichter absteigen konnte.

»Danke«, sagte ich so kühl wie möglich. Ich wollte, dass er sich keine Sorgen mehr um mich machte und nicht auf die Idee kam, ich wäre in Gefahr geraten. »Du musst Meara trocken reiben, ich fürchte, ich hab sie im Galopp ein bisschen zu sehr rangenommen. Ansonsten war es ein schöner Ausflug. Sehr entspannend.«

»Ach ja?«, sagte Gort gedehnt. Offensichtlich war er immer noch wütend. Er musterte mich von oben bis unten und da sah ich selbst rasch an mir hinunter.

Die Grasflecken auf der Hose und der Dreck an den Stiefeln waren schwer zu übersehen. Außerdem hingen mir die Haare wirr ins Gesicht.

Iogh war auf Rufweite herangekommen. Ich bemerkte ihn erst, als Gort ihn mit einer ausholenden Armbewegung fortzuscheuchen versuchte. Unschlüssig blieb er stehen.

»Sie sind nicht vom Pferd gefallen, Hoheit?«, fragte Gort mit leicht erhobener Stimme. Unmissverständlich stand ihm die Sorge um mich ins Gesicht geschrieben.

Ich drehte mich zu Iogh um. »Du kannst essen gehen, wie du siehst, bin ich heil und gesund zurück.«

Iogh starrte zu mir herüber, zuckte die Schultern, deutete verspätet eine Verneigung an und trollte sich.

Ich wandte mich wieder an Gort. »Ich bin nicht vom Pferd gefallen«, zischte ich. »Aber ich bin am Elfenteich eingeschlafen.« Gort wusste, welchen Teich ich meinte. »Es war schön ruhig dort.«

»Und so schön sumpfig.« Gort erlaubte sich ein schwaches Grinsen.

Auf einmal sah ich die Begegnung mit dem Fremden am Teich in einem anderen Licht. Dem Wolfsmann. Wie albern! Wahrscheinlich war der Kerl nur ein Herumtreiber. Was nicht hieß, dass er mir nicht hätte gefährlich werden können. Nur anders, als ich befürchtet hatte.

»Richtig.« Ich grinste ebenfalls. »Gort, es tut mir wirklich leid. Ich werde nicht mehr allein ausreiten, das war so kindisch von mir.«

»Stimmt genau. Schön, dass du es einsiehst«, sagte Gort unverblümt. Aber dann legte er mir rasch die Hand auf die Schulter, linste kurz über die Kruppe der Stute und wandte sich wieder mir zu. »Dir ist wirklich nichts passiert? Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ...«

»Still«, stoppte ich ihn. Und schau mich nicht so an, fügte ich in Gedanken hinzu. Zuneigung wallte in mir auf, aber die durfte ich mir nicht anmerken lassen. Sie würde Gort in seiner Verliebtheit nur bestärken. »Noch einmal: Mir ist nichts passiert, auch wenn ich Grasflecken auf der Hose und Dreck an den Stiefeln hab. Ich glaube nicht, dass ich mich dafür rechtfertigen muss. Kümmere dich um Meara.«

Ich klopfte der Stute auf den Hals und wollte gehen.

Gort nahm die Hand von meiner Schulter und trat zurück. »Klar, was denn sonst!«

Unauffällig bewegte ich mich auf das Tor zu.

»Wie sieht dein Ballkleid aus?«, rief er mir hinterher. Zum Glück hörte ihn niemand außer mir, der Hof lag verlassen da, bis auf uns beide und Meara.

Er wollte mich nicht gehen lassen, das war mir nur allzu klar. »Hübsch.« Das Ballkleid war mir nicht mehr wichtig.

»Ich würde dich gern darin sehen.«

Ich lächelte ihn an. »Gort, das führt doch zu nichts. Erspar dir das. Es tut dir nicht gut und was mich betrifft ...«

Selbst wenn ich in meinem Ballkleid wie eine riesige Torte aussah, würde ich in Gorts Augen wunderschön sein. Ich verstand, dass er wenigstens dieses Bild von mir haben wollte, um es als kostbaren Schatz in seiner Erinnerung zu bewahren. Was hatte er vor meinem Ausritt gesagt? Er wisse, dass ich unerreichbar für ihn sei.

Gort schluckte und fuhr mit rauer Stimme fort. »Du brauchst keine Angst haben, dass ich mich ungebührlich dir gegenüber benehme. Das würde ich dir nie antun. Ich weiß, Lord Duncan bedeutet dir alles. Du brauchst es nicht zu leugnen.«

War ich so leicht zu durchschauen?

»So ein … Blödsinn!«, stotterte ich überrascht.

»Ach ja? Du musst bloß mal sehen, wie deine Augen aufleuchten und wie du zu strahlen beginnst, sobald er in deine Nähe kommt.«

»Hör doch auf.«

In seinem Gesicht zuckte es. »Ich hab verstanden, dass ich nicht deinesgleichen bin, und hab mich damit abgefunden. Aber dich heute als wahre Prinzessin zu sehen, würde mir ’ne Menge bedeuten.«

Vielleicht würde Gort der Einzige in meinem Leben bleiben, der in mir etwas Besonderes sah und mir unbeabsichtigt Selbstvertrauen einflößte. Nüchtern betrachtet, schuldete ich ihm mehr, als mich im Ballkleid wie ein Pfau vor ihm zu spreizen.

»Wenn ich mich davonstehlen kann, komme ich vom Ball herüber. Aber es kann spät werden.«

»Wenn’s sein muss, warte ich auch bis Mitternacht, das macht mir nichts aus. Und dann gebe ich dir mein Geschenk.« Er vergrub eine Hand in der Hosentasche.

Ich lächelte ihn liebevoll an. »Abgemacht.«

Kapitel 4

Lynn

Ich hatte auf einmal keine Eile mehr, ins Schloss zu gelangen. Je näher ich dem Haus kam, desto langsamer ging ich und bog schließlich in einen Pfad ein, der zu einem Nebeneingang führte. Aber dort drängten sich Lieferanten, die leicht verderbliche Frischware für das abendliche Festmahl brachten. Hastig kehrte ich um, bevor mich jemand entdeckte.

Diesmal lief ich in einem weiten Bogen durch den Garten und wischte immer wieder meine Stiefel ab, um den inzwischen angetrockneten Schmutz loszuwerden.

Es schien mir einigermaßen unauffällig, von der Gartenseite das Schloss zu betreten. Vor den breiten Flügeltüren lag eine gepflasterte Terrasse und von dort führte ein Kiesstreifen bis zu einem Brunnen. Die runde Brunnenschale war aus weißem Marmor gefertigt, auf dem sich ein grauer Belag aus Flechten gebildet hatte. Auch die Figur, die sich in der Mitte auf einem geschwungenen Sockel erhob, war grau verwittert. Eine anmutige Frauen- oder Mädchengestalt in einem hauchzarten Gewand, das sich an ihren Körper schmiegte. Ein Blütenkranz saß auf dem langen Lockenhaar. So stellte ich mir Feen und Elfen vor. Jedes Mal, wenn ich den Brunnen sah, überkam mich aus einer sehr fernen Erinnerung ein Bild sprudelnder Fontänen, die aus dem Becken aufstiegen und sich in lauter Silbertropfen auflösten, die die Figur umspielten. Doch der Brunnen hatte noch nie funktioniert. Die Handwerker hatten die Leitungen nicht richtig verlegt und anscheinend gab es niemanden, der den Fehler beheben konnte. Der sprudelnde Brunnen war also ebenso ein Produkt meiner überquellenden Fantasie wie die Elfen über dem Elfenteich. Eigentlich hätte der Brunnen längst abgerissen werden sollen. Ich wäre froh darüber, wenn das traurige Ding verschwände und mit ihm meine verschwommenen Phantasiegebilde.

Ein letzter Rest von Morgentau hatte sich im Schatten des Brunnens auf dem Rasen gehalten. Und mitten durch den Rasen führte eine immer noch gut erkennbare Laufspur zum Haus. Ich war so in den Anblick des Brunnens vertieft gewesen, dass ich die verdächtige Spur nicht sofort bemerkt hatte. Kein Grund zur Aufregung. Ich zuckte die Schultern. Es gab auch hierfür eine schlüssige Erklärung. Da war jemand früher als ich quer über den Rasen gegangen. Wahrscheinlich ein Dienstbote, der es eilig gehabt und den Garten als Abkürzung genommen hatte. Die Spur lief über eine schüttere Stelle im Gras, in deren Zentrum nur noch blanke Erde zu sehen war. Ich warf im Vorübergehen einen Blick darauf, wurde stutzig, ging näher heran und machte den Fehler, mich auch noch hinunterzubeugen. Was ich sah, war ein Trittsiegel. Man hätte es für den Abdruck einer Hundepfote halten können. Wenn nicht die Größe gewesen wäre. Bestimmt war es ein weiterer Fehler, dass ich eine Hand in die Spur legte. Die Kälte des Bodens stieg unvermittelt in meine Hand auf und ließ sie zu Eis erstarren. Ich spürte die Kälte, sie biss regelrecht in meine Hand, dabei hatte ich den Boden kaum berührt, um den Abdruck nicht zu verwischen. Die Größenverhältnisse stimmten einfach nicht. Ich richtete mich wieder auf, konnte aber immer noch nicht den Blick von dem Pfotenabdruck abwenden, der mir einen Ballen, vier Zehen, und die Vertiefungen von Krallen zeigte, die sich außerordentlich tief in den Grund gebohrt hatten. Zu scharfe Krallen, zu lange Krallen, um von einem Tier zu stammen, das ich kannte. Mein Mund wurde trocken. Langsam ging ich weiter, den Blick starr nach unten gerichtet.

Die Spur endete unter einem meiner Schlafzimmerfenster. Es war genau die Spur, die ich nach dem Aufstehen von oben gesehen hatte.

Ich begann zu zittern, Schwindel überkam mich. Vielleicht wäre ich kopfüber ins Beet gefallen, wenn mich nicht gerade noch rechtzeitig ein Geräusch von oben hätte zusammenfahren lassen. Benommen schaute ich zum Fenster hinauf. Eine Magd warf meine Bettdecke zum Lüften aufs Fensterbrett. Dabei entdeckte sie mich. Erst glotzte sie nur, dann schlug sie die Hand vor den Mund und drehte den Kopf zur Seite.

»Sie ist hier«, rief sie mit überschlagender Stimme.

Zwecklos, jetzt wegzurennen. Tatsächlich erschien Eadha fast augenblicklich hochrot im Gesicht am Fenster und schob energisch die Magd beiseite.

»Ich warte seit Stunden auf dich«, keifte sie aufgebracht. »Was tust du da unten?«

Mich ärgern, hätte ich antworten können. Ich stellte mir vor, wie ich in meinem Zimmer eingesperrt saß, während im Ballsaal Fiona ungebremst und ungehindert Duncan bezirzte. Und das nur, weil ich einmal getan hatte, was ich wollte. O, Duncan, dachte ich wehmütig, das ist nicht unser Tag. Darüber vergaß ich für einen Moment den Abdruck der riesigen Wolfspfote und den Wolfsmann am Teich. Einen Moment später dachte ich allerdings doch wieder daran. Ich rechnete nach: Dieser Tag hatte mir schon vor dem Mittagessen so viele Schrecken beschert, inklusive einer Begegnung mit Fiona, der Hexe, dass ein weiterer meinen schwachen Verstand wohl endgültig erledigen würde. Ich spürte ja schon, wie er sich auflöste.

»Ich hab nur was gesucht. Ich dachte, es ist mir runtergefallen.« Demonstrativ stocherte ich mit der Stiefelspitze in dem gelbblühenden Kraut herum. Gleichzeitig kam mir die Idee, dass mein Einfall gar nicht so dumm war. Ich ging in die Hocke und teilte mit den Händen das Kraut. Die Blätter fühlten sich überraschend stachlig an, wie mit tausend winzigen Nadeln besetzt, und der Geruch der Pflanzen erinnerte mich an etwas. So nah war ich dem Zeug noch nie gewesen. Mit einem flauen Gefühl im Magen machte ich weiter. Auf der kleinen Stelle, an der ich inzwischen die Erde freigelegt hatte, wartete wieder eine Überraschung auf mich: Krallenabdrücke am Ende eines menschlichen Fußabdrucks. Ich hätte es nie geglaubt, wenn ich es nicht gesehen hätte: Ein Abdruck, der zugleich von einem Fuß und einer Pfote stammte. Irgendetwas, dachte ich, stimmt jetzt überhaupt nicht mehr. Mit mir oder mit der Wirklichkeit im Allgemeinen. Ich plumpste auf den Hintern und starrte auf die Erde. Da war doch tatsächlich so ein Trumm mit riesigen Pfotenfüßen bis unter mein Fenster gelangt. Und dann? Benommen starrte ich hoch und musterte die breiten Fugen, die selbst mir als Kletterhilfe vollkommen gereicht hätten. Vielleicht sollte ich mir das für spätere Gelegenheiten merken.

Eadha rief etwas von oben, ich ließ mich davon nicht stören.

Und mit einem Mal fiel mir eine ganz einleuchtende Lösung ein, ich war beeindruckt von meinem Geistesblitz. Hier liefen zwei Spuren übereinander, so einfach war das. Wahrscheinlich war einer der Hunde aus dem Zwinger entwischt und genau hier unter meinem Fenster eingefangen worden. Die Biester waren Schweißhunde, das hieß, für die Jagd abgerichtet. Sie hatten gewaltige Kiefer und Zähne, mit denen sie im Handumdrehen selbst etwas vom Umfang meiner Oberschenkel durchbeißen konnten.

Bloß dass die Hundeführer nicht barfuß herumliefen, gewöhnlich jedenfalls nicht.

»Lynn!«

Diesmal hob ich den Kopf. »Was ist? Ich hab doch gesagt, ich such was.«

»Lass andere suchen, du machst dich bloß unnötig schmutzig. Das heißt: Wie siehst du denn aus? Komm sofort herauf.«

Eigentlich hatte ich gehofft, unbemerkt von Eadha in mein Zimmer gelangen zu können. Denn sie hätte längst mit den anderen Hausbediensteten beim Essen sein müssen.

Ungelenk stand ich auf, wischte mir die Hände an der Hose ab, und dann wischte ich mit dem Stiefel so über die Spur, dass sie nicht mehr zu erkennen war. Weil ich wusste, dass Eadha mich noch immer von oben beobachtete, lief ich brav zur Terrasse. Mal hören, was meine Wärterin sich als Strafe für mich ausgedacht hatte. Mittlerweile war mir klar geworden, dass selbst sie nicht die Macht hatte, mich vom Ball auszusperren, sie konnte mir nur die Zeit bis dahin so unangenehm wie möglich machen. Aber da war ich abgehärtet.

Die Terrassentüren führten in den Saal, in dem am Abend der Ball stattfinden sollte. Ein paar Mägde bohnerten das bereits seidig schimmernde Parkett noch blanker, Diener rückten hektisch Stühle an die Wand oder kontrollierten die riesigen Kronleuchter, die längst nicht mehr mit Wachskerzen, sondern mit Gaslichtern bestückt waren und an Ketten von der Decke herabgelassen worden waren. Alle ließen eine gewisse Anspannung erkennen, die darauf hindeutete, dass am Abend das Ereignis des Jahres stattfinden sollte. Einige würden sich wohl oben auf die Galerie stehlen, um zuzuschauen, wie das Ergebnis ihrer ganzen Arbeit zunichte gemacht wurde.

Sobald ich den Saal betreten hatte, stockten die Gespräche. Alle hielten in ihrer Arbeit inne, knicksten oder verbeugten sich und verharrten dann unbeweglich, bis ich die Tür, die in die Eingangshalle führte, erreicht hatte und hinausschlüpfen konnte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, die Treppe zur Galerie zu benutzen, aber dort erblickte ich zwei breite Hinterteile nebeneinander, die zu den zwei Mägden gehörten, die die Stufen wischten. Es wäre schwierig gewesen, mich durchzuzwängen, außerdem wollte ich den Mädchen nicht zumuten, die Treppe noch einmal zu wischen.

In der Halle unterhielten sich zwei Männer mit gedämpften Stimmen: Cormac und – Duncan.

Im ersten Impuls wollte ich auf ihn zueilen, dann begann ich, einen Bogen um ihn zu schlagen, weil mir rechtzeitig eingefallen war, wie ich aussah. Mit fleckiger Hose, verdreckten Stiefeln, nach Pferd stinkend und mit wirren Haaren Duncan in die Arme sinken?

Was mich wirklich an ihm nervte, war die Tatsache, dass er selbst im größten Dreck immer makellos sauber blieb. Der kritische Punkt aber war, dass er das auch von anderen erwartete. Von mir vor allem. Im Augenblick trug er elegante Reitkleidung, aber es war mir nicht klar, ob er im Begriff war, auszureiten, oder ob er den Ausritt schon hinter sich hatte. Nun steigerte sich mein angeschlagener Gemütszustand zur nackten Qual. Wir hätten zusammen ausreiten können, wenn ich auf ihn gewartet hätte und im Haus geblieben wäre – wie Fiona.

Einen Augenblick hatte ich die trügerische Hoffnung, mich unbemerkt an den Männern vorbei zur Treppe stehlen zu können.

Als ob Duncan etwas entging, was sich in einer Meile Umkreis tat!

»Lynn?«

Es gab kein Entrinnen.

Mit einem tiefen Atemzug drehte ich mich um, dabei hatte ich die Treppe fast erreicht.

Schon spürte ich, wie mein Verstand wie ein mürber Keks zerbröselte. Was all die Schrecken, die hinter mir lagen, nicht vermocht hatten, schaffte sein Anblick spielend.

Wenn es mir nur endlich einmal gelang, ihm so zu begegnen, dass ich Eindruck auf ihn machte: kühl, beherrscht, eindeutig erwachsen. Sicher sah ich in meinen verdreckten Sachen kindlicher aus als gewöhnlich. Ein kleiner dusseliger Schmutzfink.

»Einen Augenblick.« Duncan kam auf mich zu und ich bewunderte mit angehaltenem Atem die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen, die so sehr von meiner Trampeligkeit abstach. Er strich sich die dichten lackschwarzen Haare aus der Stirn und warf lässig den Kopf zurück. Wie konnte nur jede Geste von ihm ein so leidenschaftliches Empfinden in mir auslösen und mich dabei so dämlich aussehen lassen? Es war ungerecht.

Duncan lächelte mich an. »Wo kommst du her?«

Durch und durch spürte ich den intensiven Blick, mit dem er mich abtastete. Eigentlich wünschte ich mir genau diese Aufmerksamkeit von ihm, bloß jetzt nicht.

»Von draußen. Ich war ausreiten. Sieht man das nicht?« Ich versuchte ein kokettes Lächeln, das gründlich misslang. Ich konnte es als schiefes, unglückliches Grinsen auf meinem Gesicht spüren.

Er legte mir die Hand unters Kinn und hob es sanft so weit an, dass ich ihm in die Augen sehen musste. Wunderbare graue Augen mit funkelnden Lichtern und überwältigender Strahlkraft. Warum mussten meine Augen diese Froschfarbe haben?

Lange gebogene Wimpern warfen zarte Schatten auf seine schmalen, blassen Wangen.

»War’s nett?« Er beugte sich zu mir herab und strich mir unendlich zärtlich mit einem Finger über die Wange. Ich hätte eine Ewigkeit so verharren können.

»Ja«, antwortete ich mit flacher Stimme, »sehr. Leider habe ich die Zeit vergessen. Eadha ist wütend auf mich. Ich muss mich umziehen.«

»Du ... riechst gut«, flüsterte er an meinem Ohr und seine Lippen streiften mich.

Ich roch nach Pferd und ...

»Findest du?«, fragte ich verdattert.

Er schloss die Augen und sog genießerisch die Luft ein.

… und nach Schweiß, und Dreck und … Konnte ich ihn so falsch eingeschätzt haben?

Seine Reaktion brachte mich glatt aus der Fassung und ließ mich zittern. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm eine Hand auf die Brust zu legen, um Halt zu suchen. Ich hatte kaum seine ausgeprägten Muskeln gespürt, da legte er seine Hand über meine. Es war eine kräftige Hand mit langen Fingern. Eine schöne Hand, schön und vollkommen wie alles an ihm. Ein unverdientes Glücksgefühl durchrieselte mich.

»Geht es dir gut?«, flüsterte die Stimme an meinem Ohr. Sie war so zärtlich im Ton, so hingebungsvoll! »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, mein kleiner Liebling.«

»Bin ich das, dein Liebling?«, fragte ich misstrauisch, war mir aber darüber im Klaren, dass eine selbstbewusstere Frau so etwas nicht fragt.

»Hast du Zweifel daran? Ach, meine kleine Lynn!« Eine leise Entrüstung klang in seiner Stimme auf, die mich schrumpfen ließ, weil sie so eindeutig auf ein Kind bezogen war, er hätte gar nicht »kleine Lynn« sagen brauchen. Immerhin war ich seine kleine Lynn, mein Instinkt sagte mir, dass ich Fiona da etwas Entscheidendes voraus hatte.

Was machte es schon aus, dass sie größer, schlanker, älter und so viel schöner als ich war? Nichts, betete ich mir vor, es hat keine Bedeutung, denn die Liebe, die wahre Liebe, fragt nicht nach Schönheit, sie schafft sie selbst. Das hatte Gort mich gelehrt, der liebe Gort, und hier erlebte ich die Bestätigung – oder nicht? Irgendwie liebte mich Duncan.

»Da ist ja unser verloren gegangenes Kind! Hab ich nicht gesagt, sie hat nur die Zeit vergessen?«, fuhr eine Stimme klirrend wie zersplitterndes Glas in meinen Glücksrausch.

Unwillig schaute ich auf.

Oben an der Treppe war Fiona erschienen. Sie hatte sich umgezogen, war aber nun noch eleganter gekleidet und genoss ihren Auftritt, während sie auf hochhackigen Schuhen graziös Stufe für Stufe herabglitt. Aber Duncan starrte sie nur kurz stirnrunzelnd an und wandte sich wieder mir zu, als hätte gerade ein Dienstbote sich angemaßt, ein wichtiges Gespräch zu unterbrechen.

»Ich wollte ausreiten und hatte auf deine Begleitung gehofft, aber wir haben uns verpasst«, sagte er. Aus seiner Stimme war die Wärme nicht verschwunden, sie klang aber eine Spur kühler, man könnte sagen, nach Vorwurf.

Der Vorwurf traf mich sehr. Vor Enttäuschung schossen mir Tränen in die Augen. »Wie schade«, stammelte ich.

»Ja, gerade heute. Du siehst müde aus, hab ich das schon gesagt? Erschöpft. Und du hast Gras im Haar.« Er legte mir die Hände auf die Schultern und streichelte sie sanft. Wie gern hätte ich mich in seine Arme geschmiegt, wie ich es als Zehnjährige gemacht hatte, selbst vor den Augen Cormacs und Fionas. Lag seine Zurückhaltung vielleicht daran, dass er mich bereits als Kind gekannt und noch nicht gemerkt hatte, dass aus mir eine Frau geworden war? Denn das hatte ich gelernt: Das Bild, das wir uns einmal von einem Menschen eingeprägt haben, hält sich äußerst hartnäckig und widersteht spielend jeglichen Veränderungen.

»Wo warst du?«, fuhr er fort. »War’s der übliche Ritt? Durch die Felder, am Teich vorbei?« Jetzt wurde aus unserem Gespräch eine konventionelle Unterhaltung.

»Ja, ich war am Teich«, rang ich mir ab.

»Wer ist mit dir ausgeritten?«

Was sollte diese Fragerei?

»Ist das nicht gleichgültig?«, wich ich ernüchtert aus.

Duncans Hände glitten langsam über meine Schultern abwärts.

»Was dich betrifft, ist mir nichts gleichgültig. Cormac sagte mir gerade, dass dich jemand gesehen hat. Du warst allein.« Seine Stimme verlor den liebenswürdigen Ton und die Hände drückten fast schmerzhaft meine Oberarme.

Wer hatte mich gesehen? Angespannt kramte ich in meinem Gedächtnis. Alle Einzelheiten des Ausflugs waren mir auf einmal nur noch undeutlich bewusst, bis auf die schreckliche Begegnung am Elfenteich.

»Ach ja?«, murmelte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Ich warte auf deine Erklärung.« Die Stimme klang härter.

In meinem Kopf breitete sich Verwirrung aus.

»Wer will mich denn gesehen haben?« Ich zermarterte mir das Hirn und wusste doch, dass es nichts bringen würde. Je mehr ich mich anstrengte, desto vergeblicher wurde das Unterfangen. War ich jemandem begegnet, jemand anderem als dem Kerl am Teich? War er mir bis hierher gefolgt und hatte mich bei Cormac denunziert? Nein ... Es ergab keinen Sinn.

Langsam befiel mich Angst vor meiner eigenen Verwirrung. Eadhas wiederholte Feststellung »Du hast einen schwachen Verstand« schien sich endgültig zu bestätigen. Ich musste mich beruhigen, um wieder klarer zu denken, aber wie sollte mir das in der unmittelbaren Nähe zum schönsten aller Männer gelingen? Meine hemmungslose Anbetung machte mich hoffnungslos unterlegen. Wahrscheinlich bestand darin mein allergrößter Fehler.

Außerdem hatte mich der Mann am Teich erschreckt, so etwas wirkt lange nach. Ich würde mich wieder an alles andere erinnern, bestimmt, ich brauchte jetzt nur Zeit. Wenn Duncans Nähe bloß nicht so verwirrend auf mich gewirkt hätte.

»Dein Leugnen hat keinen Zweck. Gib es zu: Du warst allein«, brach er in meine Überlegungen ein.

»Stimmt«, kapitulierte ich. Ich begriff noch nicht den Wandel. Duncans Augen waren von irritierender, harter Eindringlichkeit.

»Es war meine Idee. Ich hab doch heute Geburtstag, und da habe ich mir gewünscht ...« Ich stockte. In diesem unpassenden Moment meldete sich die Erinnerung an die Wolfsaugen, ich sah sie direkt vor mir und schon entwickelte sich Panik. Beruhige dich, mahnte ich mich wieder, aber der Ruf verhallte ungehört in meinem Innern. Dieser Mann am Teich, versuchte ich es noch einmal, war kein Wolfsmann, nur ein Streuner, ein Vagabund. Es half nichts, die Panik blieb.

»Du Dummkopf!« Duncan zog mich kurz und heftig an sich, gab mich aber sogleich wieder frei. »Du bist nicht irgendjemand, der sorglos durch die Gegend reiten kann. Dir hätte etwas Schreckliches zustoßen können, verstehst du? Verstehst du nicht, dass wir uns Sorgen machen, wenn du stundenlang fortbleibst? Dass ich mir Sorgen mache? Lynn, so geht das nicht.« Er war lauter geworden.

Ich schwieg und senkte den Kopf, weil ich seinen stechenden Blick nicht mehr aushielt. Duncan hatte ja so recht mit seinen Vorwürfen.

»Redest du unserer Kleinen ins Gewissen? Wie uncharmant.« Lautlos war Fiona herangeschlichen. Hatte sie die ganze Zeit gelauscht?

»Bitte, Fiona, halt dich da raus«, entgegnete Duncan verstimmt.

»Und wieso?« Sie trat an seine Seite und legte die Hand mit dem auffallenden Ring wie selbstverständlich auf seine Schulter. Ihre langen, sorgfältig zugefeilten Fingernägel leuchteten blutrot. Zu allem Überfluss lehnte sie sich sogar an ihn, eine Demonstration von ungenierter Vertrautheit, die mir schmerzhaft in die Seele schnitt. Duncan wandte sich Fiona zu, sie lächelte ihn schelmisch an und meinte: »Wir sind doch eine Familie, nicht wahr?«

Der Blickaustausch zwischen den beiden hatte eine Intensität, die mich fassungslos machte. Duncan war nun innerlich weit weg von mir. Aber dann geschah doch ein Wunder.

»Fiona, würdest du mich bitte mit Lynn allein lassen?«, bat er kalt und trat einen Schritt zur Seite, sodass sie ihre Hand von seiner Schulter nehmen musste.

»Du bist unhöflich«, sagte sie gekränkt und zwinkerte mir überraschend zu. »Jetzt habe ich versucht, ihn von dir abzulenken, aber ...« Sie grinste spitzbübisch. »... es hat nicht funktioniert. Schade! Du bist aber auch ein Schaf. Ich dachte, du nimmst die Gelegenheit wahr und huschst ganz rasch zur Treppe und verschwindest, bevor er ...«, sie zögerte, »... deine dreckige Hose bemerkt.«

Ich war baff. Das hatte Fiona im Sinn gehabt? Mich vor Duncans Kritik zu retten?

»Ich bin ja nicht blind«, tadelte er schwach und ein flüchtiges Lächeln glitt über seine Züge. »Na, schön, ich möchte dich nicht in Verlegenheit bringen, Lynn, entschuldige. Ich werde dich nicht länger aufhalten, wenn du hinauf willst. Wir sehen uns später noch.«

Nun war ich völlig verunsichert. Sollte ich gehen oder bleiben? »Gut«, ich machte einen Schritt auf die Treppe zu, »Eadha wartet schon auf mich. Sie wird mich ausschimpfen, sobald ich bei ihr bin, also bleibt mir die Gardinenpredigt nicht erspart.«

Duncan lachte entspannt. Beinahe hatte ich die Treppe erreicht, da sprach er wieder.

»Wenn du ausreitest, sollst du doch immer einen Stallknecht dabeihaben. Wer hätte mit dir ausreiten müssen?«

Ich wandte mich zu ihm um. »Bitte Duncan, das ist völlig unwichtig«, winkte ich ab. »Ich habe den Stallburschen den Befehl gegeben, mich allein zu lassen, und sie haben gehorcht. Nur ich bin verantwortlich, verstehst du? Ein für alle Mal: Falls es jemanden zu tadeln gibt, tadele mich! Ich weiß, dass es dumm von mir war, eine sicher sinnvolle Regel nicht zu beachten.« Er war so anbetungswürdig schön, selbst wenn ihn etwas verärgert hatte. Vielleicht dann erst recht. Die dichten, zusammengezogenen Brauen, der geschwungene Mund, der sich nun zu einer unheilvoll strengen Linie straffte, ließen ihn sehr männlich erscheinen. Er war sehr verärgert. Der kleinste Ungehorsam, erinnerte ich mich unbehaglich, konnte ihn zur Weißglut bringen.

Duncan kam mir nach. Urplötzlich stand ihm eine regelrechte Gewitterwolke ins Gesicht geschrieben. »Du hast nicht gehorcht«, grollte er.

»Es tut mir leid, es tut mir so leid, bitte, sei nicht so böse auf mich.« Seine Wut sprang mich regelrecht an, prügelte auf mich ein, er atmete immer schwerer und heftiger.

»Bitte!«, flehte ich unkontrolliert. »Kannst du mir nicht wenigstens heute verzeihen? Ich verspreche dir alles, was du willst. Ohne deine Erlaubnis werde ich nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen, geschweige denn ausreiten.« Ich meinte es bitterernst in diesem Moment. So viel Reue hatte ich selten empfunden. Es war wie ein Reflex. Man hatte mir den Gehorsam so eingebläut, dass es mir ungeheuerlich erschien, nicht die Regeln zu befolgen. Und Duncans Zorn über meine Verfehlung ertrug ich einfach nicht. Es machte mich fertig.

Sollte es ausgerechnet heute zu einem entscheidenden Zerwürfnis zwischen uns kommen? Das würde ich nicht aushalten. Ich senkte den Kopf und meine Schultern bebten. »Bitte, bestraf mich.« Das war die letzte Lösung, etwas anderes fiel mir nicht ein.

Dann stand er vor mir, während ich auf seine glänzenden Stiefel schaute. Selbst wenn er mir verbot, zum Ball zu erscheinen, würde ich gehorchen, nur um ihn milder zu stimmen. Seine Wut löste geradezu körperliche Schmerzen bei mir aus.

»Wie soll man nur mit dir Geduld haben?«, erklang seine Stimme gedämpft an meinem Ohr.

Unsicher hob ich den Blick. Duncan lächelte nicht, seine Augen waren ernst, furchtbar ernst, das ließ mich schaudern.

»Ja, nicht wahr, das wäre einfach zu viel verlangt«, wisperte ich. Wenn ich mir nicht der Gegenwart Fionas und Cormacs bewusst gewesen wäre, wäre ich auf die Knie gesunken, so weit war ich bereits und ich hatte das eigenartige Gefühl, dass das in dieser Lage genau das Richtige wäre.

Endlos lange fiel kein Wort. Dann seufzte Duncan auf einmal und entspannte sich. »O, Lynn, du kleines Schaf, du unmögliches kleines Schaf! Wie käme ich dazu, eine Strafe zu verhängen – ausgerechnet heute?«

»Du, du verzeihst mir?«, stotterte ich.

Er streckte eine Hand aus, zog mich an sich und gab mir einen Kuss auf mein zotteliges Haar. »Ja, mein Liebling, von ganzem Herzen. Ich bin so froh, dass dir nichts Ernsthaftes zugestoßen ist.«

Vor grenzenloser Erleichterung schloss ich die Augen. Noch mal davongekommen! Ich nahm kaum wahr, dass er mich von sich schob. Benommen sah ich zu, wie er aus einer Innentasche seiner Reitjacke ein Samtetui hervorzog. »Eigentlich wollte ich es dir erst später geben. Aber nun ... du sollst nicht denken, dass es mir Spaß macht, dich abzukanzeln. Aber ich würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren würde, nur weil ich nicht streng genug mit dir war. Du verstehst nichts, aber auch gar nichts von den Gefahren draußen, dafür bist du zu sorglos und unschuldig.« Er sprach sehr sanft, aber immer noch mit diesem Ernst, der mir so nahe ging – spürte ich doch, dass nichts als Zuneigung hinter all seiner Wut steckte.

»Ein Geschenk? Du hast ein Geburtstagsgeschenk für mich?«, fragte ich mit schwacher Stimme und nahm mit zitternden Fingern das Etui entgegen.

Würde es eine Gabe sein, die mir versicherte, dass ich ihm mehr bedeutete als es den Anschein hatte? Ich zögerte, von plötzlichem Zweifel geplagt.

»Mach’s auf«, forderte er mit leiser Ungeduld.

Ich zögerte immer noch. Fiona und Cormac schauten zu uns herüber, und ich wünschte mir so sehr, in diesem wichtigen Augenblick mit Duncan allein zu sein.

Mit fahrigen Händen klappte ich das Etui auf.

Auf dunkelroten Samt gebettet, funkelte mir eine Kette aus in Gold gefassten Rubinen entgegen, umgeben von kleinen Diamanten. So große, feurige Edelsteine hatte ich noch nie gesehen. Aber es war der Stein in der Mitte, dessen Anblick mir den Atem nahm. Ein mandelförmiger Stein als Anhänger. Ein matt glänzender dunkler Stein, der sich merkwürdig schlicht gegen die Rubine ausmachte.

Ein Mondstein!

»Die Kette ist zauberhaft«, hauchte ich überwältigt. »Ein Geschenk wie für eine Königin.«

»Ja, ganz recht«, entgegnete er bedeutungsvoll. »Ein Geschenk für eine Königin. Du wirst die Kette heute Abend zum Ball tragen.«

Aber sie passt nicht zu meinem Kleid, schoss mir durch den Kopf.

Als ich wieder zu Duncan aufschaute, strahlte ich dennoch vor Dankbarkeit. »Ein Mondstein!«

»Ein Stein, der dir Glück, Gesundheit und ein langes Leben bescheren wird«, erklärte Duncan mit seltsamer Feierlichkeit.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, legte ihm einen Arm um den Hals, zog seinen Kopf zu mir herunter und flüsterte ihm ergriffen ins Ohr: »Ich danke dir, ich danke dir von ganzem Herzen. Diese Kette ist das Schönste und Kostbarste, was es für mich auf Erden gibt. Weil sie von dir ist.«

Über seine Schulter hinweg spähte ich zu Fiona, um zu sehen, ob sie vor Ärger über unsere Versöhnung gerade ihre Lästerzunge wetzte. In ihrem Blick lag irritierenderweise keine Spur von Neid, sondern vielmehr Mitleid.

Mitleid? Mit mir?

Ich vergaß diesen Blick sofort, als Duncan mich wieder an sich drückte und auf die Stirn küsste.

Viel zu früh gab er mich frei und schob mich sanft auf die Treppe zu. »Verschwinde«, sagte er, »und lass mich zu ein paar langweiligen Pflichten zurückkehren, die ich vor heute Abend erledigt haben will. Ohne dich mag ich nicht mehr ausreiten.«

Ich packte ihn am Ärmel, ich war noch nicht ganz zufrieden. »Was hast du gemeint, als du gesagt hast, ein Geschenk für eine Königin?«

»Ich muss mich verbessern«, entgegnete er ernst. »Ein Geschenk für meine Königin. Und jetzt, bitte, lass uns allein.«

Na, also, meine Ahnung hatte mich nicht getrogen: Ich war seine Königin! Das stimmte ja auch irgendwie.

»Ich begleite dich nach oben und passe auf, dass du bis heute Abend nicht wieder verloren gehst«, mischte sich Fiona ein, sie kam mir nach und hakte mich fröhlich unter.

Kapitel 5

Duncan

Ich wartete, bis die Schritte der beiden auf der Treppe verklungen waren, dann winkte ich Cormac zu mir.

»Es stimmt also: Sie ist allein ausgeritten.«

Cormac nickte. »Wie ich schon sagte: Einer der Lieferanten hat sie gesehen, ein Eseltreiber, der ein paar Säcke Mehl brachte. Es war niemand bei ihr.«

»Finde heraus, wer von diesen Stallburschen sich nicht an die Anweisungen gehalten hat.«

»Ich werde mich um ihn kümmern.«

»Wirst du nicht. Du sagst mir, wer es war, kümmern werde ich mich um ihn.« Die Sache war zu wichtig, um sie Cormac zu überlassen, das musste ich schon selbst erledigen. So einen Patzer würde es nicht mehr geben, dafür würde ich Sorge tragen. Ich wusste, wie ich mit diesen Bauerntölpeln von Stallburschen umzugehen hatte. Merkwürdig war zweifellos, dass es einer von ihnen oder sogar alle gewagt hatten, eine klare Anordnung nicht zu befolgen. Natürlich musste das Konsequenzen haben.

»Ja, ja gewiss«, sagte Cormac unterwürfig. »Und was soll ich in der anderen Angelegenheit tun?«

Ich überlegte. Cormac hatte mir vor Lynns Auftauchen mitgeteilt, dass Cathal eine schlechte Nacht hinter sich hatte. Er hatte vor Schmerzen gestöhnt. Sein Kammerdiener hatte es draußen vor der Tür gehört, aber Cathal hatte ihn nicht zu sich gelassen. Das wunderte mich nicht. Cathal war ein harter Brocken, der genau wusste, was ihm blühte, wenn er Schwäche zeigte.

»Nichts, er wird selbst wissen, was richtig für ihn ist, ich kenne ihn. Kein Grund zu ernster Sorge, Cormac.«

Egal, wie sein Zustand war, Cathal musste durchhalten, bis ich meine Pläne mit seiner Tochter verwirklicht hatte. Unserer süßen, ahnungslosen Lynn.

Cormac schien nicht überzeugt, er rang sichtlich mit sich. »Sähe es nicht besser aus, wenn ein Arzt zur Hand wäre? Ich könnte einen aus Dún Èideann kommen lassen«, murmelte er schließlich.

»Ein Arzt?« Ich winkte ab. »Über den Kopf des Königs hinweg? Was für eine außerordentlich dumme Idee!«

Kapitel 6

Lynn

Am Nachmittag, nach der ausführlichen Strafpredigt von Eadha, bei der sie nichts ausließ, was ihrer Meinung nach Eindruck auf mich machte, also vor allem die mehrmalige, überaus einprägsame Versicherung wie dumm, beinahe geistesgestört ich sei, und einem ausgedehnten Mittagsschlaf, den ich nach all den Torturen dringend brauchte, wurde ich ins Arbeitszimmer meines Vaters gerufen.

Endlich, ich hatte schon befürchtet, meinen Vater erst abends zu sehen. Gerade, als ich leise eintrat, beendete er eine Unterredung mit Lord Dubhglais, dem Kanzler. Der Graf war etwa im Alter meines Vaters, beider Haar war deutlich ergraut, aber das war das einzige sichtbare Alterskennzeichen. Die beiden ähnelten sich in Statur und Haltung, sie waren groß und schlank und hielten sich sehr aufrecht. Auch der Graf gehörte zu meiner weitläufigen Verwandtschaft. Wie in vielen Herrscherhäusern üblich, wurden die wichtigsten Posten von unseren Verwandten besetzt. Nur ihnen konnten man rückhaltlos vertrauen, so viel hatte ich von den Regeln der Politik begriffen.

Lord Dubhglais nickte mir knapp zu und betrachtete mich dafür umso intensiver. Wie immer unter diesem Blick verstärkte sich mein Unbehagen.

Der Lordkanzler fuhr sich einmal mit der Zunge über die Lippen. »Aufsässigkeit«, sagte er unvermittelt mit tiefer Stimme, »ist kein Zeichen beginnender Reife, Lynn, eher das Gegenteil.«

Wusste er von meinem Ausritt? Wie hatte er das so rasch erfahren können?

»Was habe ich denn getan?«, stammelte ich überrascht.

»Ich hoffe nichts, was du irgendwann einmal bereuen wirst.« Er nickte mir noch einmal ernst zu und ging hinaus.

»Diese alte Unke, hör nicht auf ihn«, sagte mein Vater, sobald sich die Tür hinter Dubhglais geschlossen hatte. Aufseufzend ließ er sich in einen Sessel fallen, der vor dem großen Sandsteinkamin an einer Schmalseite des Raums stand, und forderte mich mit einem Wink auf, mich in den anderen gegenüber zu setzen. Aber ich trat an ihn heran, umarmte ihn schüchtern und drückte meinen Kopf an seine Schulter.

Er klopfte mir matt auf den Rücken, während sich sein Körper versteifte. »Geht es dir gut, Kind?«, murmelte er. »Bitte, schenk mir aus der Karaffe auf dem Schreibtisch ein Glas Wein ein und bring es mir, ich kann eine Stärkung vertragen.«

Ich kam der Bitte sofort nach, denn ich schämte mich ein bisschen, ihm meine Umarmung aufgedrängt zu haben.

Als ich ihm das Glas reichte, bemerkte ich, dass er ein Bein auf einen niedrigen Hocker gelegt hatte.

»Schmerzt es?«, fragte ich besorgt. Mein Vater war mir so fremd, dass ich kaum wusste, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Ich sah ihn ja kaum. Beklommen kam mir zu Bewusstsein, wie isoliert ich eigentlich lebte.

»Wann schmerzt es mal nicht?«, gab er zurück, langte nach dem Wein und nahm einen tiefen Zug aus dem Glas. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich vorsichtig zurück. Wie immer trug er einen hochgeschlossenen dunklen Überrock. Ein graues Seidentuch, in akkurate Falten gelegt, verdeckte den Hals fast bis zum Kinn. Eine strenge düstere Erscheinung, die ich dennoch liebevoll betrachtete.

»Es muss doch Ärzte geben, die dein Leiden lindern können.« Ich wusste, dass ihn eine Krankheit quälte, aber nicht, welche. Niemand, auch er selbst nicht, ging auf meine Fragen danach ein. Ein chronisches Leiden, nicht lebensgefährlich, hieß es allgemein. Mein Vater mochte Fragen nach seiner Gesundheit nicht.

»Gegen manche Krankheiten können auch Ärzte nichts ausrichten, abgesehen davon sind die meisten Pfuscher. Ich habe dich nicht kommen lassen, um über Krankheiten zu reden.«

Ich achtete nicht auf seinen abweisenden Ton, mir kam auf einmal eine großartige Idee. Ich hatte das Etui mit Duncans Geschenk mitgebracht, um ihm die Kette zu zeigen. Rasch klappte ich es auf und nestelte den Mondstein ab. »Hier.« Ich hielt meinem Vater den Stein hin. »Vielleicht hilft der ja.«

Er richtete sich auf, und starrte den Schmuck an.

»Ein Geschenk von Duncan zum Geburtstag«, erklärte ich ein wenig unsicher, weil mir plötzlich einfiel, dass ich ein so kostbares Geschenk vielleicht nicht hätte annehmen dürfen. Vermutlich verstieß das gegen eine der Benimmregeln, die ich zu beachten hatte. »Es heißt, Mondsteine schenken ein langes Leben und Gesundheit. Er könnte vielleicht auch dir helfen.«

Mein Vater schüttelte verwundert den Kopf. »Den hat er dir geschenkt?«

»Und die Kette. Ist sie nicht wunderschön?«

Ich hatte eine unerklärliche Abneigung gegen die blutroten Steine gefasst, mochte das aber niemandem gegenüber zugeben. Diese Rubine nicht zu mögen, war kindisch und in diesem Fall sogar undankbar. Nur der Mondstein gefiel mir. Schmeichelnd warm und angenehm lag er auf meiner Handfläche.

»Behalte deinen Stein. Wenn mir so ein Stein helfen könnte, hätte er das längst getan. Ja, die Kette ist schön ...« Er ließ einen Moment verstreichen, bevor er weitersprach. »Sag mal, magst du Duncan?«

Meine Finger schlossen sich abrupt um den Stein. »Ob ich ihn mag? Warum fragst du das?«

Die Brauen zusammengezogen, sah er auf seine Hände, die er locker auf die Knie gelegt hatte. Wie alle in unserer Familie bis auf mich hatte er lange, schmale Hände, deren Haut auf dem dunklen Stoff der Hose hell leuchtete.

»Vielleicht ist es zu früh, dich so etwas zu fragen«, murmelte er. »Du bist noch so jung. Lassen wir das.«

Aber es war genau das Thema, das ich gern mit ihm erörtert hätte. Jetzt oder nie musste ich die Chance nutzen, die seine Frage mir bot.

»Ich liebe Duncan, ich liebe ihn schon lange. Ich vergehe vor Liebe zu ihm«, brach es unbeherrscht aus mir hervor.

Die Augen meines Vaters waren vom gleichen schimmernden Grau wie die Duncans und in Augenblicken wie diesen von der gleichen unerbittlichen Eindringlichkeit. Aber dann wurde der Blick weich, fast zärtlich.

»Du bist trotzdem zu jung. Ich habe es allen im Rat gesagt, dass wir noch warten sollten.« Er lächelte schief. »Aber es erleichtert mich, dass du ihn magst.«

»Liebst, Vater«, korrigierte ich erregt.

Cathal lachte trocken.

»Bewunderung und Anhimmeln ist leicht mit Liebe zu verwechseln, vor allem, wenn man so so unbeda... unerfahren ist wie du.«

»Mach dich nur lustig über mich«, sagte ich.

»Tu ich das? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Woran merkst du, dass du Duncan liebst?«

Ich schluckte.

»Es ist dieses Gefühl, das mir das Herz zerreißt, sobald ich ihn sehe«, sagte ich leise.

Der Raum war groß und eigentlich freundlich, aber meist herrschte eine kühle, fröstelige Atmosphäre, gleich, wie warm es draußen war. Doch jetzt kam es mir so vor, als würde sich die Luft rings um mich herum aufheizen, mein Körper glühte von der Hitze. »Du musst es mir glauben!«

»Du weißt, dass du meine Nachfolgerin bist, da ich außer dir keine Kinder habe.« Er starrte auf eine Stelle in der Kaminumrandung, die eine von geschwungenen Ornamenten umgebene große leere Fläche zeigte. Vielleicht hatte es dort einmal ein eingemeißeltes Wappen gegeben, aber die Mitte war bis auf ein paar undeutliche Einkerbungen geglättet worden. Es war nichts als blanker Stein zu sehen, wo ein Wappen hätte sein sollen. »Du wirst Königin sein, aber das heißt natürlich nicht besonders viel. Die Regierungsgewalt wird beim Kronrat liegen, du brauchst dich damit nicht zu belasten.« Er lächelte dünn. »Ich habe als König weniger zu sagen, als du denkst. Die Zeiten, als nur ich die Politik bestimmt habe, sind längst vorbei. Also, hab keine Angst, wenn man dir die Krone aufs Haupt setzt. Wichtiger als du ist der Mann, den du heiratest.«

Ich atmete tief ein.

»Duncan?«

»Nur, wenn du einverstanden bist.«

Ich hatte mich bis jetzt nie gefragt, ob er Duncan mochte.

»Und, magst du Duncan?«

»Um mich geht’s hier nicht«, antwortete er verdrossen. »Also: Willst du ihn heiraten? Du brauchst nur nein zu antworten und ich ...«

Er richtete sich erwartungsvoll auf.

Mein Instinkt hatte nicht getrogen: Duncan und ich gehörten zusammen, das sah auch der Kronrat so. So viel zur Geistesgestörtheit, die mir Eadha noch ein paar Stunden zuvor attestiert hatte. Ich war geistig gesund, und ob ich das war!

»Ist das nicht längst klar? Natürlich will ich ihn heiraten«, sagte ich einigermaßen kühl und mit Nachdruck. Es war die schlichte, aber unumstößliche Wahrheit.

»Das sagst du bloß heute.«

»Nein, Vater!«, widersprach ich heftig. »Ich werde meine Meinung nicht ändern. Nie! Denk bitte daran, dass ich Duncan fast mein ganzes Leben lang kenne. Ich kenne ihn auch, wenn er zornig oder gereizt oder einfach schlechter Laune ist, aber nie, nie hat er mich schlecht behandelt. Ich weiß, dass ich es nicht leicht mit ihm haben werde, weil er älter und erfahrener ist als ich, und dass ich mich anstrengen muss, um ihm eine würdige Gefährtin zu sein. Und bitte, hör auf, in mir ein Kind zu sehen, das nicht weiß, was es sagt. Zugegeben, ich bin sehr unwissend, aber doch nur, weil niemand meine Fragen beantwortet, weil ich immer und überall an Grenzen stoße und von allem, was wichtig ist, fern gehalten werde. Bitte, kann sich das nicht ändern?« Ängstlich sah ich ihm ins Gesicht.

Schatten zogen über seine Miene, auf einmal wirkte er wieder müde und hinfällig und es schien, als hätte er mir kaum zugehört. Schwerfällig stand er auf und ging gebeugt zu einem Schrank aus poliertem Nussholz, fingerte lange am Schlüssel herum und schloss endlich auf. Er kehrte mir den Rücken zu, sodassich nicht sofort sehen konnte, was er dem Schrank entnahm.

Mit einem quadratischen Holzkasten in der Hand kehrte er zu mir zurück. Er klappte den Deckel auf.

»Das hier hat deiner Mutter gehört, und ich denke, es wird Zeit, dass ich es dir gebe. Sie hätte das gewollt, es liegt viel zu lange schon ungenutzt im Schrank.«

Mit der Erinnerung an meine Mutter wurden die dunkelsten Momente der Vergangenheit für mich lebendig. Sie war eine eiskalte, unnahbare Frau gewesen, die vier Jahre zuvor an den Folgen eines schweren Reitunfalls gestorben war. Obwohl ich damals noch sehr jung gewesen war, hielt sich meine Trauer in Grenzen. Jeder meiner Versuche, dieser Frau näher zu kommen, war rüde abgewehrt worden, die Erinnerung an die permanente Zurückweisung löste auch jetzt noch Trauer und Beschämung bei mir aus. Erst nach ihrem Tod hatte Cathal angefangen, sich für mich, seine einzige Tochter, zu interessieren, als wäre irgendein Bann gebrochen worden, der ihn bis dahin völlig von mir ferngehalten hatte. Dass er sich heute beinahe liebevoll und so besorgt um mein Wohlergehen gab, war außergewöhnlich. Ich starrte auf den Schmuck, Tränen in den Augen.

Meine Mutter war von kostbarem Geschmeide geradezu besessen gewesen. Sie liebte Rubine über alles, neben funkelnden, tiefroten Rubinen fanden nur Diamanten und Mondsteine vor ihren Augen Gnade. Die Kette, die Duncan mir geschenkt hatte, entsprach ganz und gar ihrem meiner Ansicht nach vulgären Geschmack, dieses Diadem dagegen nicht. Es war viel zu fein und verspielt, um ihr zu gefallen. Sicher hatte Duncan gedacht, dass ich ihren Geschmack teilte.

»Das habe ich noch nie gesehen, wieso nicht?«

Es war ein außergewöhnliches Stück, kunstvoll gearbeitet, besetzt mit sternförmig angeordneten kleinen Aquamarinen, blau wie der Sommerhimmel, umgeben von winzigen Perlen, eingefasst in Weißgold. Ein Blitzen und Schimmern von Blau und Weiß, vor dem ich andächtig die Augen schloss. Die Krönung meiner Ballrobe! Das Diadem war wie dafür gemacht. Und diesen Schmuck hatte meine Mutter mir hinterlassen? Kaum zu glauben.

»Trag es heute Abend!«

»Und Duncans Kette?«

Cathal zuckte kurz die Schultern. »Es ist deine Entscheidung.«

Um Punkt neun Uhr abends verließ ich mein Zimmer. Meine Satinschuhe hatten zehn Zentimeter hohe Absätze, aber ich schwankte nur unmerklich, weil ich unter Fionas fachkundiger Anleitung das Gehen darin geübt hatte. Meine Cousine hatte sich überraschend dazu angeboten und sich sehr geduldig gezeigt und dabei versucht, mich über mein Gespräch mit meinem Vater auszuhorchen. Es war nicht ganz leicht gewesen, ihren Fragen einigermaßen geschickt auszuweichen und mich darauf zu konzentrieren, nicht bei jedem Schritt die Balance zu verlieren oder mir den Fuß zu verstauchen. Wie schaffte es Fiona, so lässig auf solchen Stelzen zu gehen? Auf gar keinen Fall durfte sie etwas von der bevorstehenden Verlobung erfahren. Eisern hielt ich an diesem Gedanken fest, und es kostete mich einiges an Kraft, mein Geheimnis zu bewahren.

Es war etwa ein halbes Jahr her, da hatte ich Fiona dummerweise von meiner Liebe zu Duncan erzählt. Irgendwem musste ich mich anvertrauen. Ich sehnte mich nach meinen Freundinnen aus dem Kloster, die mich längst vergessen hatten oder nichts mehr mit mir zu tun haben wollten, nachdem ich mich vor ihren Augen wie eine Verrückte aufgeführt hatte. Einmal hatte ich ihnen einen Brief geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten.

Es war niemand für mich da außer Eadha, und ihr von meinen Gefühlen zu Duncan zu erzählen, wäre so gewesen, als hätte ich mit einem Huhn gesprochen. Was wusste sie schon von Liebe? Sie war ja nie verheiratet gewesen, noch hatte sie jemals erwähnt, verlobt oder verliebt gewesen zu sein. Niemand ging mehr als sie in langweiligen Pflichten auf, und ihr Eifer ging mir in letzter Zeit mächtig auf die Nerven. Es war, als hätte sie nie ein anderes Leben gekannt.

Fiona hatte mir aufmerksam zugehört – und offenkundig die Neuigkeit gleich Duncan hinterbracht. Davon war ich fest überzeugt, denn er ließ sich wochenlang nicht bei mir blicken, dagegen hatte Fiona bei einem ihrer nächsten Besuche auch noch die Frechheit besessen, ihren Vertrauensbruch ungefragt zuzugeben. »Ich bitte dich«, hatte sie erklärt, »als ob er das nicht längst gewusst hätte! Lynn, wie kannst du nur so naiv sein.«

So bin ich eben – bis heute jedenfalls.

Fiona selbst liebte Duncan oder zumindest wollte sie ihn für sich, das war mir endlich klar geworden. Vielleicht hoffte sie sogar, dass der Kronrat dafür stimmte, mich wegen meiner angeblichen geistigen Schwäche als Cathals Nachfolgerin zu übergehen und Duncan zum König auszurufen. Fiona als Königin! Dass sie ungeheuer ehrgeizig und entschlossen war, daran zweifelte ich kaum. Sie hatte sich ja vor meinen Augen Duncan beinahe an den Hals geworfen.

Sobald Fiona mich nach ihrem Geh-Unterricht allein gelassen hatte, feuerte ich die Schuhe in eine Ecke und sank erschöpft aufs Bett. Ich schlief sofort ein und wachte erst auf, als es beinahe Zeit wurde, sich für den Ball zurechtzumachen.

Als ich auf die Galerie hinaustrat, saß auf meinem kunstvoll hochgetürmten Lockenhaar das Diadem meiner Mutter. Ich hatte mich damit im Spiegel betrachtet, bevor ich mein Zimmer verließ. Sicher fand Fiona meine Aufmachung immer noch provinziell, selbst wenn sie es nicht ausdrücklich aussprach, aber mir war das inzwischen überraschend gleichgültig. Eine große innere Ruhe hatte mich überkommen.

Mein Vater und Duncan erwarteten mich bereits und kamen mir mit ausgestreckten Händen entgegen. In ihren Augen sah ich nichts als rückhaltlose Bewunderung aufleuchten. Sie nahmen mich bei der Hand, und es gefiel mir, dass mich diese beiden schönen hochgewachsenen Männer feierlich zur Treppe geleiteten, die in den Ballsaal hinabführte. Es wirkte charmant und elegant und nicht, als ob zwei Erwachsene ein Kind führten, was mich heute schon sehr gestört hätte. Gemeinsam sahen wir hinunter auf all die Gäste, die sich unten versammelt und die Gesichter zu uns emporgereckt hatten. Ein Raunen ging durch die Menge, als ich mit meinen Begleitern die Stufen hinabzusteigen begann.

»Warum trägst du nicht meine Kette?«, flüsterte mir Duncan zu.

Ich hatte die Frage früher erwartet.

»Weil das Diadem meiner Mutter besser zum Kleid passt«, antwortete ich gelassen. Sobald ich nach der Unterredung mit Cathal mein Zimmer aufgesucht hatte, hatte ich das Diadem aus dem Kasten genommen. Sofort hatte ich eine Wirkung gespürt, die völlig anders war als die von Duncans Kette. Das Blutrot der Rubine erschreckte mich immer noch, und die Kette drückte mir mit ihrer Schwere unangenehm auf die Brust. Das Aquamarindiadem strahlte dagegen etwas Tröstliches, Warmes und merkwürdig Vertrautes aus. Probeweise hatte ich es mir aufs Haupt gesetzt und gleich gemerkt, wie gut es zu mir passte. Allerdings konnte ich es noch immer nicht mit meiner Mutter in Verbindung bringen. Es war wie eine Eingebung aus meinem Unterbewusstsein, die mir riet, mich für das Diadem und gegen die Kette zu entscheiden.

Ich spürte Ärger in Duncan aufwallen, er teilte sich über den verstärkten Druck seiner Hand mit, aber das prallte an mir ab. Er würde schon darüber hinwegkommen, und ich hatte ja einen kleinen Trost für ihn. »Ich trage den Stein bei mir, deinen Mondstein. Sieh selbst.« Unmerklich schob ich die Schultern nach vorn, sodass das Mieder meines Kleides nicht mehr dicht anlag und sich ein Einblick in mein Dekolleté bot. Dort, unterhalb des Saums, gehalten von einer dünnen, kaum sichtbaren Kette, lag der Stein.

Duncan schwieg, streichelte aber versöhnlich mit dem Daumen über meinen Handrücken. Ich lächelte und nahm die Schultern zurück.

Sobald wir unten angelangt waren, verneigten sich die Herren, und die Damen versanken in einen tiefen ehrerbietigen Knicks.

»Bitte«, sagte ich mit beherrschter Stimme, »erhebt euch alle, wir sind ...«, mein Blick flog über die Versammlung, »... eine Familie. Wir brauchen keine Förmlichkeiten.«

Unter den Gästen befanden sich keineswegs nur Verwandte.

»Lynn«, widersprach mir Duncan gedämpft, »du bringst das Zeremoniell durcheinander.«

Gelächter brandete in meiner Nähe auf und setzte sich nach hinten fort.

»Das ist mir gleichgültig«, versetzte ich, »heute bestimme ich das Zeremoniell.«

In das Gelächter mischte sich ein Rascheln von seidenen Roben, gefolgt von Applaus, schließlich wurden Hochrufe laut. Die Leute huldigten mir, aber fröhlich und entspannt. Cathal und Duncan waren zurückgetreten, um deutlich zu machen, dass die Ehrbezeigungen allein mir galten. Ich will nicht behaupten, dass mir das nicht schmeichelte, aber die ganze Zeit hatte ich ein Gefühl absoluter Unwirklichkeit.

Für mich vergingen die ersten Stunden des Balles in einer seltsam entrückten Leichtigkeit. Schon wegen der hohen Absätze schaute niemand mehr so richtig auf mich herab. Noch am Vortag hätte ich einen derartig radikalen Wandel für unmöglich gehalten. Aber vielleicht war ja alles nur ein wunderschöner Traum.

Natürlich hatte Fiona das aufregendere Kleid. Es glitzerte vor Juwelen und bei jeder Bewegung schimmerte ihr Körper aufreizend wie der einer großen Schlange, die sich träge rekelt. Und natürlich mangelte es ihr nicht an Bewunderern, großherzig gönnte ich ihr jeden Einzelnen bis auf einen.

Nach dem Souper im Speisesaal hatte ich mit meinem Vater den Ball eröffnet, aber bald schon tanzte ich nur noch mit Duncan. Ihm nah zu sein, machte mich schwindelig, ich nahm seinen Geruch wahr, einen sehr männlichen Geruch voller Schärfe, er war sinnlich und betörend. Vor allem tauchten unsere Blicke immer wieder ungeachtet der Zuschauer tief ineinander und sprachen aus, was niemand außer uns hören sollte. Ich schwamm in einem Rausch der Glückseligkeit.

Als es auf Mitternacht zuging, wurden die Tanzfiguren nicht mehr sklavisch eingehalten, die Ordnung begann sich aufzulösen. Auch Duncan zog mich verlangend enger an sich heran und begann mir ins Ohr zu flüstern.

»Cathal hat mit dir gesprochen, und du bist wirklich einverstanden?« Seine Lippen streiften mein Ohr.

»Ja«, hauchte ich aufseufzend. »Ich kann die Verlobung gar nicht mehr abwarten. Wann ist es so weit?«

»Hat dir das niemand gesagt? Eine Stunde nach Mitternacht.«

Das war ja noch eine Ewigkeit bis dahin. Und überhaupt ...

»Warum heiraten wir nicht gleich?«

Er lachte, seine Augen zeigten einen warmen Glanz, bevor unverkennbar Leidenschaft darin aufflammte. »Ja, warum nicht? Ich liege dir zu Füßen. Wenn das so weiter geht, werde ich nie mehr die Oberhand über dich haben. «

»Ja«, sagte ich unverhofft nachdenklich, »so sollte es auch sein. Schließlich bin ich die zukünftige Königin.«

Vielleicht hatte er das nicht hören wollen, er verzog ein wenig die Miene, aber dann hellte sie sich wieder auf.

»Meine Königin.« Gerade senkten die Musiker ihre Instrumente, der Tanz war zu Ende. »Hör zu«, fuhr Duncan fort, »kümmere dich ein wenig um Cathal. Ich habe den Eindruck, es geht ihm heute nicht besonders gut. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«

Aufgeschreckt blickte ich mich um. Mein Vater saß nicht weit entfernt auf einem Sessel, neben sich eine ältere Verwandte, die heftig auf ihn einredete und dabei zu uns herüberstarrte. Ich mochte diese Frau nicht, sie sprach nie mit mir, nur über meinen Kopf hinweg, selbst heute, anscheinend hatte sie nichts begriffen.

Ein besonderes Unwohlsein ließ Cathal nicht erkennen, da war ich mir einigermaßen sicher.

»Aber Vater unterhält sich gerade sehr gut mit Cousine Sheila, da möchte ich nicht stören«, wandte ich ein und drehte mich zu Duncan um. Zu meiner Verblüffung hatte er mich allein gelassen. Das hieß, er hatte sich einige Schritte entfernt und wurde gerade von Cormac angesprochen. Vielleicht war noch ein Detail der Verlobungszeremonie zu regeln.

Ich winkte einen Diener herbei, der Sekt in hohen Gläsern herumreichte, nahm mir ein Glas und trank durstig.

Ein Schluck von dem prickelnden Zeug perlte noch in meinem Glas, als ich auf die Terrasse hinaustrat. Kleine bunte Lampions hingen in den Bäumen und Paare ergingen sich auf dem Rasen oder promenierten um den stillen Brunnen herum. Duncan erschien am anderen Ende der Terrasse, schaute sich kurz um und ging an der Seite des Hauses davon.

Also hatte die Nachricht Cormacs doch nichts mit der Verlobung zu tun. Was konnte es dann sein, was Duncan von mir wegführte? Ich beschloss, ihm nachzugehen. Bald war mir klar, dass er zu den Ställen wollte, und da fiel mir Gort ein. Ob er noch auf mich wartete?

Im Tor zum Stallhof blieb ich erst einmal stehen. Der Hof lag verlassen, voll beschienen vom Licht der Sterne, die über mir am Himmel glänzten, und einer Gaslaterne.

Am Rand des Hofs standen einige Kutschen, die vor dem Schloss keinen Platz mehr gefunden hatten. Die Kutscher hatten sich in die Gesindeküche verdrückt, die Pferde dösten im Stehen.

Wo war Duncan geblieben?

Beiden zugleich, Gort und Duncan, wäre ich lieber nicht begegnet. Vielleicht sollte ich mich für einen von ihnen entscheiden.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass Gort im Hof herumlungerte, aber vielleicht saß er hinter den Ställen auf einer Bank vor einem der kleinen Häuser, in denen die Bediensteten wohnten. Zweifelnd beäugte ich die grobe Pflasterung. Die Steine würden mir die Absätze ruinieren, es würde das Vernünftigste sein umzukehren. Ich entschied mich für die zweitbeste Lösung, streifte die Schuhe ab, nahm sie in eine Hand und raffte mit der anderen den Rock, soweit das überhaupt möglich war. Vermutlich hätte ich es mir nicht verzeihen können, wenn Gort wirklich wie versprochen bis Mitternacht auf mich gewartet hätte und ich wäre nicht erschienen. Wie lange war es noch bis dahin? Auf Zehenspitzen trippelte ich quer über den Hof und tauchte in einen Durchgang zwischen den Stallgebäuden ein.

Der Klang von Stimmen ließ mich zusammenfahren.

Es waren erregte Stimmen. Dann folgte ein Schrei. Ein angstvoller Schrei, der abrupt endete, noch einmal ansetzte, ein Schmerzens- und Entsetzensschrei, in den sich ein tiefes kehliges Knurren mischte.

Mir wurde schlecht, mir wurde schwindelig, schwer atmend drückte ich mich an die Wand. Was sollte ich tun? Mein Instinkt sagte mir »lauf weg!«, aber ich schob mich ein Stück weiter vor bis zur Ecke. Ich konnte gar nicht anders, ich musste sehen, was vorging.

O Gott, lass es nicht Duncan sein, der so schreit, flehte ich stumm.

Nein, Duncan war es nicht, aber ...

Nur wenige Meter von mir entfernt tobte ein grauenvoller Kampf.

Ich erkannte Gort, ganz sicher war das Gort, ich konnte ja sein Gesicht sehen. Sein Kopf hing merkwürdig schief und eine Kreatur hatte sich in seinen Hals verbissen. Riss ihn auf.

Blut spritzte.

Mein Herz gefror. Es stockte, hörte zu schlagen auf, wurde zu einem harten, steinernen Klumpen in meiner Brust. Ein unsägliches Grauen bannte mich. So war ich gezwungen zuschauen.

Der Rücken der Kreatur, die sich in Gort verbissen hatte und die ich nur von hinten sah, krümmte sich, er wuchs höher, Stoff riss und klaffte, ein haariger Rücken mit knochigem hohen Rist wölbte sich über das Opfer, das sich schreiend und gurgelnd wehrte. Schmatzende Laute, Knurren.

Panisch presste ich die Hand auf den Mund, um nicht zu schreien. Bloß nicht schreien! Aber ich musste Gort doch helfen, ich konnte nicht zusehen, wie er ...

Mein Verstand weigerte sich zu begreifen, was da vor sich ging.

Wo war Duncan? Er konnte nicht weit sein, und er würde sich der furchtbaren Kreatur zum Kampf stellen. Nur Duncan könnte Gort noch retten, dachte ich. Ich wollte nach ihm schreien, aber es drang kein Laut aus meiner Kehle.

Dafür stieg mir etwas Saures in den Mund, ich begann zu würgen.

Die Kreatur hob den Kopf. Lauschte.

Gleich würde sie sich umdrehen.

Ich setzte einen Fuß zurück.

Gort zuckte, sein Körper zuckte, als ob er immer noch lebte. Und wieder packte das Ungeheuer zu und verbiss sich in ihn.

Ich taumelte um die Ecke des Stalles und begann zu rennen. Rannte, rannte, rannte, einen Wirbel im Kopf, während ich lautlos schrie und schrie.

Das Schreien in mir wollte gar nicht mehr aufhören.

Im Garten war kein Mensch. Die Lampions schaukelten wie verloren an ihren dünnen Drähten, die meisten waren erloschen. Keine Musik, kein Lachen, nichts, nur Öde.

Jetzt hatte ich wirklich das Gefühl, den Verstand zu verlieren.

Außer mir taumelte ich in den Ballsaal, fast hatte ich erwartet, auch hier niemanden anzutreffen. Aber der Saal war voller Leute und nichts war in Ordnung.

Im Saal herrschten Auflösung und Chaos. Ein Gedränge und Geschiebe und Geraune, in das ich hineintauchte, auf der Suche nach jemandem, der mir sagen konnte, was los war. Ich trat auf Glasscherben, achtete aber nicht weiter auf den Schmerz in der Fußsohle, ich wurde angerempelt und starrte wie blicklos einen Mann an, der hastig eine Entschuldigung stammelte und sich gleich von mir abwandte. Dann hörte ich Sir Cormacs laute Stimme.

»Treten Sie zurück, treten Sie alle zurück, verlassen Sie den Saal.«

Gott, war ich froh, dass wenigsten einer versuchte, die unübersichtliche Lage in den Griff zu bekommen. Wie war die Kunde von der Bestie so rasch hierher gedrungen? Die Leute nach draußen zu schicken, erschien mir aber keine gute Idee. Ich war versucht, zu schreien: »Bleibt hier, draußen lauert die Gefahr!« Aber noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, entstand ein Geschiebe zu den Türen und in der Mitte des Raumes tat sich eine Lücke auf. Einige der Gäste hatten mich bemerkt und machten mir Platz, es gelang mir, mich durchzudrängen. Dann sah ich, was das Chaos ausgelöst hatte.

Auf dem blanken Parkett, lang hingestreckt, die Augen geschlossen, lag mein Vater.

Ich wollte neben ihm auf die Knie sinken, aber Cormac fasste mich am Arm. »Nein, nicht anfassen! Treten Sie beiseite, ich werde den König hinauf in sein Zimmer tragen lassen.«

Endlich fiel die panische Stummheit von mir ab. »Was ist mit meinem Vater passiert?«, schrie ich und schüttelte die Hand ab.

»Bitte, bewahren Sie Fassung! Ihre Erregung ändert nichts.« Er schob mich aus dem Weg.

Ich taumelte rückwärts und konnte nichts dagegen tun, dass sich wieder ein dichter Ring von Verwandten um meinen Vater bildete, der mich ausschloss. So zog ich mich bis zur Wand zurück und wartete, bis sich der Saal fast geleert hatte. Unter den verbliebenen Gästen waren nur noch wenige Fremde und diese warfen mir ängstliche Blicke zu, bevor auch sie von den Dienern hinausgedrängt wurden.

Inzwischen waren zwei kräftige Männer mit einer Bahre eingetreten, auf die Cathal behutsam gebettet wurde. Ich wollte wieder zu ihm und mich den Männern anschließen, die ihn zur Treppe trugen, aber Cormac hielt mich erneut zurück.

»Nicht jetzt. Ich habe nach einem Arzt geschickt, es kann nicht allzu lange dauern, bis er eintrifft, es ist ja nicht weit bis Dún Èideann. Und bis er sich um den Kranken gekümmert hat, sollte man diesen in Ruhe lassen. Ganz ohne Erfahrung sind wir hier auch nicht. Sobald Ihr Vater nach Ihnen verlangt, lasse ich Sie rufen. Aber jetzt ist er nicht bei Bewusstsein, Sie können nichts für ihn tun, ihm nicht einmal Trost spenden. Ruhen Sie sich aus, Sie zittern ja, der Vorfall hat Sie mitgenommen.«

Ich merkte, dass ich tatsächlich zitterte, und es ärgerte mich, dass ich mich so wenig unter Kontrolle hatte.

»Geh hinauf in dein Zimmer.« Lord Dubhglais war neben mich getreten. »Dort wird sich Eadha um dich kümmern.«

»Aber ...«

Dubhglais hatte schon immer ein tiefes Unbehagen in mir ausgelöst. Das lag nicht nur an seinem strengen, düsteren Auftreten, dem kalten Blick und seiner Unerbittlichkeit bei Verfehlungen gegen moralische Grundsätze, die für mich etwas Unmenschliches an sich hatten. Es war mehr als das, und es befand sich leider außerhalb meiner bewussten Wahrnehmung, so kam ich nicht dagegen an. Es musste etwas mit den unzugänglichen Bereichen meiner Erinnerungen zu tun haben. Für Dubhglais zählte nur ein Leben voller Pflichten, die dazu dienten, die staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Ohne Ordnung drohte das Chaos, drohten Hunger, Not und Bürgerkrieg. Anscheinend gab es neben Cathal und Duncan nur wenige, die seinen hohen Ansprüchen genügten. Ich genügte bisher nicht, das hatte mir seine Bemerkung am Nachmittag in der Bibliothek wieder einmal bewiesen.

Um mir zu bedeuten, dass jeder Einwand zwecklos sei, und ich gar nicht weiterzusprechen brauchte, legte er mir gebieterisch die Hand auf den Arm. In einem außerordentlichen inneren Kampf starrte ich die Hand an, während eine Stimme in mir mahnte, zu gehorchen und zu tun, was man mir sagte, das sei meine Pflicht.

Pflicht, Pflicht, Pflicht, hallte es in meinem überstrapazierten Kopf nach. Ich hatte gar keine Kraft mehr, mich zu rühren, daher starrte ich so lange die Hand an, bis Dubhglais sie zurücknahm.

»Aber ich ziehe es vor, in die Bibliothek zu gehen«, sagte ich erledigt und ohne ihn anzusehen. Ich würde die Treppe in den ersten Stock allein gar nicht schaffen. Mit einer fahrigen Geste winkte ich einen Diener herbei. »Bring mir eine Kanne starken, schwarzen Kaffee in die Bibliothek«, befahl ich ihm und wandte mich wie eine Traumwandlerin wieder an Dubhglais und Cormac. »Wo ist Duncan? Müsste er nicht hier sein? Ich bin ihm vorhin nachgegangen, bis ...« Ich stockte, die grauenvollen Bilder von Gort und der Kreatur holten mich ein. Gepeinigt schloss ich kurz die Augen. »Aber ich habe ihn nicht gefunden. Bitte, sagt ihm, dass ich auf ihn warte.«

Für Gort kam jetzt sicher jede Hilfe zu spät.

Dubhglais und Cormac sahen sich über meinen Kopf hinweg an, und auf einmal merkte ich, dass ich meine Schuhe immer noch in der Hand hielt. Cormac senkte den Blick, bis er auf die Schuhe fiel.

»Sie waren auf einmal verschwunden«, sagte er gedehnt. »Ich habe Sie im Auftrag Ihres Vaters gesucht, kurz bevor er diesen bedauerlichen Schwächeanfall hatte.«

Also ein Schwächeanfall. Das klang nicht nach unmittelbarer Lebensgefahr. Aber mein Vater war alt und schon länger krank.

Wie lange war ich draußen gewesen? Warum hatte ich nicht auf Duncan gehört und mich um Cathal gekümmert? Das musste ich mir nun vorwerfen. Und wenn ich hier geblieben wäre, hätte ich nicht gesehen, wie die Bestie Gort ...

»Wo warst du?«, ergänzte Dubhglais. »Es ist nicht höflich von dir, einen Ball zu verlassen, der dir zu Ehren gegeben wird.« Da war sie wieder, die unvermeidliche Rüge und sie rieb mehr Salz in meine Wunden, als sich die alte Fledermaus Dubhglais vorstellen konnte. Aber das war nicht alles.

Obwohl ich meist nicht viel von den Vorgängen um mich herum mitbekam, merkte ich die Spannung zwischen den Männern, sie war beinahe mit Händen zu greifen. Aber vielleicht lag es nur an meinen überreizten Nerven, dass ich Gefahr spürte. Hastig überlegte ich mir eine Antwort.

»Auf der Terrasse und über den Rasen bis zum Brunnen, dann habe ich aufgegeben und bin zurückgegangen. Ich habe mir den Fuß verstaucht, und nun bin ich auch noch in Glas getreten.« Wie zum Beweis machte ich einige Humpelschritte, die mich von den Männern wegführten. »Und bitte, Sir Cormac«, ich wandte mich noch einmal um, »Lassen Sie mich sofort rufen, wenn mein Vater nach mir verlangt. Bis dahin werde ich in der Bibliothek bleiben.«

Über das Parkett zog sich dort, wo ich hergelaufen war, eine schwache Blutspur. Keiner der Männer achtete noch auf mich, sie starrten gebannt auf das Blut. Wenn sie das schon aufwühlte, wie hätten sie reagiert, wenn ich von der Bestie erzählt hätte?

Kapitel 7

Lynn

Sobald ich in der Bibliothek allein war, brach ich in Tränen aus. Schluchzend krümmte ich mich in einem der großen Ledersessel zusammen und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Mein ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Ab und zu fiel mir ein, dass ich nicht untätig hier herumsitzen durfte, aber dann übermannte mich der nächste Anfall, gemischt mit Entsetzen, und machte aus mir ein jammerndes Wrack. Wenn es darauf ankam, war ich zu nichts zu gebrauchen.

Fast hätte ich das zaghafte Klopfen an der Tür überhört, es wiederholte sich und endlich reagierte ich. Lass es Duncan sein, bitte, lass es Duncan sein, flehte ich im Stillen und setzte mich auf. Oder hatte Cormac Eadha hergeschickt? Eadha würde mich auszanken, weil ich mich hier verkrochen hatte, und versuchen, mich unverzüglich hinauf in mein Zimmer zu scheuchen. Fast sehnte ich mich nach ihrer derben Fürsorge. Nur, Eadha würde nicht klopfen, sie würde einfach hereintrampeln.

Hastig wischte ich mir das tränennasse Gesicht ab und rief einigermaßen beherrscht: »Herein.«

Zögernd trat ein Bediensteter mit einem Tablett ein und warf mir einen mitleidigen Blick zu. Er musste mich von draußen weinen gehört haben.

Ich hatte den bestellten Kaffee völlig vergessen oder war davon ausgegangen, dass niemand meine Anweisung ernst nahm.

»Bitte!« Ich wies auf ein niedriges Tischchen. »Stell ihn dort ab.« Meine Kehle war so rau vom Weinen, dass ich nur zu krächzen vermochte.

Der Diener, ein älterer Mann mit einer großen Hakennase, nickte stumm. Ab und zu hatte ich ihn in einem seltsam staksigen, ruckenden Gang über die Flure gehen sehen, bei Dämmerlicht wirkte er auf mich immer wie eine Kreuzung aus Storch und Geier. Ein komischer Vogel.

Er beließ es nicht dabei, das Tablett abzustellen, sondern servierte umständlich. Endlich hatte er eine Tasse aus dünnem Porzellan gefüllt und ein Schälchen mit Zucker, einen Silberlöffel und ein Kännchen mit Sahne zu seiner eigenen Zufriedenheit zurechtgerückt.

»Wir fühlen alle mit Ihnen, es ist ein Unglück, dass Ihr zauberhaftes Fest so endet«, nuschelte er verlegen und vermied es dabei, mich direkt anzusehen. Er wollte mich trösten und suchte sichtlich nach den passenden Worten.

»Ich danke dir für deine Anteilnahme«, entgegnete ich gedämpft und straffte mich ein wenig. Es war mein Kummer, nicht seiner.

Verständnisvoll nickend wandte er sich zum Gehen.

»Warte«, rief ich hastig, »hast du Lord Duncan gesehen? Ich würde ihn gern sprechen.«

»Ich habe gehört, dass er oben beim König ist. Sobald ich ihn sehe, werde ich ihm Ihre Botschaft ausrichten.« Er verneigte sich und verließ nun endgültig den Raum.

Dankbar trank ich den heißen Kaffee. Obwohl er recht bitter schmeckte – ich verzichtete auf den Zucker und die Sahne –, schenkte ich mir nach. Allmählich entfaltete der ungewohnte Trank seine belebende Wirkung und ich merkte, wie ich nach all den Schrecken ein wenig zu mir kam. Ich konnte wieder besser denken. Aber ich steckte in Schwierigkeiten und wusste keine Lösung dafür.

Noch wartete ich auf Duncan. Ich brannte darauf, ihm von Gort zu erzählen und von der Bestie, die draußen herumstreifte. Immer wieder kehrten meine Gedanken zwanghaft zu dieser Albtraumkreatur zurück. Oder sollte ich Dubhglais und Cormac vor ihr warnen? Wie groß standen die Chancen, dass die Bestie sich ein neues Opfer suchte? Wir hatten das Haus voller Leute, da hatte sie die Auswahl.

Duncan kam nicht, die Zeit schlich dahin. Wahrscheinlich hatte er Wichtigeres zu tun, als sich um mich zu kümmern oder mein Vater brauchte ihn dringender.

Halb war ich schon aufgestanden, ließ mich dann aber wieder zurücksinken, erneut überkam mich ein grenzenloser Jammer, weil ich an Gort denken musste.

Wieder versank ich in tiefste Traurigkeit und Entsetzen, wieder musste ich an Gorts Ende denken, an das, was ich gesehen und gehört hatte. All diese grauenvollen Schreie und das Blut. Niemand würde mir das Erlebte glauben, ging mir auf einmal auf. Verzweifelt griff ich mir an die Schläfen, massierte sie und hatte wieder einmal das Gefühl, nichts zu begreifen und in eine seltsame Verwirrung zu fallen, in einer Welt, in der nichts stimmte.

Doch eins wenigstens stand fest:

Mein Vater war schwerkrank, ich hatte ihn am Boden liegen gesehen, mit Dubhglais und dem Schleicher Cormac als Zeugen. Ich erhob mich mit der Absicht, mich an diese eine unbezweifelbare Tatsache zu klammern wie an einen Rettungsanker, immer in Sorge, dass die dünn gescheuerte Kette reißen könnte.

Aber wie krank war Cathal? Ich würde nicht länger warten, bis mir jemand Bescheid gab. Es war an der Zeit, selbst herausfinden, wie es um ihn stand.

Ich hörte Schritte draußen vor der Tür, wartete aber nicht, bis jemand klopfte. Niemand sollte mir in die Quere kommen oder mich von meinem Plan abbringen. Ich hatte im vordersten von drei Räumen gesessen, aus denen die Bibliothek bestand. Die beiden ersten, repräsentativeren, mit den hohen, eingebauten Bücherregalen aus golden schimmerndem Holz trennte ein Durchgang vom hintersten, in dem zwei rosa Marmorsäulen eng zusammen standen. Bevor sich jemand blicken ließ, schob ich mich zwischen den Säulen hindurch in den letzten Raum und gelangte in das anschließende Schreibzimmer durch eine Tapetentür, die ich hinter mir zuzog.

Über eine Nebentreppe stieg ich ein Stockwerk höher und lief in den Seitenflügel – einen der ältesten Teile des Schlosses –, der allein den Gemächern Cathals vorbehalten war.

Als ich Stimmen hörte, versteckte ich mich in einer Wäschekammer und kam erst wieder hervor, als es still war. Gleich darauf klinkte ich behutsam die Tür zum Schlafzimmer meines Vaters auf.

Der riesige Raum lag im sanften Dämmerlicht von zwei oder drei Lampen, von denen nur eine direkt am Bett stand. Sofort fiel mir der Geruch auf. Er kam vom Bett und er verstärkte sich, sobald ich mich näherte.

Cathal schlief, zumindest hielt er die Augen geschlossen. Er trug nur noch ein langes Hemd, das über der Brust klaffte, eine Decke war nachlässig über seine Beine gezogen, oder er hatte sie heruntergestreift. Ich beugte mich über ihn und fuhr mit einem Schreckenslaut zurück.

Seine magere Brust war von großen Geschwüren bedeckt, die sich den Hals hinauf fast bis zum Kinn zogen: große dunkelrote Beulen, aus denen Eiter hervorquoll. Von ihnen musste dieser widerlich faulige Geruch ausgehen, der mir den Magen umdrehte. Mein Vater war kaum wiederzukennen, er wirkte völlig entstellt.

Vor Schwäche sank ich auf die Bettkante und schämte mich meiner Ahnungslosigkeit.

Wie lange hatte er diese Geschwüre schon? Wie gefährlich waren sie? Oder waren sie nur das äußerlich sichtbare Zeichen der eigentlichen, mir immer noch unbekannten Krankheit? Und ich hatte ihn am Nachmittag umarmt! Kein Wunder, dass er zusammengezuckt war. Er musste furchtbare Schmerzen leiden, davon war ich überzeugt. Wo war dieser Arzt, nach dem Cormac geschickt hatte? Dieses Kriechtier Cormac hätte den Arzt längst herbeordern müssen, schon vor dem Ball.

Der ganze Ball kam mir nun wie eine Farce vor.

Würde Cathal sterben?

Ich merkte, wie mir schon wieder heiße Tränen über die Wangen liefen.

Da schaute er mich plötzlich an. Seine Augen wirkten fremd.

»Vater, es tut mir so leid«, schluchzte ich auf.

»Geh weg!« Er zog das Hemd über der Brust zusammen.

»Kann ich etwas für dich tun? Sag es mir, sag mir, was ich für dich tun kann.«

»Nichts.«

»Vater, bitte! Ich ertrage das alles nicht mehr, es zerreißt mich.« Alle Schrecken des Tages lebten auf, überfielen mich, vermischten sich und ehe ich mir darüber im Klaren war, was ich tat, begann ich meinem kranken, leidenden Vater von Gort und der Bestie zu erzählen. Wie konnte ich so etwas tun? Aber ich redete und redete, immer wieder von Schluchzern geschüttelt, während diese großen gelben, fiebrigen Augen unverwandt auf mich gerichtet waren. »Vater, ist das wirklich geschehen? Nein, nicht wahr? Wie konnte ich mir so etwas einbilden? Was ist mit mir? Warum geschieht so etwas mit mir? Warum habe ich diese Wahnvorstellungen?«

Es waren Wahnvorstellungen – kaum hatte ich davon erzählt, war es mir klar geworden.

Aber Gorts Schreie? Konnte man sich Schreie in dieser Intensität einbilden? Es musste eine logische Erklärung geben für das, was ich gesehen hatte.

Cathal zog die kurze Oberlippe zurück und große, hässliche, fleckige Zähne kamen zum Vorschein. Mühsam richtete er sich ein wenig auf.

Unwillkürlich fuhr ich zurück. Aber er griff nach meinem Handgelenk, und zog mich daran unerbittlich näher zu sich.

»Hast du’s jemandem außer mir erzählt?«

»Ich ... ich weiß nicht«, stammelte ich. Der Griff um mein Gelenk war eisenhart. »Nein, ich gl... glaube nicht.« In meinem Kopf drehte sich alles. Die Erinnerungen an die letzten zwei Stunden entglitten mir und richteten nur einen finsteren Wirrwarr in meinem Hirn an. Was hatte ich gesehen und was mir eingebildet? Und hatte ich mit jemandem geredet? Nicht ausführlich. »Ich hab mit Cormac und Dubhglais gesprochen. Ich hab ihnen gesagt, dass ich Duncan zu den Ställen gefolgt bin. Ich bin ihm gefolgt, das weiß ich genau, so genau wie ich hier sitze. Vater, ich mach mir solche Sorgen um ihn. Aber er ist zurück oder nicht? Du hast ihn doch gesehen, nicht wahr, hier, er war gerade noch bei dir?« Ich schrie ihn förmlich an.

Er schloss die Augen, stöhnte und riss sie wieder auf. Die Pupillen wirkten wie schwarze Schlitze. »Du musst das Schloss verlassen. Hörst du? In dieser Nacht noch. Sofort. Niemand darf dich sehen.«

Natürlich sprach er im Fieberwahn.

»Bitte«, sagte ich behutsam, »beruhige dich. Es ist alles in Ordnung, du bist krank, aber der Arzt muss jeden Augenblick hier sein. Ich lass dich nicht allein. Ich bleibe bei dir. Hast du große Schmerzen? Und verzeih, dass ich dich mit dieser grässlichen Geschichte belästigt habe.« Erst jetzt fiel mir auf, dass ich meine Schuhe mitgebracht hatte, ich hatte sie nicht wieder angezogen, sondern aufs Bett gelegt. Der eine Fuß schmerzte, es war ein dumpfes Pochen in der Sohle. »Wenn doch Duncan hier wäre«, murmelte ich, fragte mich aber, ob ich ihm berichten sollte, was ich Cathal erzählt hatte. Lieber nicht.

Stille breitete sich im Raum aus, nur das Gas in den Lampen zischte.

»Ich habe dich immer gemocht, Lynn, weißt du das?« Cathal strich mir behutsam über die Wange. »Du bist mir eine sehr liebe Tochter gewesen, so ohne Arg.«

Es klang nach Abschied, nach einem endgültigen Abschied. Das rüttelte mich wieder auf.

»Du darfst nicht sterben, Vater, ich werde für deine Heilung kämpfen und dafür sorgen, dass sich die besten Ärzte um dich kümmern.« Aber ich hatte doch ein Heilmittel dabei! Den Legenden nach das mächtigste, das jemals gefunden worden war. Oder verhielt es sich mit dieser Wunderwirkung wie mit dem Stein der Weisen, den alle kannten, den aber noch nie jemand in der Hand gehalten hatte? Egal, es lohnte auf alle Fälle einen Versuch.

Ich beugte mich vor, schob eine Hand in mein Mieder und zog den Mondstein heraus. »Den hat mir Duncan geschenkt, mit einer Rubinkette. Vater, es ist ein Mondstein, heißt es nicht, er verleiht Gesundheit und langes Leben?«

Ein seltsamer Laut ließ mich aufschauen. Cathal lachte, nur klang es eher nach heftigem Keuchen. Das Hemd klaffte wieder auf, und ich sah, wie sich seine Brust unter den Erschütterungen stoßweise zusammenzog und der Eiter floss. Schaudernd wich ich zurück.

»Wenn mir dein Mondstein helfen könnte, hätte er das längst getan, mein Liebes«, sagte er schließlich röchelnd. »Du hast ihn mir schon einmal angeboten.«

»Wann?« Ich konnte mir selbst nicht mehr trauen, weder meinem Gedächtnis noch meiner Wahrnehmung. Doch – ich erinnerte mich. Es war in der Bibliothek gewesen, am Nachmittag, erst ein paar Stunden zuvor. Wie hatte ich das vergessen können! Wieder krampfte sich mein Magen zusammen.

»Das ist nicht wichtig.« Seine gelben Augen waren mit einem undeutbaren Ausdruck auf mein Gesicht geheftet und wanderten dann höher. Was starrte er meinen Kopf so an? »Aber es ist sehr großmütig von dir, dass du mir den Stein geben willst«, fuhr Cathal schleppend fort. »Behalte ihn, steck ihn wieder weg, dir wird er vielleicht mehr nützen als mir. Und – nimm dies an dich.«

Das Bett hatte ein reichlich mit geschnitzten Ornamenten verziertes hohes Kopfteil. Cathal langte hinauf, drehte an einem der Ornamente, das einer Distel glich. Es klappte auf und wieder zu und gleich darauf hielt er mir einen Schlüssel hin.

»Steck ihn zu deinem Mondstein. Hüte beides gut. Und jetzt verschwinde. Geh!«

Es war, als hätte er mich in die Magengrube geboxt.

»Das meinst du doch nicht ernst.«

»Sie kommen zurück, ich kann sie hören.« Er hatte den Kopf gedreht, spitz und groß lugte ein Ohr zwischen struppigem grauem Haar hervor.

»Wer? Ich höre nichts.« Aber dann hörte ich es doch. Schritte, die sich näherten.

»Das wird Duncan sein«, sagte ich dankbar aufseufzend.

»Geh! Ich befehle es dir.«

Den Schlüssel und den Stein an meine Brust gepresst, blieb ich sitzen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass mich Cathal, kaum dass er sich als zärtlicher, wohlwollender Vater entpuppt hatte, einfach wegschickte.

»Nein, ich werde nicht gehen, ich bleibe bei dir, du brauchst gar nichts mehr zu sagen, mein Entschluss steht fest.« Ich stockte. »Duncan wird uns helfen«, setzte ich hinzu.

»Nein«, presste mein Vater hervor. »Lynn, bitte, ich flehe dich an. Geh!« Er stemmte sich mühsam auf die Ellbogen.

Die Schritte hielten vor der Tür.

»Duncan wird dir helfen«, entgegnete ich wieder, »dessen bin ich sicher. Er und ich werden dir beistehen, vertrau uns.«

»Nein. Ich will nicht, dass du in meinen Untergang hineingerissen wirst. Du musst mir gehorchen, hörst du.«

Ich wollte nicht hören.

»Vater, bitte!«

Mühsam stemmte er sich im Bett hoch. »Du musst mir gehorchen, versprich es.«

Was gab es da zu sagen? Die Gehorsamkeitsfalle klaffte weit und drohend vor mir auf.

Wut glomm in seinem Blick auf. »Versprich es!« Seine Stimme grollte.

»Du darfst dich nicht so aufregen!«

»Versprich es beim Heil deiner Seele

Es klang wie eine magische Formel, an die er selbst glaubte. Aber glaubte ich daran? Er sah mich so bitterlich flehend an, als würde von meinem Gehorsam sein Seelenheil abhängen.

»Ja, ja!«, sagte ich unter größtem Zwang und weinte hilflos.

»Flieh aus dem Schloss.« Eine Träne lief ihm über die Wange.

Ich blieb auf der Bettkante wie festgeleimt sitzen, noch immer willens, meinen Platz an seiner Seite gegen jeden zu verteidigen. Selbst gegen Duncan. Nicht einmal er hatte mir hier etwas vorzuschreiben. Wohin sollte ich auch fliehen? »Gibt es nichts, was dich retten kann?«

Cathal stöhnte auf, das Stöhnen kam tief aus seiner Brust. Draußen wurden Stimmen laut.

»Es muss etwas geben«, fuhr ich eindringlich fort.

Wie irre schaute er mich an, irre vor Angst und Entsetzen. Und je mehr ich erkannte, dass er sich tatsächlich zu Tode fürchtete, desto ruhiger wurde ich, aber es war eine seltsame Ruhe, sie kam mir nicht natürlich vor.

»Such den wahren König. Und nun beeil dich. Geh dort hinaus.« Er deutete auf eine schmale Tür neben dem Bett.

Ich langte nach den Schuhen, stopfte mir den Schlüssel und den Stein ins Mieder. »Den wahren König? Wer soll das sein?«, wisperte ich.

»Er ist der Einzige, der den Fluch von mir nehmen kann, falls ich noch lange genug lebe. Zu spät.« Seiner Brust entrang sich ein qualvolles Stöhnen.

Während langsam die Tür aufschwang, spürte ich die Hand meines Vaters, die mich mit erstaunlicher Kraft vom Bett schob. Ich hätte gern Näheres über den Fluch erfragt, aber das musste warten. Welcher Wahn auch immer meinen Vater befallen hatte, es war tatsächlich das Beste, ich gehorchte ihm. Ich huschte um das Bett herum, stieß die Nebentür auf und verschwand in dem schmalen Dienergang dahinter. Von diesem Gang aus wurden die Öfen beheizt und die Dienerschaft benutzte ihn, um möglichst unsichtbar ihren sonstigen Verpflichtungen nachzugehen. Ich lehnte mich gegen die Tür und wartete erst einmal ab. Die Tür war gepolstert, dennoch drang der Ton von erregten Stimmen bis zu mir. Nur zu verstehen war nichts, damit hatte ich nicht gerechnet.

Wer wagte es, mit Cathal so zu streiten? Ganz gleich, wie hinfällig er augenblicklich war, war er doch immer noch der König. Ich presste mein Ohr gegen die Polsterung. Im Gang roch es muffig, Spinnweben hingen an den Wänden. Die Decke befand sich nicht mehr als eine Handbreit über meinem Kopf und war rußgeschwärzt von den alten kleinen Öllampen, die ihn nur notdürftig erhellten. Die Enge machte mir zu schaffen. Nun meinte ich, Duncan zu hören. Durch den Klang seiner Stimme kam ich ein bisschen zur Besinnung. Was sollte das ganze Theater? Warum sollte ich mich vor ihm in diesem Gang verstecken?

»Wo ist sie?« Jetzt hörte ich ihn deutlich, er musste unmittelbar vor der Tür stehen. Ich fasste nach dem Riegel und war drauf und dran, die Tür zu öffnen. Aber da vernahm ich einen Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein tiefes heiseres Knurren, das mit einem Aufjaulen abbrach. Es war das Knurren der Bestie, die Gort überfallen hatte.

Wie durch dicken Nebel drang Duncans Stimme zu mir. »Hier liegt ihr Schuh!« Konnte ich mir seine Stimme einbilden? Wahrscheinlich, wie so vieles andere auch.

Allerdings hielt ich nur noch den rechten Schuh in der Hand. Den anderen musste ich verloren haben, als ich das Schlafzimmer verlassen hatte. Sicher lag er jetzt genau vor der Tür. Die Tür wurde mit einem Drehknopf geöffnet, der im Dienergang einen Schnappriegel bewegte. Gerade, als sich der Riegel hob, nahm ich den Schuh in beide Hände und verkantete den Absatz zwischen Riegel und Tür. Der Riegel klemmte nun. Etwas in mir hatte die Herrschaft über jede bewusste Überlegung gewonnen oder besser gesagt, ich brauchte Zeit zum Nachdenken so nötig wie einen Schluck Wasser in der Wüste. Da gab es vieles, über das ich mir Klarheit verschaffen musste.

Wieder das Knurren.

Ich begann, den Gang entlang zu laufen, immer weiter weg von der Tür. Meine weiten Seidenröcke erwiesen sich als äußerst unpraktisch. Fionas schlangenhautartiges Kleid wäre hier genau das Richtige gewesen, meins dagegen wischte an den Wänden entlang und fegte die ganzen Spinnweben herunter. Gerade zwängte ich mich durch eine der vielen Türen, die hinausführten, als ich ein Splittern und Bersten hörte. Hastig sah ich mich um. Ich war in einen luxuriösen, wenn auch lang nicht mehr benutzten Baderaum geraten. Aus einem goldgerahmten, von Spinnweben überzogenen Spiegel sah mir mein Bild entgegen, und ich stellte erstaunt fest, dass ich immer noch das Diadem trug. Es strahlte unwirklich in Weiß und Blau. Eigentlich kam es mir so vor, als würde mir jemand anders aus dem Spiegel entgegenblicken, jemand, der mir irgendwie ähnlich sah und dem ich schon mal unter netteren Umständen begegnet war. Die Gestalt im Spiegel schüttelte den Kopf und riet mir dann mit einer Kopfbewegung, meine Flucht fortzusetzen.

Ja, es stimmte, ich war auf der Flucht, aber hauptsächlich vor mir selbst und unzähligen Gespenstern, die der weiteren und der jüngsten Vergangenheit entsprungen waren.

Was hatte Cathal mit dem Fluch gemeint? Gab es Flüche, die etwas Schreckliches zu bewirken vermochten? Es hatte so geklungen, als glaubte mein Vater an den Fluch.

Von einem unbenutzten Schlafzimmer geriet ich in einen angrenzenden Salon. Nicht weit vom Ofen befand sich die Tür zu einem weiteren Gang, der allerdings so schmal war, dass ich mich nur noch seitwärts bewegen konnte. Mein Kleid blieb hängen, ich riss daran, ein Streifen Seide blieb zurück, als ich weiterhastete und um eine Ecke bog. Wie gut, dass ich mich so hervorragend hier auskannte. Aber dann verließ mich mein Glück. Die Tür, durch die ich in den Hauptflur gelangen wollte, war von außen abgeschlossen.

»Lynn! Hör auf mit dem albernen Versteckspiel«, rief Duncan heiser.

Mein Herz raste. Es musste doch alles noch gut werden, der Albtraum würde enden und die Gespenster vergehen, sobald er mich in die Arme schloss.

Ich würde darauf warten, dass er mich einholte. »Hier bin ich!«, rief ich halblaut.

Gleich würde er bei mir sein. Ich würde eine Menge zu erklären haben, aber ...

»Ich hänge fest!«, schrie er und fluchte. »Komm zurück, hilf mir.«

Wie gern wäre ich seiner Aufforderung gefolgt, aber ich konnte mich wieder einmal vor Schwäche nicht von der Stelle rühren. In hilflosem Zorn hämmerte ich gegen die Tür, an die ich mich gelehnt hatte.

Auf einmal gab die Tür nach, ich stürzte in den Flur, fing mich aber, sodass ich gerade noch vermeiden konnte, lang hinzufallen.

»Hoheit!« Der alte Diener, der mir den Kaffee gebracht hatte, stand vor mir, baff vor Staunen. »Wie kommen Sie in diesen Gang? Ich habe ein Klopfen gehört und aufgeschlossen, weil ich dachte ...« Er schüttelte den Vogelkopf. »Der Gang wird kaum noch benutzt, deshalb halten wir ihn verschlossen. Er ist zu unbequem.«

»Ich habe ihn als Abkürzung genommen«, antwortete ich hastig, »Lord Duncan ist mir gefolgt und hängt irgendwo fest. Bitte, befrei ihn.«

Der Diener – er hieß Cam-Shron, fiel mir ein – langte an mir vorbei und drückte die Tür leise ins Schloss.

Die Hand auf dem Schlüssel, sagte er tadelnd: »Hoheit, Sie sehen mich bekümmert. Wenn es etwas gibt, das ich für Sie tun kann, einen Botengang, eine Benachrichtigung, brauchen Sie es mir nur zu sagen.« Er stockte kurz und starrte mich an, als würde er nun erst meinen Aufzug richtig wahrnehmen. »Ihr Kleid, Hoheit, ihr wunderschönes Kleid!«

Es war ein wenig bizarr. Ich äugte an mir hinunter, fasste den Rock und sah all die Flecken, Risse und klebrigen Spinnweben, während das Knurren lauter und lauter wurde. Ich lachte hysterisch auf.

»Ja, nicht? Schade um das Kleid. Es hatte mir so gefallen.«

»Sie sollten sich umziehen und besser noch schlafen gehen«, sagte Cam-Shron gemessen, zeigte aber eine gewisse Anspannung in seinem alten, faltigen Gesicht.

Ich schüttelte den Kopf.

Jetzt war das Knurren ganz nah. Hatte ich es für eine kurze Zeit nicht mehr beachtet, so dröhnte es nun wieder laut in meinen Ohren.

»Ich sagte doch, Lord Duncan hängt im Gang fest.« Kämpfte Duncan mit der Bestie? Aber wie war sie in den Gang geraten?

»Keineswegs, er wird nicht mehr benutzt.«

»Aber ich bin doch gerade ...«

»Das war nur ein Versehen.«

Durch die Tür drang ein dumpfes, heiseres Knurren bis zu uns und sonst kein Laut, keine menschliche Stimme.

»Hörst du das nicht?«

»Immer dieser Schabernack!«, murmelte Cam-Shron angewidert. »Da hat einer von den jungen Herren einen Hund in den Gang gelassen, möchte wissen, wer das war. Die Hunde sollten nachts im Zwinger bleiben.« Er drehte sorgsam den Schlüssel im Schloss, als ginge er einer unerhört wichtigen Amtshandlung nach. »So, dann wäre das auch erledigt. Lassen Sie sich nicht aufhalten, Hoheit.«

An seiner Erklärung konnte etwas dran sein, wenn ich auch nicht völlig davon überzeugt war. Die Angst, die mir im Nacken saß, sagte etwas anderes, nur verstand ich nicht, was.

»Nein, ganz sicher nicht. Würdest du dich bitte um Lord Duncan bemühen und nachsehen, wo er steckt? Warum hast du abgeschlossen?«

Der alte Vogel hörte mir gar nicht richtig zu.

»Besser, ich geh von der anderen Seite hinein, wenn Sie erlauben«, nuschelte er und sah an mir vorbei den Flur entlang. »Ich möchte nicht, dass der Hund Sie anspringt. Das könnte sehr lästig werden.«

Das Knurren wurde lauter, geradezu beängstigend.

Duncan musste den Dienergang längst durch eine der vielen Türen verlassen haben. Praktisch in jedem Raum gab es eine.

»Komm mit.« Ich zerrte den Diener mit mir in Richtung Treppe, aber er schüttelte mich ab.

»Hoheit, das geht so nicht, bei allem Respekt. Ich muss doch nachsehen, da haben Sie ganz recht ...«

Ein gewaltiges Krachen ließ ihn verstummen. In mir herrschte nur noch der Fluchtinstinkt vor. Ich begann zu rennen.

Kapitel 8

Eadha

Ich wachte erst auf, als ich vom Stuhl fiel, sonst hätte ich sicher weitergeschlafen. Ich war eingenickt, während ich auf Lynn wartete. Zur Strafe kam ich so unglücklich auf dem Boden auf, dass ich mir die Schulter prellte. Und das war noch nicht alles. Der Schmerz setzte sich in meiner ganzen Seite fort, während ich mich stöhnend aufrappelte und zu verstehen versuchte, warum ich auf dem Stuhl eingeschlafen war. Das war mir noch nie passiert, es war unverzeihlich und es ärgerte mich. Allerdings sollte eine Frau meines Alters zu dieser Zeit in ihrem Bett liegen und schlafen.

Wie spät war es überhaupt? Mir die Schulter reibend, schleppte ich mich zum Fenster und verwünschte meine müden Knochen. Blinzelnd spähte ich nach draußen und klappte vor Verblüffung den Mund auf.

Draußen beleuchteten nur der Mond und die Sterne den verlassenen Schlossgarten. Wie war das möglich? Die Lampions in den Zweigen der Bäume waren erloschen und schaukelten wie geisterbleiche Totenköpfchen an ihren unsichtbaren Drähten. Totenköpfe! Warum musste ich an etwas so Gruseliges denken? Als ich das letzte Mal hinausgeschaut hatte, flanierten Festgäste zu zweit oder in kleinen Gruppen angeregt plaudernd über den Rasen, und Fetzen von Musik drangen aus dem Festsaal. Angestrengt lauschte ich. Keine Musik! Überhaupt kein Ton. Es war still, geradezu grabesstill, und leise Furcht kroch mir den Nacken hinauf. Ich riss das Fenster auf und beugte mich weit hinaus. Eine Eule schrie klagend in der Stille, der Laut ließ mich zurückfahren. Es war ein unheimlicher Ruf. Ein schlechtes Omen. Eulen kündeten Unheil an, das wusste ich. Hastig bekreuzigte ich mich. Bitte, Gott, lass Gort kein Unglück treffen, behüte ihn, behüte ihn, ich opfere alles, was ich besitze, wenn du ihn vor Schaden bewahrst. Was ging hier vor?

Ich mahnte mich zur Besonnenheit, schließlich hatte ich mich schon Schlimmerem stellen müssen als dem Anblick eines stillen Gartens ... Eines zu stillen Gartens. Aber es musste eine vernünftige Erklärung dafür geben. Natürlich: Es war längst mitten in der Nacht und ich hatte den ganzen Ball verschlafen. Eigentlich hatte ich mich auf die Galerie stehlen und von oben ein bisschen zuschauen wollen, aber dann überkam mich die Müdigkeit, und ich hatte mich wieder auf den bequemen Polsterstuhl gesetzt und die Beine auf einen Hocker gelegt. Und es gab natürlich auch eine Erklärung für meine große Müdigkeit. Lynn war in den letzten Tagen unruhiger und verdrehter als sonst gewesen, so etwas schaffte einen. Vor allem, wenn man wusste, was einem drohte, wenn man die Kontrolle über sie verlor.

Aber wo blieb das Mädchen?

Ich ging auf den Flur hinaus und horchte auf jeden Laut. Meine Ruhe verflog endgültig. Die Stille war aber auch zu seltsam. Die Leute konnten doch nicht alle auf einmal verschwunden sein. Wahrscheinlich waren die Gäste aus Dún Èideann abgereist und die anderen, die von weiter her gekommen waren, lagen in ihren Betten. Es musste noch später sein, als ich gedacht hatte. Weit nach Mitternacht.

Aber wo um Himmels Willen blieb dann Lynn? Ihr Bett sah unbenutzt aus. Gerade sechzehn geworden und schon setzte sie sich über alle Regeln hinweg. Na ja, sechzehn …, das glaubte sie. Ich würde sie ein paar Tage im Dunkeln einsperren müssen. Das würde mir Leid tun, aber es würde sie Gehorsam lehren, falls sie den nun völlig vergessen hatte.

Es konnte ihr doch nichts passiert sein? Das unheimliche Gespräch in der dunklen Kammer fiel mir ein. Nein, beruhigte ich mich, sie würden Lynn nichts tun, sie brauchten sie ja – als ihre Schattenkönigin.

Mich würden sie eines Tages nicht mehr brauchen. Und was dann? Ich wusste zu viel über ihre geheimen Machenschaften. Ich schauderte. Noch war es nicht so weit, ein paar Jahre blieben mir noch. Oder?

Die Schulter tat mir schon nicht mehr so weh. Nein, Lynn drohte keine Gefahr, nicht im Schloss. Aber sie wurde leichtsinnig und legte neuerdings eine gewisse Widerspenstigkeit an den Tag. Das war ungesund für sie – und gefährlich für mich.

Ich dachte daran, dass ich Gort noch fragen musste, warum er am Vortag mit ihr so lange ausgeritten und warum sie so verdreckt zurückgekehrt war. Sie sei vom Pferd gefallen? Ach was! Gort passte doch auf, er würde ihr niemals erlauben, zu waghalsig zu reiten. Aber es musste etwas vorgefallen sein! Was hatte Lynn mir verschwiegen? Auf einmal erschien es mir dringend, mit Gort zu sprechen. Lynn hatte ihn nicht einmal erwähnt, als sie vom Ausritt zurückgekehrt war, das hätte mich gleich stutzig machen müssen.

Die Stille im Haus machte mich noch wahnsinnig. Wahrscheinlich fing ich gleich an, mir alles Mögliche einzubilden. Und was den Ausritt betraf, konnte es genau so gut sein, dass Iogh mit Lynn ausgeritten war. Ich mochte den Burschen nicht, er hatte was Verschlagenes, Hinterhältiges und außerdem war er stinkfaul.

Gort hatte mit dem langen Ausbleiben Lynns und mit einem Sturz vom Pferd nichts zu tun. Und wenn doch?

Ich hielt die Ungewissheit nicht mehr aus. Ich musste ihn sehen, ihn sprechen, mich selbst davon überzeugen, dass es ihm gut ging und – dass er sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Oft genug hatte ich ihn ermahnt, sich immer an die Befehle zu halten.

Niemand würde mich bemerken, wenn ich mich zu dieser Stunde in seine Kammer schlich.

Als ich die große Treppe in die Eingangshalle beinahe erreicht hatte, kam mir einer der alten Diener entgegen, Cam-Shron.

Er hielt sich die rechte Wange, tastete sich mit der anderen Hand wie blind an der Wand entlang, blieb immer wieder stehen und lehnte sich an, als könnte er sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten. Ein alter Mann, völlig erledigt vom Dienst. Voller Unruhe wartete ich auf ihn. Das war doch nicht in Ordnung, dass er hier so spät herumgeisterte, ich würde ihn ermahnen, schonender mit sich umzugehen. Ich mochte den alten Cam. Sobald er mich erreicht hatte, bemerkte ich Blut, das zwischen den Fingern hervorquoll. Auch das noch! Er war lange genug im Dienst, um zu wissen, dass er nachts nicht blutend herumlaufen durfte.

Rasch trat ich ihm in den Weg, als ich erkannte, dass er sich wortlos an mir vorbeischieben wollte.

»Was hast du?«, fragte ich schroff.

Statt zu antworten, sah er mich nur verstört an.

»Cam! Was ist los? Wo ist Lynn? Hast du sie gesehen?«

Die Lampe, die den Flur erhellte, flackerte auf und erlosch. Wahrscheinlich eine Störung in der Gasleitung. Nun drang nur noch Licht durch das hohe Treppenfenster herein, außerhalb des Lichts tauchte der Flur in gespenstische Schatten. Ich schauderte. Im Dunkeln im Schloss herumzustreifen, war mehr als leichtsinnig.

Cam-Shron wollte sich an mir vorbeidrängen, ich hielt ihn fest.

»Wo ist Prinzessin Lynn? Ich mach mir solche Sorgen, sprich endlich mit mir.«

Langsam nahm Cam die Hand von der Wange. Vier hässliche Striemen, aus denen immer noch Blut quoll, zeichneten sich auf seiner Haut ab. Das Blut wirkte fast schwarz im Dämmerlicht.

Auf einmal schlotterten mir die Knie.

»Bist du verrückt? Du kannst doch nicht blutend hier herumlaufen.« Hastig zog ich ein Tuch aus der Tasche und wedelte damit Cam vor dem Gesicht herum. »Lass mich das abwischen, bevor noch einer das Blut riecht.«

Cam wich zurück.

»Cam! Bleib stehen! Und sag mir endlich, was los ist. Diese Stille ist zum Verrücktwerden.«

Von draußen erklang ein langgezogenes Heulen.

Wir fuhren beide zusammen und klammerten uns einen Moment wie verängstigte Kinder aneinander.

Bebend machte sich Cam wieder los und deutete hinter sich.

»Lord Duncan war in einem der Dienergänge eingesperrt, einem dieser engen, die wir eigentlich gar nicht mehr benutzen, weil man dort leicht steckenbleibt. Er war ... er war ... wütend. Er hat eine Tür eingeschlagen ... Ich konnte nichts tun.«

So ganz machte das keinen Sinn, was mir der alte Vogel erzählte. »Aber wieso ist er ... was hat er denn in diesem Dienergang gewollt?«

»Er war auf der Suche nach Prinzessin Lynn«, erklärte Cam überraschend. »Sie war auch im Gang, ich hab sie rausgelassen, der Gang war ja abgeschlossen. Wie gesagt, es ist einer von denen, die wir nicht mehr benutzen.«

Ich schüttelte ihn so heftig, dass er aufschrie. »Was hatte sie denn in diesem Gang zu suchen? Cam, jetzt rede nicht in Rätseln. Wo ist sie? Wo ist Lynn? Ist sie unten?«

Cam schüttelte den Kopf, nahm mir das Tuch ab, presste es an die Wange und schlurfte weiter den Flur entlang in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war. Er schien mir völlig durcheinander.

»Wo willst du denn hin? Du könntest mir ruhig antworten«, schimpfte ich und ging ihm zögernd nach.

»Ich hab ihm gesagt, sie ist die große Treppe runter, was sollte ich denn sonst sagen? Aber sie ist nicht die Treppe hinunter gelaufen, nicht die große jedenfalls«, murmelte Cam. Er ging unbeirrt weiter. Außer sich folgte ich ihm und hielt mich dicht hinter ihm, um sein Genuschel zu verstehen, er schien nur noch zu sich selbst zu sprechen.

»Wie lange noch, wie lange noch müssen wir das ertragen? Ist denn die ganze Welt verflucht? Ich bin zu alt, ich kann allein doch gar nichts ausrichten. Ist niemand mehr hier, der den Mut hat, diese Bestien zu bekämpfen?« Unversehens wurde die Stimme lauter.

Mich traf fast der Schlag. Dieser alte Dummkopf redete sich noch um Kopf und Kragen und ich war dabei. »Sei still!«, zischte ich aufgebracht.

Cam hatte niemanden mehr, um den er sich sorgen musste. Seine Frau und seine beiden Töchter waren umgekommen. Aber ich hatte meinen Gort und ich wollte nicht, dass dieser alte Narr das Schloss aufscheuchte. Nur wer den Kopf einzog, konnte in diesem Land überleben.

Einige Augenblicke später hatte Cam das Ende des Flurs erreicht und stellte sich an das schmale Fenster. Auf einmal straffte sich seine Gestalt.

»Da ist sie, Prinzessin Lynn.«

Ich drängte mich neben ihn. Von diesem Fenster aus konnte man über die Mauer schauen, die den Stallbezirk mit seinen niedrigen Gebäuden umgab. Quer über den Stallhof hinkte Lynn, ihr Kleid und das glitzernde Diadem waren deutlich im Mondlicht zu erkennen. Im nächsten Augenblick war sie zwischen den Gebäuden verschwunden.

»Was will sie da?«, fragte ich aufgebracht. »Wie kommt sie dazu, mitten in der Nacht das Haus zu verlassen? Und warum hinkt sie? Sie kann doch nicht«, ich stockte kurz, »jetzt zu Gort wollen?« Eine aberwitzige Idee. »Ich muss ihr nach.« Ich wandte mich vom Fenster ab.

Cam starrte noch hinaus und zuckte zusammen.

»Ich komm mit«, murmelte er auf einmal. »Sie hat die Dienertreppe benutzt.« Eilig kam er mir nach. »Warte Eadha, hier lang.« Er gab mir das Tuch zurück, und ich überlegte, ob er die Gestalt gesehen hatte, die im Torbogen zum Stallhof gerade aufgetaucht war, die ich aber wegen der Schatten nicht hatte erkennen können.

Kapitel 9

Lynn

Ich sah mich weder um, noch achtete ich auf Geräusche hinter mir. Wie gehetzt rannte ich einen der unteren Flure entlang und stieg schließlich durch ein Fenster der Bibliothek nach draußen. Über mir glänzten matt die Sterne, und der Vollmond stand nun am Himmel und warf sein Gespensterlicht in den Garten.

Vollmond! Eine gefährliche Zeit, immer wieder hatte Eadha mich davor gewarnt. Geh niemals bei Vollmond nach draußen! Geh nachts überhaupt nicht hinaus!

Dennoch lief ich ohne anzuhalten durch das vom Tau feuchte Gras und spürte ein bisschen Erleichterung. Der Schmerz in der Fußsohle ließ nach. Aber sobald ich den Stallhof mit seiner groben Pflasterung erreicht hatte, zwang er mich, vorsichtiger aufzutreten.

Alle Stalltüren waren geschlossen, von drinnen drang gedämpftes Wiehern heraus. Die Tiere waren unruhig, das musste am Vollmond liegen.

Neben dem Gebäude öffnete sich der Durchgang, von dem aus ich den Überfall auf Gort beobachtet hatte. Ich drückte mich an die Wand, denn ich konnte nicht weiter. Mein Herz schlug mir laut und polternd im Hals, als würde es gleich stehenbleiben.

Was machte ich überhaupt hier? Je länger ich darüber nachdachte, desto irrwitziger kam mir das ganze Gerenne vor. Ich nahm mir vor, zurückzugehen, sobald sich mein Herzschlag beruhigt hatte. Wenn ich an Eadhas Gesicht dachte, an ihre Vorwürfe und die unvermeidliche Strafe, die mich von ihr erwartete, hatte ich allerdings keine große Eile.

Ich schloss die Augen. Ich brauchte immer noch Zeit, um alles zu verstehen, was in den letzten zwölf Stunden geschehen war. Wie hatte der Irrsinn angefangen? Bevor ich dieser wichtigen Frage nachgehen konnte, meldete sich die Stimme meines Vaters, die ich jetzt gar nicht hören wollte. Aber sie war so hartnäckig wie Ohrensausen. Flieh aus dem Schloss, ich befehle es dir.

Um gegen die Stimme anzukommen, beschwor ich das letzte Bild von ihm herauf und mich überkamen das volle Grausen und der Ekel vor dieser Schreckgestalt, die mein Vater angenommen hatte.

Wie hatte ich auf ihn hören können?

Und wenn er jetzt schon tot war? Ein Weinkrampf schüttelte mich. Was immer ich machte, war verkehrt. Ich hatte meinen Vater allein gelassen, weil er es so wollte. Weil ich es ihm hatte versprechen müssen. Beim Heil meiner Seele. Um meine Seele hatte sich Cathal bisher nicht gesorgt, er hatte sie nie erwähnt. Warum also jetzt? Wie weit war ich an das Versprechen, das er mir abgepresst hatte, gebunden? Was mich besonders mitnahm, war die Tatsache, dass mein Gehorsam einem Verrat an Duncan gleichkam. Warum war ich nicht zu ihm gegangen, als er im Dienergang nach mir gerufen hatte? Ich wusste es nicht. Wenn ich wirklich gewollt hätte, wäre ich zu ihm gelangt, und wenn ich mir das Kleid hätte in Fetzen reißen müssen.

Was hatte mich von Duncan weggetrieben?

Ich stieß mich von der Wand ab und taumelte weiter.

Wenn ich keine Spur des Kampfes zwischen der Bestie und Gort fand, würde das ein Beweis sein, dass ich mir den Kampf und Gorts schrecklichen Tod eingebildet hatte.

Am Ende des Durchgangs bog ich um die Ecke.

Die Stelle, an der ich Gorts Überreste erwartet hatte, war leer. Nichts, aber auch gar nichts deutete auf einen tödlichen Kampf hin. Kein Blut. Vor allem kein Blut. Also doch eine Einbildung oder ein grässlicher Scherz. Wer war zu so einem Scherz in der Lage? Fiona? War ihr eine solche Inszenierung zuzutrauen, um mich als dummes, leicht zu verschreckendes Huhn bloßzustellen?

O ja!

Aber Fiona musste Helfer gehabt haben. Da fielen mir zwei meiner jüngeren Vettern ein, ich hatte sie auf dem Fest nur flüchtig begrüßt und sie hatten sich den ganzen Abend über auffällig gut benommen. Sie hatten weder versucht, mir in die Hacken zu treten, noch mir eine Ringelnatter in die Haare zu stecken oder mir Rotwein über das Kleid zu schütten, wenn gerade niemand auf uns achtete. Alles in allem war ihre Zurückhaltung verdächtig.

Die Bestie hatte einen Abendanzug getragen. Wer fiel denn auf eine Bestie im Abendanzug herein? Ich Schaf natürlich. Allerdings fragte ich mich, wie sie Gort dazu gebracht hatten, bei der Sache mitzumachen. Und wie hatten sie wissen können, wann ich aufkreuzte?

Im Ausspionieren und Beobachten waren sie erstklassig. Einer von ihnen musste mir nachgeschlichen und den anderen noch vor mir erreicht und ihm Bescheid gegeben haben, dass die Vorstellung beginnen konnte.

Ich hatte aber doch Blut spritzen sehen! Himbeer- oder Kirschsaft, sagte ich mir.

Es müsste eindeutige Spuren geben, dachte ich, noch nicht völlig überzeugt von meiner Scherz-Theorie. Ich begann den Schauplatz zu untersuchen, denn ich wollte mir Klarheit verschaffen.

Ich hatte recht. Da hatte jemand die Erde glattgescharrt, und dort schimmerte matt ein dunkler Fleck. Als Erstes nahm ich mir den Fleck vor. Mir fiel auf, dass er nicht nach Saft roch. Aber der Fleck konnte auch von gefärbtem Wasser herrühren. Nur Wasser sickerte rasch ein, Blut nicht, Blut war dicker als Wasser. Die Herkunft dieses Flecks blieb unklar, außerdem roch ich Blut, konnte mir diesen Geruch natürlich auch einbilden.

Es konnte Hühnerblut aus der Küche sein.

Am besten ging ich zu Gorts Unterkunft hinüber und sah nach, ob er dort war. Dann hätte ich Gewissheit, es sei denn, die Bande war auch darauf vorbe...

Da war etwas über den Boden geschleift worden und hatte eine breite Schleifspur hinterlassen.

Und etwas Weißes lag halb eingetreten hinter einem zerbrochenen Backstein, der im Mondlicht einen Schatten darauf warf.

Ich bückte mich danach und grub etwas aus der Erde, das in ein Tüchlein eingewickelt war. Bebend vor Ungeduld zerrte ich den Fetzen auseinander und enthüllte eine winzige, kunstvoll geschnitzte Distelblüte. Genau die Art Geschenk, die Gort zuzutrauen war, ich kannte seine Geschicklichkeit im Umgang mit Schnitzmessern. Und er hatte mein Geschenk in ein Tuch gewickelt gehabt, das hatte ich gesehen. Falls man ihn wirklich dazu gebracht hatte, bei einer so schändlichen Inszenierung für mich mitzumachen, hätte er doch niemals das Geschenk hier im Dreck liegen lassen.

Ich spürte einen furchtbaren Druck auf der Brust. Das feine Tuch war blutbesudelt, auf einmal war ich mir sicher, dass die Flecken von seinem Blut stammten.

Ich ließ das Tuch fallen und behielt nur die Distelblüte.

Kälte kroch mir in die Glieder, eine Kälte, die wenig mit der Temperatur hier draußen zu tun hatte.

Ein Hund heulte. Der Hundezwinger lag nicht in der Richtung, aus der das Heulen kam, und es erinnerte mich an Cam-Shrons Bemerkung über den Hund, den jemand in den Dienergang gelassen hatte. Ich bewegte mich weg von dem Heulen, schleppte mich quer über den Gesindehof und klinkte das Gatter auf, das von dort auf eine Obstwiese führte. Kühe lagen im Gras unter den Bäumen, ich sah ihre dunklen Leiber, hörte, wie sie sich träge bewegten. Abrupt stand eine der Kühe auf, als das Heulen wieder einsetzte. Die Kuh muhte laut.

Auch die anderen Tiere hatte Angst erfasst, eins nach dem anderen kamen sie auf die Beine.

Ich rannte schneller. Einmal trat ich in einen Kuhfladen, hinkte zwei Schritte und rannte weiter. Jetzt trieb Angst mich an, meine Gedanken setzten aus, das Heulen folgte mir, kam näher und näher, im Laufen schlug mein Herz wie wild in der Brust.

Kapitel 10

Eadha

Wir hatten den Stallhof erreicht, Cam und ich stützten uns gegenseitig und klammerten uns immer wieder aneinander, wenn das Heulen zu hören war. Ein Heulen, das uns beide vor Angst schlottern ließ. Trotzdem gingen wir weiter.

Die Ställe waren alle verschlossen, keine Seele zeigte sich.

»Was sie hier bloß wollte, und wohin sie wohl verschwunden ist?«, nuschelte ich beklommen und strebte weiter auf den Durchgang zu, der zum Gesindehof führte.

Cam schüttelte immer wieder den Kopf, als überraschte ihn sein eigener Mut, sich zu dieser Stunde aus dem Haus getraut zu haben. Beide wussten wir um das Risiko, darüber brauchten wir uns nicht zu verständigen. Das Heulen entfernte sich, das war fast schon ein Grund für eine gewisse Erleichterung.

Ich ließ den Blick über den Dienerhof schweifen. Wie im vorderen, dem Stallhof, regte sich nichts, niemand war zu sehen, der Hof lag still im Mondlicht da. Nur aus den Ställen hinter uns drang gedämpftes Wiehern. »Was ist in sie gefahren?«, fragte ich aufgebracht. Allmählich machte sich Ärger breit. »Was hat Lynn sich bloß dabei gedacht, uns diesen Schrecken einzujagen? Cam, was meinst du?«

Cam hob etwas vom Boden auf, etwas Weißes und betrachtete es eingehend, während er es so hielt, dass das volle Mondlicht darauf fiel.

»Was hast du da?«

Manches Unheil teilt sich durch Kleinigkeiten mit, durch eine Geste, eine Haltung. Manchmal genügt ein Laut. Während ich auf Cam-Shron zuging, um zu sehen, was er gefunden hatte, bemächtigte sich mir eine Gewissheit, die mir wie Blei in die Glieder fuhr.

Stumm hielt mir Cam ein Tuch hin. Blutflecken, eindeutig Blutflecken. Und in einer Ecke ein Buchstabe. Ein G. Ich hatte das Monogramm selbst hineingestickt. »Das ist Gorts Tuch. Gort ist der Stallbursche, der mit Lynn ...«

»Ich weiß, wer er ist«, schnitt mir Cam das Wort ab. Er hatte sich wieder abgewandt und untersuchte den Boden. »Hier sieht es aus, als wäre etwas über den Boden geschleift worden«, sagte er mit belegter Stimme. »Warte hier, rühr dich nicht vom Fleck.«

Sollte er doch tun, was er wollte, ich war noch nicht mit dem Tuch fertig. Ich hatte es Gort zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt.

Kapitel 11

Lynn

Ich stolperte und fiel mit dem Knie auf einen Stein. Das Knie schmerzte. Erst der Fuß und jetzt auch noch das Knie. Wenn das so weiterging, würde meine Flucht bald zu Ende sein.

Wie gelähmt verharrte ich, als ich ein Hecheln hörte. Hinter mir. Jetzt neben mir. Meine Flucht war zu Ende, fast überkam mich Erleichterung.

Da wurde ich rüde am Arm gepackt und auf die Füße gerissen.

»Mach jetzt bloß nicht schlapp!« Die scharfe Stimme schnitt mir ins Gehör. Jemand zerrte mich unerbittlich vorwärts.

Was sollte das? Ich hatte erwartet, von einem Hund gestellt zu werden, von einem riesigen Köter, und vielleicht hatte ich wider jede Wahrscheinlichkeit noch gehofft, dass Duncan ... Er konnte gut mit diesen Hunden umgehen, sie hörten auf ihn.

Die Stimme kannte ich nicht, das war mir klar, aber eine Stimme konnte auch mal anders klingen.

»Duncan?«, winselte ich.

Ich versuchte den Kopf zu drehen, um zu sehen, mit wem ich es zu tun hatte.

Es war nicht Duncan.

Die dunkle Gestalt neben mir war mir völlig fremd.

»Kriech durch!« Ich wurde geschubst und fand mich auf allen vieren wieder, vor mir den untersten Draht des Wiesenzauns. Ruckartig hob ich den Kopf. Undeutlich nahm ich einen Mann wahr, der neben mir mit einem mühelosen Sprung über den Zaun setzte. Gleich darauf wurde ich unter dem Draht durch auf die andere Seite gezogen.

Taumelnd kam ich auf die Füße und trat hastig einen Schritt zur Seite. Ich musste endlich wissen, wer mich gepackt hatte. Mondlicht schien ihm ins Gesicht, es war genug zu sehen, um ihn zu erkennen, aber vor allem verrieten ihn seine Augen. Sie leuchteten, wie kein menschliches Auge in der Dunkelheit leuchten konnte.

Mein Herzschlag setzte aus, ich schnappte nach Luft.

Vor mir stand der Mann mit den Wolfsaugen, der Kerl vom Elfenteich. Jetzt glühten seine Augen wie Irrlichter.

Diese Augen kannte ich bestens aus meinen Albträumen. Und noch etwas ging mir schlagartig auf.

Es waren die Augen der Bestie, die Gort zerrissen hatte.

Ich schrie gellend auf und war noch nicht fertig damit, als mein Schrei von einem furchtbaren Heulen übertönt wurde. Wie Fieber rann mir das Entsetzen durch die Adern, dennoch stieß ich den Mann vor die Brust und rannte an ihm vorbei über den holprigen Weg hinter der Wiese, geradeaus auf einen Acker. Brennnesseln und Disteln schlugen mir an die nackten Knöchel und rissen an meinen Röcken. Ich achtete nicht weiter darauf, ich wollte nur weg.

»Hier entlang!« Mühelos hatte mich die Bestie erreicht, packte mich wieder, eine haarige Hand schloss sich um meinen Arm.

Kapitel 12

Eadha

»Gort ist weg«, sagte Cam düster, ich merkte jetzt erst, dass er zurück war.

»Was?« Ich knetete immer noch das Tuch in meiner Hand.

»Ich war in seiner Unterkunft. Er ist weg, ich hab auch den anderen Burschen wachgerüttelt, Iogh. Eadha, Gort hätte gestern mit deiner Lynn ausreiten müssen, hat er aber nicht. Und jetzt ist er weg, weil er sich vor der Strafe fürchtet. Natürlich hat ihn Iogh, diese Laus, an Cormac verpfiffen.«

»Das glaub ich nicht.«

Ich starrte auf die Blutflecken im Tuch.

»Dass er ihn verpfiffen hat? Eadha, das sollte dich wirklich nicht wundern. Sie kriegen alles raus, ich hatte aber den Eindruck, dass Iogh sich gar nicht lange geziert hat, um mit der Wahrheit rauszurücken.«

Das musste ich erst einmal verdauen.

»Gort ist auf und davon. Und das ist das Beste, was er tun konnte«, fuhr Cam nachdrücklich fort.

»Er kann nicht einfach weg sein«, schrie ich. »Ich glaub dir nicht.« Cam musste sich fragen, warum ich ein so großes Interesse an einem der Stallburschen hatte, aber ich war so vor den Kopf geschlagen, dass es mir schwerfiel, mich zu beherrschen. Gort würde nie verschwinden, ohne vorher mit mir zu sprechen.

»Hast du nicht was von Spuren gesagt?«

»Vergiss sie!« Cam packte meinen Arm. »Ich hab Cormac gehört«, flüsterte er. »Er und Lord Duncan haben nicht auf mich geachtet, als ich auf dem Ball Getränke serviert habe.«

Ich trat dichter an Cam heran. »Was haben sie gesagt? Was weißt du?«

Fahrig wischte sich Cam mit dem Ärmel über den Mund. Er sah todmüde aus, und das Sprechen fiel ihm schwer.

»Cormac hat dem Lord gesagt, wie es war. Gort hätte die Prinzessin begleiten müssen, hat’s aber nicht getan. Ich hatte also schon davon erfahren, bevor ich mit Iogh geredet habe. Er hat mir nur bestätigt, was ich schon wusste.«

Sprachlos starrte ich ihn an.

»Ich weiß, der Junge ist dein Sohn«, fuhr Cam unglücklich fort. »Ich hab’s immer gewusst.« Cam kannte mich schon, als ich noch ein ganz junges Dienstmädchen gewesen war, eine Küchenhilfe. Dann hatte ich geheiratet und war fortgezogen. Und einige Jahre später, als sich alles so furchtbar verändert und ich meinen Mann verloren hatte, war ich zurückgekommen und hatte die Stelle der persönlichen Dienerin Lynns erhalten. Etwa zur gleichen Zeit hatte ich Gort in den Ställen untergebracht, damals war er noch ein Kind. Anscheinend hatte Cam erraten, wer der Junge war, es konnte sogar sein, dass er mich mit ihm heimlich beobachtet hatte. Hier bespitzelte ja jeder jeden aus reinem Selbsterhaltungstrieb.

»Niemals hätte er sich vor einem Ausritt mit ihr gedrückt«, keuchte ich hervor. »Das ist ganz undenkbar, das ist eine faustgroße Lüge. Gort mag Lynn sehr, er würde doch nie auf einen Ausritt mit ihr verzichten. Cormac hat gelogen. Warum?« Ich wimmerte.

Cam zögerte, als müsste er seine Gedanken sammeln. Anscheinend ging ihm die ganze Sache nahe, obwohl er gar nicht unmittelbar betroffen war. »Ich glaube, Lynn wollte unbedingt allein ausreiten, es war nicht Gorts Idee. Ich hab’s jedenfalls so verstanden. Lord Duncan meinte trotzdem, er hätte Strafe verdient.«

»Dann ist sie schuld, wenn er weggelaufen ist«, schrie ich außer mir. »Sie allein ist schuld, dass Gort nicht mehr hier ist. Dafür werde ich sie bestrafen. Sie ist schuld, hörst du, sie ist schuld! Ich geh ihn suchen, und wenn sie mir als Erste über den Weg läuft, werde ich sie zur Rechenschaft ziehen, das schwöre ich.« Ich ballte die Hände zu Fäusten.

Langsam verlor Cam-Shron die Beherrschung. »Rede nicht so ein blödes Zeug! Prinzessin Lynn ist am allerwenigsten schuld.« Ich wollte ihm ins Wort fallen, aber er ließ sich nicht unterbrechen. »Aber wir sind mitschuldig, weil wir uns alles haben gefallen lassen, weil wir kuschen, seit so vielen Jahren schon. Niemand kämpft mehr gegen sie.« Er atmete stoßweise, aber das Reden schien auf einmal eine Befreiung für ihn zu sein. »Den Gedanken an Rache kenne ich nur zu gut. Ich wollte mich auch rächen, für den Tod meiner Frau und meiner Kinder. Aber dann bin ich genau wie alle anderen in Dumpfheit versunken und hab nur noch meine Kraft darauf verschwendet, mein erbärmliches Leben zu behalten.«

Mit seiner langen, hageren Figur könnte er fast zu denen gehören, dachte ich, zu den Peinigern. Nur hielt er sich meist krumm und im Gegensatz zu den vollen, schwarzen Haaren der anderen sahen seine wenigen graubraunen aus wie die letzten Flaumfedern einer fast fertig gerupften Gans. Auch sein scharf geschnittenes schmales Gesicht mit den dunklen Augen wies wenig Ähnlichkeit auf. Die Nase sprang wie ein gekrümmter Schnabel vor und jetzt, da ich Cam beobachtete, ging eine Verwandlung mit ihm vor. Die Haut über den Wangen hing nicht mehr in tiefen Kummerfalten herab, sie spannte sich zunehmend. Ein Ruck lief durch seine klapprige Gestalt, die Augen, diese kleinen dunklen Augen, begannen zu leuchten.

»Und jetzt hab ich genug von allem: von der Unterdrückung, meiner eigenen Feigheit, der Furcht. Ich kann mich in meiner Erbärmlichkeit und meinem Selbstmitleid nicht mehr ertragen. Ich gehe auch fort, Eadha. Auf der Stelle. Vielleicht finde ich die Prinzessin. Also, wenn du sie oder Gort noch suchen willst, ich komme mit. Aber red mir nicht mehr von Rache.«

Ich nickte nur.

Cam nahm meinen Arm, und gemeinsam taumelten wir vorwärts.

Kapitel 13

Lynn

Ich kam gegen meinen Peiniger nicht an, der mich zwang, zu rennen wie ich noch nie gerannt war. Nur einmal erhaschte ich einen Blick in sein finsteres, angespanntes Gesicht mit den zusammengepressten Kiefern und den leuchtenden Wolfsaugen. Aber es waren auch die Laute hinter mir, die mich vorwärtstrieben: ein hohes japsendes Hecheln, das näher und näher rückte.

Vielleicht war es das Allerdümmste, folgsam zu rennen statt mich zur Wehr zu setzen oder einfach stehenzubleiben. Es war doch gut möglich, dass uns Duncan mit einem der Zwingerhunde nachkam. Wahrscheinlich sogar. Oder doch nicht? Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte und schon gar nicht, wo ich mich befand. Ich hatte nicht mehr auf den Weg geachtet.

Hier war kein Weg mehr.

Wir tauchten in ein dichtes Gewirr von Halmen ein, während unter uns der Boden sumpfig wurde.

Auf einmal erhielt ich einen mächtigen Stoß ins Kreuz, der mich einige Schritte vorwärts beförderte. Noch ein Schubs und ich versank bis zur Hüfte in kaltem Wasser. Ich war so überrascht, dass ich nun wirklich stehenblieb. Vor mir erstreckte sich eine dunkle, ölig schimmernde Fläche, auf der sich von mir ausgehend träge Kreise ausbreiteten. Ein bisschen kam mir dieses Gewässer vertraut vor, dann war ich mir ziemlich sicher, dass ich im Elfenteich steckte. Wir waren durch den Schilfgürtel gebrochen. Ausgerechnet! Hier, hier an diesem Teich hatte mir die Bestie zum ersten Mal aufgelauert.

»Duck dich, tauch am besten unter.« Ich hörte nur die raunende Stimme, das brachte mich dazu, mit den Armen zu rudern, um weiter von der Gestalt hinter mir wegzukommen. Während ich mich zur Seite drehte, spähte ich nach der Lücke im Schilfgürtel, die ich kannte. Dort wollte ich hin. Aber ich spürte, wie von unten etwas an mir zerrte und wie ich über den glitschigen Untergrund tiefer und tiefer ins freie Wasser rutschte. Es gab kein Halten, ich verlor den Boden unter den Füßen. Meine Röcke aus Seide und Tüll schlugen über mir zusammen und nahmen mir jede Sicht. Ich begann heftig zu strampeln, aber da wurde mein Kleid zu einer Falle. Es hatte sich vollgesogen und zog mich in die Tiefe.

Meine nackten Füße sackten in den Sumpfgrund ein, ich spürte ihn an den Knöcheln aufsteigen. Wenn das so weiterging, würde ich bald unrettbar feststecken. Luft, ich brauchte Luft, ich sehnte mich nach Luft – und Licht. Panik überkam mich, der Druck, den Mund aufzureißen, wurde übermächtig. Die Atemnot wurde zum Würgegriff, zu einer Pein, die rote Kreise vor meine Augen zauberte. Das Ertrinken wurde mit jedem Augenblick wahrscheinlicher. Mir konnte keiner mehr helfen. Was würde mir mein Bewusstsein als Letztes vorgaukeln? Den Albtraum? Die Wolfsfratze?

Auf einmal spürte ich Widerstand unter den Füßen. Festen Grund. Ich sackte noch etwas in die Knie und stieß mich mit aller Kraft vom Boden ab. Und dann saugten meine Lungen wieder Luft ein. Dabei geriet mir ein Stück Stoff in den Mund, gegen das ich krampfhaft anhustete. Mein Kopf war vollständig von Stoff umwickelt. Um ja nicht wieder abzutauchen, trat ich hektisch Wasser und kämpfte mich aus den nassen Lappen, die mir im Gesicht klebten. Endlich sah ich wieder etwas.

Zum Glück war ich näher ans Ufer geraten, ich strampelte noch ein bisschen und konnte wieder stehen. Erledigt hielt ich still. Und da hörte ich einen Kampf toben. Es waren grässliche Laute. Sofort dachte ich an die Zwingerhunde. Hatten sie den Kerl erwischt, war ich gleich von ihm befreit? Ich sah ihn nirgends.

Vorsichtshalber harrte ich in der kalten Brühe aus, ich wartete darauf, Duncans Stimme zu hören. Ich war mir nun ganz sicher, dass er mit den Hunden meine Spur aufgenommen hatte. Fast waren mir diese riesigen Köter nun sympathisch.

Auf einmal entfernte sich der Lärm, das Knurren und Jaulen verklang, wurde schwächer und schwächer und wich gespenstischer Stille.

Ich starrte über den Teich. Nebel waberte über der Oberfläche, das war mir noch gar nicht aufgefallen, er musste sich plötzlich gebildet haben. In Spiralen quirlte er nicht weit von mir herum und aus dem Dunst traten Gesichter hervor. Ich blinzelte. Es fiel mir schwer, nicht an Einbildung zu glauben. Aber da tauchten über der Wasseroberfläche diese kleinen Gesichter auf, die neugierig zu mir herüberschauten. Und nach einem kurzen Moment, in dem sich der Nebel zusammenzog und die Gesichter verschwanden, hob er sich, verdichtete sich zu Figuren und zu meiner Verblüffung sah ich wunderschöne, tanzende Mädchen in nebelgrauen Gewändern über dem Teich schweben. Wie damals die Elfen.

Es waren die Elfen.

»Du kannst rauskommen.« Die Stimme riss mich aus meiner Versunkenheit.

»Was?«

»Beeil dich.« Eine Hand packte mich grob und zog mich aus dem Wasser. Der Mann mit den Wolfsaugen war wieder da, ich hatte ihn nicht kommen gehört.

»Da sind Elfen«, stotterte ich und deutete auf den Teich. Es war das Erste, was mir einfiel.

Der Mann sollte jetzt weit weg von mir gefesselt auf dem Boden liegen, gern mit ein paar Bisswunden und von Hunden bewacht.

»Blödsinn!«

Ich senkte den Kopf. Auf keinen Fall wollte ich ihn aufregen. »Ja, ich weiß, es gibt keine Elfen.«

»Wer hat dir denn den Schwachsinn erzählt?«

Ich vermied es, noch einmal über den Teich zu schauen. »Na schön, dann also doch Elfen«, murmelte ich.

»Das da sind Nixen.«

»Nixen«, wiederholte ich dumpf und warf einen Blick über die Schulter. Über dem Wasser waberte der Nebel, dünner als zuvor, sodassich das jenseitige Ufer sehen konnte.

Keine Spur von Nixen oder Elfen.

Etwas zerrte schon wieder an mir. Instinktiv hob ich abwehrend die Hände und versuchte, frei zu kommen.

Der Kerl hatte begonnen, mir das Kleid vom Leib zu reißen. Das Gerede über Elfen und Nixen war nur eine Ablenkung gewesen.

»Nein, nicht!«, wimmerte ich, aber er achtete nicht darauf.

Mit kräftigem Rucken riss er mir Schicht um Schicht die Röcke herunter und warf die Fetzen beiseite, wo sie einen im Mondlicht sanft schimmernden Bausch aus Seide und Tüll bildeten. Ich begann mich zu wehren, bis er mich an beiden Armen packte.

»Lass das, ja?«, sagte er eindringlich. »Wir haben nicht viel Zeit und ich bin gleich fertig.«

Zeit wofür? Ich dachte, über alle Schrecken hinaus zu sein, aber da hatte ich mich geirrt. Was dieser Mann mit mir vorhatte, war unvorstellbar!

»Himmel noch eins, was ist das bloß für ein furchtbares Gewurschtel«, stöhnte er. »Wie kann man so was tragen?«

»Das war mein Ballkleid«, sagte ich matt, die Arme in einer letzten Abwehrgeste um die Brust geschlungen. Jetzt würde er sich auf mich stürzen.

Stattdessen trat er ein Stück zurück. »Ich glaube, das reicht.« Aber rasch kam er wieder zu mir und riss die letzten Stoffbahnen vorn und hinten von unten bis fast zum Schritt auf, als wollte er noch ein letztes Hemmnis beseitigen. Spätestens in diesem Moment hätte ich vor Schreck tot umfallen müssen.

»Binde dir das Zeug um die Beine zusammen. Wie eine Hose, verstehst du?«

»Nein.«

Er wandte sich halb von mir ab und hob lauschend den Kopf. Seine Nasenflügel blähten sich, als ob er witterte. Im Schilf gegenüber raschelte es und etwas Weißes blitzte auf.

»Die Schwäne«, flüsterte ich, »die Schwäne sind zurück.«

»Ah ja?« Der Mann musterte kritisch den Stoffhaufen, dann flog sein Blick über mich hinweg zum Teich. Mir war rattenkalt, ich zitterte vor Kälte in den letzten Resten meines pitschnassen Ballkleids, die mir unschön an den Beinen klebten.

»Warte hier, bin gleich zurück. Und das da ...« Er langte blitzschnell zu und riss mir das Diadem vom Kopf. Ich schrie auf. Ein paar von meinen Haaren ringelten sich um das Diadem, als er ausholte und es weit in den Teich hineinwarf. »Das brauchst du nicht mehr«, nahm er seinen Satz wieder auf und beendete ihn.

Hilflos vor Zorn und Angst, begann ich zu schluchzen.

Als ich mich umdrehte, war der Mann verschwunden.

Jetzt hätte ich wegrennen sollen.

Ich war allein und pitschnass, ich fror erbärmlich und mein Kleid war in Fetzen gerissen von einer Kreatur, vor der ich mich zu Tode fürchtete. Und warum das alles?

Ich hatte Duncan nicht vertraut. Hier war die Bestie, nicht im Schloss, wie mein Vater geglaubt hatte. Warum hatte ich das nicht früher erkannt? Cathal lag im Sterben. Was er gesagt hatte, zeugte nur davon, dass sich sein Geist in der Nähe des Todes verwirrt hatte. Wie konnte ich Duncan nicht vertrauen? Hatte er mir jemals etwas getan oder zu mir gesagt, das nicht auf Liebe und Fürsorge fußte? Nein, niemals.

Ich war seiner nicht würdig und hatte ihn für immer verloren, er würde mich, falls er mich nun fände, verachten.

Ich konnte nicht zurück.

Meine Scham über den Mangel an Vertrauen gegenüber dem Mann, den ich so sehr liebte, war letzten Endes der Grund, warum ich hier herumstand und darauf wartete, dass dieses Ungeheuer mit den glühenden Augen zu mir zurückkam und über mich herfiel.

Am jenseitigen Ufer begann ein wildes Flügelschlagen, das Schilf raschelte und bewegte sich, ein Kreischen und Knurren war zu hören, ein unmenschlicher Schrei und dann – Stille.

Ich sank auf die Knie und schloss die Augen. Wenn ich doch nur schon tot wäre! Es war mir ernst damit. Ich fürchtete nicht den Schmerz, den würde ich ertragen, am Ende zählten nur der Tod und das Vergessen.

Ein Geräusch neben mir veranlasste mich, aufzuschauen. Mein Blick fiel auf einen toten Schwan, der von der Hand des Wolfsmannes baumelte. Ich taumelte auf die Füße.

»Warum ...« Ich konnte nicht weitersprechen, denn nun riss der Mann den Tierkadaver auf und ließ das Blut über die aufgehäuften Reste meines Ballkleids tropfen. Zum Schluss warf er den blutigen Bausch in den Teich. Aber dieser flog nicht weit, deshalb watete der Kerl ein Stück hinterher und gab ihm einen Schubs, sodasser davon driftete, schillernd und selbst im Mondlicht sichtbar mit dunklen Flecken übersät, die jeder für Blut halten musste.

Sobald der Mann zurück war, musterte er mich wieder kritisch. »Warum bist du nicht fertig? Wir müssen weiter.« Sein Blick streifte meine Beine.

»Wohin?«, fragte ich mit tonloser Stimme.

»Weg von hier. Er wird deine Spur bald genug wiederfinden, und dann ist er vielleicht nicht mehr allein.«

»Wer? Wen meinst du?«

Er musste Duncan meinen. Wäre es nicht denkbar, dass Duncan, großherzig wie er war, mir verzieh? Er hatte mir verziehen, dass ich allein ausgeritten war, warum nicht auch meine kopflose Flucht, die mich in die Hände dieses Mistkerls getrieben hatte.

»Das müsstest du doch am besten wissen«, antwortete der Mistkerl. Er kniete vor mir nieder, verknotete die Seide um meine Fesseln und schaute zu mir auf. Mit ein bisschen Geschick hätte ich ihm ins Gesicht treten können, aber da lag ja der Haken: Von Geschick keine Spur. Ich zitterte dermaßen, dass ich unweigerlich daneben getreten hätte.

»Wer jagt dich? Und warum?«, fragte er.

Ich hielt seinem abschätzenden Blick stand. »Wer bist du?

»Ulf.« Er richtete sich wieder auf. »Und jetzt komm.«

Er hieß also Ulf. Er hatte den Schwan mitgenommen, der nicht mehr blutete, nachdem er ihn einige Male ins Wasser des Teichs getunkt und herumgeschwenkt hatte. Dass er ihn immer noch mitschleppte, hielt meine Verstörung ungemindert aufrecht. Es war mir rätselhaft, was er mit seiner Beute vorhatte. Vielleicht diente sie dazu, mich weiterhin in Angst und Schrecken zu halten, zusätzlich zu allen anderen Schrecken, die ich hinter mir hatte. Wer tötete denn Schwäne? Ich liebte die Schwäne vom Elfenteich, der Anblick des erbarmungswürdigen Kadavers hatte mich in Trauer versetzt und hielt mich zugleich wie in einem Bann an Ulfs Seite. Der tote Schwan bewies mir, wie skrupellos und gewalttätig der Mann war.

Ulf lief mit elastischen, raumgreifenden Schritten, als wäre er gewohnt, sehr weite Entfernungen mit unermüdlicher Energie hinter sich zu bringen. Eine Laufmaschine. Sobald ich etwas langsamer wurde, knurrte er drohend. Aber ich hatte immer mehr Mühe mit ihm Schritt zu halten. Auf einmal hielt er mich am Arm fest.

»Du hinkst.«

»Na und? Merkst du das jetzt erst?« Schwankend war ich stehengeblieben.

»Heb den Fuß hoch.«

Gehorsam hob ich den Fuß. Er tastete meine Sohle ab.

»Den anderen.«

Ich fand die Untersuchung meiner Fußsohlen sonderbar, sagte aber lieber nichts dazu, ich war bloß froh über die Pause. Leider dauerte sie nicht lange.

»Weiter.« Er stupste mich an, ich fiel wieder in Trab. Bald, dessen war ich mir sicher, würde ich vor Erschöpfung zusammenbrechen und dann ... Mittlerweile befanden wir uns mitten im Wald. Hier wuchsen hohe Bäume, aber dazwischen hatte sich dorniges Gestrüpp ausgebreitet. Mir ging allmählich auf, warum Ulf mich von meinen ausladenden Röcken befreit hatte. Sicher wäre ich damit ständig an Zweigen und Dornen hängengeblieben, das passierte mir ja auch jetzt noch ab und zu. Trotzdem war ich ihm für seine Umsicht nicht besonders dankbar. Als ich kurz davor war, mich fallen zu lassen, um nicht mehr aufzustehen, bog er in eine andere Richtung ab. Wenig später waren wir an einen Bach gelangt, der sich sanft gurgelnd durch den Wald schlängelte.

»Setz dich.« Ulf deutete auf einen großen Stein, der bis ins Wasser ragte. Ich war froh, endlich sitzen und ausruhen zu dürfen. Einfach nur ausruhen, nicht denken, an nichts mehr denken, das war mir jetzt zu anstrengend.

Ohne mich zu fragen, tauchte Ulf meine Füße ins kalte Wasser, was zur Folge hatte, dass mir hörbar die Zähne klapperten. Es kam mir so vor, als wäre mir seit Jahren nicht mehr warm gewesen. Zwar war der Stoff um meine Beine fast trocken, aber das Mieder war noch nass. Wie ein eisiger Panzer schnürte es mir die Brust ein.

Ulf machte sich an einer meiner Fußsohlen zu schaffen. Er kratzte daran herum, die Stirn gerunzelt. Da er vollkommen in seiner Tätigkeit aufging, hatte ich zum ersten Mal die Muße, ihn eingehend zu betrachten. Das Mondlicht schuf dazu nicht die beste Voraussetzung, aber es reichte aus, um das Wesentliche zu erkennen. Er war jünger, als ich gedacht hatte, kaum älter als zwanzig. Sein schwarzes Haar hing ihm dicht und unordentlich ins Gesicht und ich war froh, nicht seine Augen zu sehen, diese leuchtenden Tieraugen. Seine Wimpern waren lang und dicht und wunderschön gebogen, sie warfen einen zarten Schatten auf seine Wangen ähnlich wie die Duncans.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Über meinen Verrat an Duncan würde ich nie hinwegkommen.

»Na also, es tut weh, dacht ich mir doch«, sagte Ulf merkwürdig zufrieden.

Ich hatte ein Ziehen gespürt.

»Aber kaum.«

»Und das?«

Diesmal zuckte ich zusammen. Er musste einen Fingernagel tief in meine Sohle gedrückt haben. »Macht es dir Spaß, mir weh zu tun?«

Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er hatte breite, kräftige Schultern. »Du hast Schnitte in der Sohle, die voller Dreck saßen, ich hab dir den Schmutz rauskratzen müssen.«

Vorsichtig entzog ich ihm meinen Fuß und schaute ihn mir an. Wasser perlte von der sauberen Sohle ab, auf der sich deutlich die Schnitte zeigten. Ich sah mich wieder, die Schuhe in der Hand, in den Ballsaal zurückkehren – nachdem ich die Bestie mit Gort ... Den Rest des Gedankens drängte ich beiseite. »Ich bin in Glasscherben getreten.«

Ulf schüttelte verwundert den Kopf. »Warum läufst du überhaupt barfuß herum? Und warum hast du nicht wegen deiner Füße gejammert? Der andere schaut auch nicht gut aus. Du brauchst Schuhe.«

»Wie wär’s mit deinen Stiefeln? Und deine Jacke hätte ich auch gern. Ich friere nämlich.« Verlangend schielte ich auf seine Jacke aus dunkelbraunem, angenehm weich wirkendem Leder. Bestimmt war sie warm, diese Jacke – warm von seinem Körper. Ich schauderte. Na, Hauptsache warm.

Ulf stand auf. »Wir gehen im Bach weiter.«

»Damit meine Füße sauber bleiben?«

»Komm schon.« Er watete davon.

Stur blieb ich sitzen. Es war ein hübscher Platz. Üppiger Farn wuchs am Bachrand, Kiesel leuchteten vom Grund des klaren Wassers silbrig zu mir herauf, eine friedliche Stille umgab mich. Ich hätte nie gedacht, dass es im Wald bei vollem Mondlicht so schön sein könnte.

Warum hatte Ulf mir die Fußsohlen gereinigt? Wie so vieles andere verstand ich auch das nicht. Es passte nicht zu ihm.

Die Bestie hatte einen Abendanzug getragen, schoss mir durch den Kopf. Ulf trug keinen, aber er hätte sich umziehen können. Bloß wozu dieser Aufwand? Die Bestie, die Bestie, ratterte es in meinem Kopf.

Irgendwo heulte wieder ein Hund. Verwundert stellte ich fest, wie sich die Haare an meinen bloßen Armen aufrichteten.

Leise stöhnend stand ich auf. Wo war Ulf? Der Bach schlängelte sich derart, dass ich seinen Lauf nicht sehr weit überblicken konnte. Außerdem wurde es dunkler, denn der Mond ging unter. Ich machte den ersten Schritt.

Der Hund heulte immer noch.

Es war nicht leicht, durchs Wasser zu waten. Mehrmals verlor ich beinahe das Gleichgewicht, während sich meine Füße über dicke Kiesel vorantasten mussten. Deshalb hielt ich den Blick gesenkt, eine Hand ausgestreckt, bis ich gegen ein Hindernis stieß.

»Wird auch Zeit, ich wollte gerade verschwinden«, sagte Ulf böse.

Zum Glück war der Bach nicht sehr tief. Seinem Lauf weiterhin folgend, hielt Ulf oftmals inne, um zu lauschen. Nach so einem Stopp war es für mich jedes Mal eine unmenschliche Kraftanstrengung, wieder in Gang zu kommen. Auf einmal zog er sich die Stiefel aus.

»Die brauch ich jetzt auch nicht mehr, außerdem sind sie innen bestimmt nass«, wehrte ich ab.

Ulf drehte die Stiefel um und ließ das Wasser herauslaufen. »Steig auf meinen Rücken.«

Ich rührte mich nicht. »Wo ist der Schwan?« Gerade war mir aufgefallen, dass er den Schwan nicht mehr dabei hatte. Seit wann? Hatte er ihn weggeworfen, bevor wir den Bach erreicht hatten? Meine Erinnerungen, ohnehin nie sehr zuverlässig, verwischten sich.

»Ich bück mich, dann schaffst du’s, auf meinen Rücken zu klettern, ich nehm dich Huckepack.« Ulf ging in die Hocke. »Worauf wartest du?«, fügte er scharf hinzu, als ich mich immer noch nicht rührte.

Das Hundegeheul veränderte sich. Es klang heißer, gieriger und brach unvermittelt ab.

»Jetzt hat er den Schwan gefunden«, erklärte Ulf, »hoffentlich beschäftigt ihn der Kadaver ein bisschen. Und nun rauf mit dir oder ich verlasse dich.«

Ich starrte ins Wasser. Es war hier so flach, dass ich seine Füße sehen konnte. Aus dem Rist sprossen schwarze Haare, sie wurden immer länger und dichter. Fasziniert schaute ich zu, während ein Teil meines Bewusstseins ein paar Überlegungen anstellte.

Duncan folgte mir mit wenigstens einem der Hunde, das war klar. Wenn es mir gelang, Ulf abzuschütteln, dann ... Hatte Duncan mich erst einmal gefunden, und ich ihm alles, aber auch alles, was ich gesehen und erlebt hatte, ungeschminkt erzählt, würde er mich für den Rest meines Lebens als Verrückte einsperren lassen und niemand, nicht mal ich, könnte es ihm verdenken.

Waren das noch Füße? Bestimmt spielte mir das Mondlicht einen Streich.

»Was ist? Entscheide dich.«

Schaudernd riss ich den Kopf hoch und kam zur Besinnung. Duncan war für mich verloren, damit musste ich mich abfinden. Vielleicht eines Tages, wenn Gras über meine Flucht ... wenn Ulf mich nicht vorher ...

Ergeben legte ich ihm die Arme um den Hals. Mit einer Hand half er nach, bis ich rittlings auf seinen Hüften saß, dann reichte er mir mit der anderen die nassen Stiefel.

»Lass sie ja nicht fallen«, knurrte er. Seine Stimme klang tiefer, rauer, fremder. Aber von nun an ging es zügiger vorwärts. Wasser spritzte auf. Ulf rannte schneller und schneller, trotz der Last auf seinem Rücken. Vielleicht trieb ihn das Heulen, das nach einer Pause wieder eingesetzt hatte, besonders an. Endlich stieg er aus dem Wasser, setzte mich aber nicht ab.

Kurz darauf tat sich vor uns eine Lichtung auf. In der Mitte stand ein Baum von ungeheurem Umfang. Vielleicht waren es auch mehrere Bäume, deren Stämme zusammengewachsen waren. Erst in doppelter Mannshöhe über dem Boden verzweigte er sich. Die Äste wuchsen zunächst fast waagerecht, und danach anscheinend steil in die Höhe. Ich kniff die Augen zusammen, während Ulf ganz dicht an den Stamm heranging.

»Zieh dich hoch.«

»Bitte?« Ich spähte hinauf.

»Muss man dir alles zweimal sagen?«

Ich krallte eine Hand fest in Ulfs dichten Schopf. »Das schaffe ich nie, ich komm doch gar nicht an die Äste heran. Und ich hab noch deine Stiefel.«

»Gib sie her. Es gibt jede Menge kleiner Höhlen in der Rinde, in denen Vögel und anderes Getier nisten. Setz deine Füße hinein.«

»Nein.«

»Dann mach, was du willst. Ich lass dich jetzt fallen.«

Hastig schob ich einen meiner bloßen Füße vor. Ulf packte den Fuß und schob ihn in eine Vertiefung in der Rinde.

Wenig später hatte ich die unteren Äste erreicht und zwängte mich nach Ulfs Anweisungen durch eine Lücke dicht am Stamm, die ich nicht sehen, sondern nur ertasten konnte. Das Blätterdach des Baumes schloss jeglichen Lichtschimmer aus. Ulf musste die Augen eines Luchses haben oder sich sehr gut auskennen. Mühelos folgte er mir und dirigierte mich weiter. »Wir gehen besser in die zweite oder dritte Etage, das ist sicherer.«

»Zweite oder dritte Etage? Wo gibt es so was in einem Baum? Was ist das für einer?«

»Ein Elfenbaum.«

Ich stand auf einem dicken Ast mit seltsam abgeplatteter Oberseite und um mich herum schien sich recht viel freier Raum zu befinden. Nicht dass ich etwas davon sah, aber ich hatte haltsuchend einen Arm nach oben und zur Seite ausgestreckt, stieß aber nirgendwo auf Widerstand. Ulf knurrte unwillig.

»Ich mach ja schon.«

Es ging tatsächlich noch viel höher und allmählich bekam ich eine gewisse Übung darin, den Stamm als eine Art Treppe zu benutzen. In passenden Abständen fanden meine Füße kleine Einbuchtungen, die spiralförmig um den Stamm und in einer kompletten Drehung auf die nächste Etage führten. Endlich trieb mich Ulf nicht mehr weiter. Ich mochte nicht daran denken, wie tief unter mir sich der Waldboden befand. Bei einem Sturz würde ich mir unausweichlich einige Knochen, wenn nicht das Genick brechen. Die Höhe machte mich unsicher. Nur zögerlich ließ ich mich darauf ein, mich vom Stamm zu entfernen. Ulf wurde wieder ungeduldig und schimpfte halblaut auf mich ein, während er mich über etwas zerrte, was sich unter den Sohlen unregelmäßig und hier und da nachgiebig anfühlte. An Festhalten war nicht zu denken, es gab keine Äste, an die ich mich klammern konnte. Nur Ulfs Hand.

»Jetzt leg dich hin.«

Ich ging in die Knie, tastete in der völligen Finsternis ein wenig um mich herum und spürte ein Lager aus Zweigen und irgendwelchem Kraut, vielleicht Farnkraut. Seufzend streckte ich mich aus, und bevor ich einschlief, fragte ich mich noch, ob ich im Schlaf nach unten stürzen würde. Wenigstens würde ich nichts spüren, falls ich mir den Hals brach.

Kapitel 14

Eadha

Cam hatte zu forsch dahergeredet, als er von Weggehen gesprochen hatte. Tatsächlich kamen wir kaum vom Fleck. Ich musste ihn stützen, sonst wäre er schon auf den ersten paar hundert Metern einige Male gestürzt. Laufen gehörte anscheinend nicht zu seinen Stärken. Er hatte einen unmöglichen Gang, der mir im Schloss nie aufgefallen war. Bei jedem Schritt schwankte sein langer Körper ein bisschen vor und zurück, und er trat wie ein Vogel mit den Zehenspitzen auf. Ein wenig hielten mich diese Beobachtungen von meinen Sorgen und Befürchtungen ab, aber ich kam immer wieder darauf zurück. Mir fielen die Diener ein, die spurlos verschwunden waren und von denen wir nie wieder etwas gehört hatten. Teilte Gort deren Schicksal? Daran mochte ich weder denken noch glauben. Besser in Gedanken an Cam und seinem Gang herummäkeln.

Wir hatten eine Wiese umrundet, auf der Vieh stand. Die Tiere brüllten aufgeschreckt.

»Was sie bloß haben«, murmelte Cam.

Ich klammerte mich mit einer Hand an seine Schulter. »Ich hab ihn immer nur heimlich sehen können, verstehst du? Heimlich! Meinen eigenen Sohn. Warum bin ich nur mit ihm zurückgekommen!«

Das hatte ich mich schon öfter gefragt. Andererseits, wohin sonst hätte ich gehen können? Wo gab es in diesem verfluchten Land einen sicheren Platz für eine Mutter, um ein Kind aufzuziehen, das zu einem kräftigen jungen Mann heranwuchs?

»Diese Bestien!« Ich schrie die Wut, in die meine Befürchtungen gerade umschlugen, laut heraus. Mein Schrei hallte durch die Nacht und fand eine Antwort.

Erschreckt lauschten wir beide dem dämonischen Heulen, das von jenseits der Wiese zu uns herüberschallte.

»Verdammt nah«, raunte Cam besorgt. »Wir sollten machen, dass wir weiterkommen.« Er setzte sich wieder in Bewegung.

Als wir den Teich erreichten, den Lynn den Elfenteich nannte, machten wir eine kleine Rast, weil ich das Bedürfnis hatte, mal kurz in die Büsche, genauer gesagt ins Schilf, zu verschwinden. Ich war gerade fertig, als ich vor mir auf dem Wasser etwas erspähte. Vor Schreck schrie ich gellend auf.

Es dauerte nicht lange, da kam Cam mir nach, die Ellbogen abgespreizt, als käme er damit schneller vom Fleck. Mehr denn je ähnelte er einem großen Vogel.

Ich starrte auf etwas, das ein Stück entfernt auf dem Wasser trieb und das ich nur zu gut kannte.

Cam dagegen starrte auf die leicht schlammige Erde am Ufer, als hätte er gerade etwas verloren.

»Auf dem Wasser«, sagte ich ungeduldig.

Er schaute auf und zuckte zusammen. »Glaubst du, dass Lynn ertrunken …?«

»Ich weiß es nicht, Cam, ich weiß es nicht.« Ich schauderte. Vielleicht hoffte ich noch, dass dort nicht ihre Leiche im Wasser trieb.

»Das da ist ihr Kleid. Ich hab zugesehen, wie die ganzen Perlen auf die Seide gestickt wurden. Ich seh sie ganz deutlich schimmern. Ich nehme an, dieser viele Stoff hält Lynn irgendwie oben. Cam, du musst hinauswaten und sie heranziehen. Wir brauchen Gewissheit.« Ich sank auf die Knie. »Jetzt habe ich beide verloren. Beide in einer Nacht! Gott, warum strafst du mich so? Was hab ich denn verbrochen?«

Cam lauschte meinem Gejammer, während seine Schuhe langsam in den matschigen Grund einsanken. Über dem Teich zog sich der Dunst, der dort immer hing, ein wenig zusammen, der Stoffballen wurde undeutlicher, die Blutflecken nahezu unsichtbar. Cam fasste nach meiner Schulter.

»Wollen wir weiter?«, fragte er.

»Hast du mich nicht verstanden? Hol sie da raus!«, forderte ich schrill. »Wir können ihre Leiche nicht im See lassen. Hol sie heraus, Cam!«

»Ich denke gar nicht dran.« Cam schlug die Arme eng um sich. »Ich geh weiter.« Schwerfällig hob er einen Fuß, schmatzend gab ihn der Grund frei.

»Hast du denn gar kein Gefühl, Cam?«, schimpfte ich mit überschlagender Stimme.

»Aufgebraucht, längst aufgebraucht.«

Ich hörte, wie sich Cam entfernte. Ich hätte nicht gedacht, dass er mich wirklich allein ließ. Was für ein elender, feiger Kerl! Stöhnend arbeitete ich mich auf die Füße und watete nun selbst hinaus in den Teich. Endlich bekam ich das Kleid zu fassen, zog es zu mir heran und tastete hastig nach dem Körper, der doch darin stecken musste. Da war nichts Festes. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte nur ihr Kleid gefunden, genauer gesagt, ihr völlig zerfetztes Kleid. Erst einmal musste sich mein Herzschlag beruhigen, bevor ich es noch mal untersuchte. Schon von weitem hatte ich die Flecken bemerkt und nun war ich noch mehr davon überzeugt, dass sie von ihrem Blut stammten. Es musste ihr etwas Schreckliches zugestoßen sein. Mir fiel die Gestalt im Torbogen zum Stallhof ein. Jemand war Lynn gefolgt.

Hatte Cam erkannt, dass nur ihr Kleid im Teich trieb? Und wenn ja, warum hatte er es mir nicht gesagt? Ich wurde immer wütender auf den Kerl.

Mir hing mein Rock nass, schlapp und kalt um die Beine. Wohin jetzt? Ohne Cam traute ich mich eigentlich gar nicht weiter.

Ein Stück vom Teich entfernt, auf dem Weg, der zum Schloss zurückführte, hockte ich mich am Rand auf einen flachen Stein, ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Zum Schloss zurück? Nein, dreimal nein, dorthin würden mich keine zehn Pferde zurückbringen, darüber war ich mir vollkommen klar. Ich dachte wieder an Gort und fragte mich, welche Chancen ich hatte, ihn zu finden und verwünschte Cam-Shron, der sich so feige davongestohlen hatte. Ich hätte ihm nicht vertrauen dürfen. Was wusste ich denn schon von ihm? Im Schloss war er mir immer als perfekter Leisetreter vorgekommen, einer, der nur gebückt ging, als erwartete er, jederzeit einen Tritt in den Hintern zu erhalten. Ein demutsvoller Kriecher. Und so einer Jammergestalt hatte ich mich freiwillig angeschlossen! Na ja, die Auswahl war ja nicht berauschend gewesen.

Irgendwann schlief ich ein, genauer gesagt, ich döste vor mich hin, ohne bewussten oder klaren Gedanken.

Kurz vor der Morgendämmerung hörte ich eilige Schritte. Als ich aufschaute, sah ich zu meiner grenzenlosen Überraschung eine lange dunkle Gestalt auf mich zueilen. Ich war ja so froh! Hoffnungsvoll erhob ich mich. Cam kehrte zu mir zurück, er wollte mich doch nicht im Stich lassen, und ich nahm mir vor, in Zukunft besser von ihm zu denken.

Erst im allerletzten Moment erkannte ich meinen Irrtum.

»Eadha? Was tust du hier draußen?«, sagte Lord Duncan mit schneidender Stimme.

»Sie sind es?«, stammelte ich.

»Wen hast du denn erwartet?« Er fasste mich am Arm und kam ganz dicht an mich heran, sodass ich das Funkeln in seinen Augen sah. »Ich frage dich, was du zu dieser Stunde fernab vom Schloss zu tun hast.«

»Ich hab die Prinzessin gesucht.« Ich konnte vor Angst kaum meine Stimme beherrschen. »Sie ist da hinten im Teich«, ich wies zitternd in die Richtung, »ihr Kleid treibt noch auf der Oberfläche.« Erst als ich es aussprach, überkam mich die Erkenntnis, dass das, was ich gerade gesagt hatte, stimmen musste. Und ich hätte Cam unbedingt fragen müssen, was er im Uferschlamm entdeckt hatte. Kampfspuren? Abdrücke, an denen sich der Kampf ablesen ließ? Wie dumm, dass ich erst so spät darauf gekommen war.

»Du weißt ja nicht, was du sagst«, herrschte mich der Lord an. Dann strich er sich mit einer müden Geste übers Gesicht. »Sie kann nicht ertrunken sein. Wie lange streunst du hier draußen schon herum? Antworte!« Seine Hand grub sich wieder in meinen Arm.

»Ich hab nach dem Ball auf sie gewartet, aber sie ist nicht gekommen. Da bin ich sie suchen gegangen.«

»Du hast deine Pflichten vernachlässigt, nicht wahr? Du hast es dir gemütlich gemacht und bist eingeschlafen. Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

Was hätte ich darum gegeben, nicht ausgerechnet ihm hier zu begegnen. Vor allem nicht allein. Ich musste mich zur Ruhe zwingen.

»Vor dem Fest, ich hab sie doch für den Ball zurechtgemacht«, antwortete ich bedacht, aber nicht unterwürfig.

»Und seitdem hast du sie nicht mehr gesehen?«

Er zerrte mich mit sich in Richtung Schloss, und ich hatte die größte Mühe mit meinem nassen, an den Beinen klebenden Rock mit ihm Schritt zu halten.

»Nein, hab ich nicht, ich habe, wie es meine Pflicht war, in ihrem Zimmer auf sie gewartet und ihren Schlummertrunk für sie bereitgehalten.« Das würde er wohl kaum überprüfen können, und das Glas musste ja tatsächlich noch auf dem Nachttisch stehen.

»Das ist alles? Ich bin sicher, du verheimlichst mir was. Ihr Dienstboten seid doch alle verschlagen. Sie muss dir etwas anvertraut haben, was wichtig ist und was sie fortgetrieben hat. Sie verschwindet doch nicht einfach so.« Er stieß heftig die Luft aus.

Konnte es wirklich sein, dass diese kalte Kreatur sich Sorgen um Lynn machte? Ich hasste seine Stimme, obwohl sie sehr angenehm klingen konnte, aber diesen Ton schlug er nie mir gegenüber an.

Auf der Wanderung mit Cam durch die Nacht hatte ich von der bevorstehenden Verlobung erfahren. Ein Diener wie Cam-Shron wusste so etwas, weil er mehr Gelegenheiten als ich hatte, an den Türen zu horchen. Lynn und Lord Duncan! Nicht zu fassen.

»Wo hast du die Prinzessin zuletzt gesehen? Sag’s mir«, nahm er die Befragung erneut auf.

Er würde keine Ruhe geben. Ich hatte die Hand gehoben und an die Kehle gelegt.

»Ich hab ihr oft gesagt, sie soll niemals bei Dunkelheit hinaus. Niemals, hab ich ihr eingeschärft. Trotzdem ist sie zum Stallhof gelaufen. Ich bin ihr nach. Und dann hab ich ihr Kleid im Teich gefunden, voller Blut. Was ist mit ihr passiert?« Mit einem Ruck machte ich mich frei und blieb stehen. Ich wollte mich nicht länger einschüchtern lassen.

Über uns verblassten die Sterne, der Wind frischte auf und kündete den nahenden Morgen an.

»Das möchte ich ja auch wissen«, seufzte er gepresst auf. »Ich hab das Kleid oder was davon übrig ist, gesehen. Das Blut am Kleid stammt nicht von ihr.«

»Nein?« Woher wollte er das wissen? War er wie ich hinausgewatet und hatte es überprüft? Aber wie hätte er feststellen können, woher das Blut stammte?

Sein Blick schweifte von mir ab und seine Stimme schwankte. »Ich glaube es nicht, ich will es nicht glauben.«

Also war er tatsächlich fähig, etwas für Lynn zu empfinden? Das überraschte mich. Konnte ich ihn so falsch eingeschätzt haben?

»Ich bin auf einen toten Schwan gestoßen, er muss vom Teich stammen, es gibt hier sonst keine Schwäne«, fuhr er gedämpft fort. »Es ist möglich, dass ihr Kleid von Schwanenblut besudelt ist.«

Das sollte verstehen, wer wollte. Schwanenblut!

Sein Anzug sah reichlich mitgenommen aus, als wäre er durchs Gebüsch gekrochen. Ich bemerkte Dreck, aber auch einige Risse, vor allem hinten, am Rücken. Allein schon dieser Aufzug sprach dafür, dass ihm Lynn wirklich etwas bedeutete. Ich wusste, wie sehr er auf eine untadelige Erscheinung Wert legte. Lynns Verschwinden nahm ihn offenkundig schwer mit.

»Sie haben Prinzessin Lynn ... auch gesucht?«

Wir näherten uns dem Schloss. Jemand kam uns entgegen. Lord Duncan wartete, bis der Mann herangekommen war. Es war Sir Cormac.

»Nirgends eine Spur von ihr«, sagte Cormac ein wenig außer Atem. »Sie ist nicht mehr im Schloss.«

»Ich weiß. Wie geht es dem König?«, fragte Lord Duncan.

»Unverändert.« Cormac warf einen prüfenden Seitenblick auf mich.

Auf einmal packte mich der Lord wieder und schob mich auf Cormac zu. »Sie ist schuld daran, dass die Prinzessin kopflos davongelaufen ist, und sie will nicht sagen, wohin und warum. Sie hat sich nicht um sie gekümmert und es an Sorgfalt fehlen lassen. Wer weiß, was sie ihr alles in den Kopf gesetzt hat. Diese Frau ist nur auf ihre eigene Bequemlichkeit bedacht. Hat die Prinzessin einfach zum Stallhof laufen lassen, mitten in der Nacht.«

Ich wollte etwas einwenden, aber Cormac kam mir zuvor.

»Ungeheuerlich!«, knurrte er.

»Schweig!«, herrschte der Lord ihn an.

Cormac kuschte sofort und senkte den Kopf. »Verzeihung, ich bitte um Verzeihung. Soll ich sie mitnehmen?« Unsicher streckte er eine Hand nach mir aus.

»Ja, sperr sie ein. Ich werde mich später gründlicher mit ihr befassen.«

»Und was ist mit der Prinzessin?«

»Wir werden sie finden. Und wehe dem, der sich unterdessen an ihr vergreift.«

Dann glaubte er, dass sie noch am Leben war?

Es hatte keinen Zweck auch nur zu versuchen, mich aus Cormacs Griff zu winden. Unverzüglich wurde ich von ihm ins Schloss gebracht und in meiner Kammer neben Lynns Schlafzimmer eingesperrt. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung von dem, was mich erwartete und ich gedachte, die mir verbleibende Zeit damit zu verbringen, mich darauf vorzubereiten. Ich kniete vor meinem Bett nieder und begann zu beten.

Kapitel 15

Lynn

Das Licht über mir schwankte und schaukelte und machte mich seekrank. Ich spähte nach oben, das einfallende Licht stach mir in die Augen, und löste auch noch einen furchtbaren Schmerz in meinen Schläfen aus. Mir wurde schwindlig beim Zuschauen. Ich wollte den Kopf wegdrehen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Ich konnte nicht mal daran denken, mich zu bewegen, schon das tat weh. Dabei kämpfte ich verbissen gegen die irrsinnige Vorstellung an, mich in einem grünen Zimmer mit runden Wänden zu befinden, das um mich herumkreiselte.

»Eadha!« Ich brachte nur ein Flüstern heraus, aber es war, als explodierte etwas in meinem Kopf.

Erledigt schloss ich die Lider, um wenigstens das Licht auszusperren und schlief erneut ein.

Als ich das nächste Mal erwachte, schimmerte immer noch alles grün um mich herum, aber das Kreiseln hatte fast aufgehört.

Ich hatte grässlichen Durst. »Wo bleibt mein Morgentrunk?«, wimmerte ich.

»Sonst noch was?«

Ich war mir ziemlich sicher, dass das nicht Eadhas Stimme war, konnte mich aber täuschen, schließlich hatte ich ein ganz schön lautes Rauschen im Ohr.

»Eadha?« Ich stemmte mich hoch und ließ mich mit einem Stöhnen wieder zurücksinken. Gott, war mir schlecht! Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so elend gefühlt zu haben.

»Ich hol dir Wasser.«

Im Augenblick war es mir egal, wer mit mir sprach. Hauptsache, er brachte mir etwas zu trinken, damit ich diesen mörderischen Durst löschen konnte. Die Zunge klebte mir am Gaumen. Allmählich nahm ich ein bisschen was von meiner Umgebung wahr, glaubte aber nicht, dass ich richtig sah. Ich hatte eine Art grünen Filter vor den Augen, ich sah tatsächlich nur grün, alles in verschwommenem Grün. Mit äußerster Vorsicht wälzte ich mich herum, aber sofort traf mich der Schmerz, der in meinem Kopf wie Faustschläge hämmerte. Erst nach mehreren flachen Atemzügen klang er wieder ab. Ich schluckte schwer. Wo war ich? Das herauszufinden, war mir zu anstrengend, ich hatte nur das deutliche Empfinden, nicht in meinem Bett zu liegen, gleichzeitig misstraute ich dieser Empfindung. Wieso sollte ich nicht in meinem Bett liegen?

»Trink.« Ich spürte, wie mein Kopf behutsam angehoben und mir etwas an die Lippen gehalten wurde. Begierig öffnete ich den Mund und trank herrlich kaltes Wasser. Köstlich, einfach köstlich. Nur stank es unangenehm nach Leder. Unter fast geschlossenen Augenlidern hindurch riskierte ich einen Blick.

Jemand hielt mir einen Stiefel an den Mund. Ich verschluckte mich und begann zu husten.

»Na, schön, das reicht. Und jetzt steh auf.«

Matt winkte ich ab und drehte mich unter Schmerzen auf die andere Seite. »Später«, flüsterte ich hustend und sank erneut in Schlaf.

Wilde Träume peinigten mich, und ich hatte das Gefühl, ich spräche im Schlaf, ich redete mit Duncan und meinem Vater und flehte die beiden an, mir zu sagen, warum ich mich so elend fühlte und warum Gort von einer Bestie gefressen worden war und ähnlich verworrenes Zeug. Irgendwann musste ich aber für einige Stunden fest eingeschlafen sein. Wieder wachte ich von selbst auf. Sanftes Dämmerlicht herrschte diesmal, eine Wohltat für meine Augen. Trotz der schweren Träume fühlte ich mich nicht mehr ganz so schrecklich, zumindest wenn ich mich still verhielt. Immer noch war alles unwirklich Grün um mich herum. Aber nun sah ich ein bisschen klarer. Über mir befand sich eine Art Dach aus Blättern, Ästen und Zweigen. Ich tippte auf Ahorn. Oder Eiche? Zwischen den Zweigen huschten Eichhörnchen herum. Abwesend schaute ich ihnen zu. Erst als ich einen Laut neben mir hörte, wandte ich den Kopf.

Da saß jemand. Ein Kerl in einem dreckigen Hemd, der sich mit einer Hand durch das strubbelige schwarze Haar fuhr und ebenfalls in die Zweige hinaufstarrte. Wo hatte ich den schon mal gesehen, und was machte er hier? Dann fiel es mir ein und meine Laune, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie gut oder schlecht sein sollte, drehte eindeutig auf schlecht. Ganz schlecht.

Der Kerl hieß Ulf, ich wusste es wieder und auch, dass er mich mitten in der Nacht hierhergeschleppt hatte. Er beobachtete die Eichhörnchen mit einem hungrigen Ausdruck im Gesicht.

Hungrig war ich auch. »Ich bin jetzt wach«, flüsterte ich.

Ulf spähte unverwandt nach oben.

»Hörst du, ich bin wach! Und ich möchte wissen, wo ich bin«, sagte ich etwas lauter, und sofort begann mein Kopf vom Klang meiner eigenen Stimme wie eine Trommel zu dröhnen.

»Elfenbaum.« Ulf bewegte kaum die Lippen beim Sprechen, leckte aber nun kurz mit der Zunge darüber.

Die Eichhörnchen begannen zu schimpfen und huschten davon.

Sehr, sehr vorsichtig stemmte ich mich seitlich auf einen Ellbogen. »Es gibt keine Elfen. Würdest du mir daher bitte mal verraten, was ein Elfenbaum ist?«, wisperte ich mit einiger Mühe und war stolz, einen vollständigen Satz zustande gebracht zu haben, auch wenn das Thema angesichts meiner ungeklärten Lage eher nebensächlich erschien.

»Sie wohnen in diesen Bäumen. Aber der hier ist verlassen. Weiß nicht, wo sie hin sind.«

Ich erinnerte mich nun an den mühevollen Aufstieg und war auch imstande, meine Umgebung besser zu würdigen. Äste und Zweige bildeten unter mir eine fast ebene Fläche und wuchsen am Rand zu einer runden Wand auf und oben tatsächlich zu einer Art Zimmerdecke zusammen. Es war unglaublich. Genau das: Ich glaubte nämlich nicht, was ich sah. Hier und da bildeten die Äste niedrige Bänke, an einer Stelle waren sie zu so etwas wie einem Tisch verflochten.

»Wie macht man aus einem Baum so einen ... so einen ...«

»Elfenbaum. Die Elfen fangen damit an, wenn der Baum noch jung ist und nach ein paar Jahrhunderten ist er fertig.«

Er machte sich über mich lustig.

»Schade, dass keine Elfen mehr hier sind. Ich hätte gern welche kennengelernt«, meinte ich ironisch, obwohl mir die Ironie und der schelmische Unterton verdammt schwerfielen. Eigentlich hätte ich gern geschrien und getobt und mich laut und heftig darüber beklagt, dass ich in einem dämlichen Elfenbaum lag. Aber in der Konversation einen Anflug von Kultiviertheit heraushängen zu lassen, musste auf so einen Waldschrat wie Ulf ein bisschen einschüchternd wirken. Was er mit mir vorhatte, wusste ich ja nicht.

»Warum?«, brummte er.

»Nur so. Sie sind bestimmt etwas Besonderes. Ich stelle sie mir sehr niedlich vor. Goldene Locken, zarte Flügel, einfach süß.«

Dabei war es mir so was von egal, wie Elfen aussahen, ich wollte nicht mal mehr wissen, ob es sie gab.

»Elfen sind so nützlich wie Schmeißfliegen. Man kann nichts mit ihnen anfangen. Man kann sie nicht mal ...«

»Fressen?«

Das war mir so herausgerutscht.

Verblüfft wandte Ulf den Blick von den Ästen über uns ab und richtete ihn auf mich, einen Blick, der mir durch und durch ging. Er war so wenig menschlich.

»Du sagst es.«

»Aber Eichhörnchen?«, fragte ich, in meiner Stimme klang ein Zittern auf.

Sein Blick wurde nachdenklich.

»Lassen wir das«, sagte er langsam, »aber was ich wissen will, ist ...«

Mein Unwohlsein nagelte mich praktisch fest, und so war ich Ulf hilflos ausgeliefert. Ganz unangenehm war mir, dass er nun begann, mich auszufragen. Er wollte alles Mögliche über mein Leben im Schloss wissen, und es kostete mich eine unglaubliche Konzentration, zu antworten, ohne viel zu sagen. Was ging ihn mein Leben im Schloss an? Flüchtig kam mir der Gedanke, dass er einen Raubzug plante, denn er fragte auch nach der Dienerschaft, ihrem Herkommen, ihren Aufgaben und Gewohnheiten. Aber wenn er auf Kostbarkeiten aus war, warum hatte er dann mein Diadem in den Teich geworfen? Denn daran erinnerte ich mich nun wieder.

»Mir reicht’s jetzt. Geh doch hin und frag sie alle selbst«, sagte ich schließlich. Verbittert schloss ich die Augen.

Als er nicht antwortete, hoffte ich schon, dass die Fragestunde zu Ende wäre. Aber ich hatte mich getäuscht.

»Was versteckst du da?«

Ich riss die Augen auf.

Er deutete auf meine Brust.

Da wurde mir klar, dass ich halbnackt war. Der Tüll um meine Beine hing in Fetzen, aber vor allem der zerrissene Ausschnitt meines Mieders präsentierte meinen Busen wie die Auslegware eines Händlers. Und Ulfs Blick war immer noch hungrig.

Ich versuchte, meinen Ausschnitt mit der Hand zu bedecken, aber die Haltung war zu anstrengend, deshalb gab ich sie gleich wieder auf. »Das geht dich gar nichts an, ja?«, blaffte ich und bezahlte meinen Ausbruch mit einer neuen Kopfschmerzattacke. »Was ist jetzt?«, fuhr ich trotzdem fort. »Wie lange bleiben wir noch hier?«

Ulf rückte näher. »So lange ich es für nötig halte«, schnurrte er und grinste nicht sehr vertrauenerweckend. Mir fiel auf, dass er sehr kräftige Hände hatte.

Kapitel 16

Eadha

Ich hörte ein Pfeifen, das von draußen hereindrang, achtete aber nicht weiter darauf. Irgendein Vogel. Inzwischen saß ich auf meinem schmalen Bett, die Hände gefaltet. Das Beten hatte mich ein wenig beruhigt, aber nach einer Weile hatten mir die Knie wehgetan und daher war ich aufgestanden und hatte mich aufs Bett gesetzt. Einmal hatte ich etwas an der Tür gehört, ein Kratzen, da war ich ganz schön zusammengezuckt und hatte gedacht, dass nun meine letzte Stunde geschlagen hätte. Dann hatte das Kratzen aufgehört.

Das Warten war weniger zermürbend, als ich gedacht hatte. Ich nutzte es dazu, mich an Gort zu erinnern und an unsere letzten, heimlich geführten Gespräche. Er hatte sich so über mein besticktes Tuch gefreut.

Der Vogel pfiff immer noch und dazu nicht gerade melodisch, eher schon aggressiv. Er musste direkt unter meinem Fenster hocken. Ein Adler im Schlossgarten? Wie kam ich bloß auf Adler? Niemals war das ein Adler, aber bestimmt ein großer Vogel.

Mich schwerfällig mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützend, stand ich auf und ging zum Fenster.

Unten, mitten im Beet mit dem gelbblühenden Unkraut, stand Cam-Shron und sah ärgerlich zu mir herauf.

»Na, endlich! Was treibst du denn bloß da oben?«, rief er gedämpft.

Ich staunte. »Warst du das, der so laut gepfiffen hat?«

»Beweg dich!«, kommandierte Cam und spähte ängstlich einmal nach rechts und links. »Komm runter, bevor mich hier jemand entdeckt.«

»Ich bin eingesperrt.« Ich konnte es nicht fassen, dass Cam wieder aufgetaucht war. »Bist du nur meinetwegen zurückgekommen oder was soll das Ganze? Wieso bist du hier? Hast du allein Schiss gekriegt?«

Würdevoll richtete sich Cam auf. »Hast du ernsthaft geglaubt, ich lasse dich im Stich? Ich hatte dich fast eingeholt, da hab ich dich mit Lord Duncan und Sir Cormac gesehen und wie dich diese Pestbeule Cormac abgeführt hat. Jetzt bin ich hier, um dich zu retten. Also schwing dich aufs Fensterbrett und komm herunter. Ich hab alles vorbereitet.«

Cam musste verrückt geworden sein, falls er ernsthaft glaubte, dass ich zu ihm hinunterspringen könnte. Andererseits ..., grübelte ich, so ein Sprung wäre nicht das Schlechteste. Falls der Herzog mich für mitschuldig an Lynns Verschwinden hielt, würde ihn nichts davon abbringen, über mich das Todesurteil zu fällen.

Wenn ich mir beim Sprung aus dem Fenster das Genick brach, konnte mir niemand mehr etwas antun. Eine leichte Art, um aus dieser Welt zu scheiden, besser als ... Aber vielleicht brach ich mir nur die Beine!

Cam drückte sich eng an die Mauer, sein schütteres graues Haar stand wie der Kamm eines Wiedehopfs hoch. Es sah lächerlich aus. Mich überkam beinahe Rührung angesichts des alten Trottels.

»Hau lieber ab.« Ich wollte ihn nicht in meine Schwierigkeiten hineinziehen. Vielleicht wusste noch niemand, dass er den Dienst von sich aus gekündigt hatte. Er brauchte nur durch einen Nebeneingang ins Haus zu schlüpfen und sich wieder an die Arbeit zu machen. Da kam mir ein neuer Gedanke. »Du könntest hereinkommen und die Tür aufschließen«, sagte ich hoffnungsvoll.

»Hab ich schon versucht«, zischte Cam, »aber der Schlüssel steckt nicht. Beinahe wäre ich erwischt worden.«

Das Kratzen an der Tür! Das war also Cam, der treue Cam-Shron gewesen, der versucht hatte, mich zu befreien. So ein lieber Esel. Leider gab es in diesem neueren Trakt keine Dienergänge, durch die er bis zu mir hätte gelangen können.

»Na ja, das war’s dann wohl«, fuhr Cam fort und stieß sich von der Wand ab. »Wenn du dich nicht traust, ist dir nicht zu helfen. Länger kann ich nicht bleiben. Zu gefährlich.«

»Warte! Erst machst du mir Hoffnung und jetzt willst du einfach abhauen?« Noch vor wenigen Augenblicken hatte ich mit dem Leben abgeschlossen und mich dabei ganz wohl gefühlt, aber nun wieder in diese Haltung zurückfinden zu müssen, erschien mir eine unsägliche Tortur. Noch mal würde ich das nicht so einfach hinkriegen. Zu beten wäre mir auch nichts mehr eingefallen.

Ich schaute über die Schulter zurück. Ein Zipfel meines Lakens lugte unter der wollenen Überdecke hervor. Ich lief zum Bett, riss das Laken heraus, knüpfte hastig einen dicken Knoten in eine Ecke, hakte ihn hinter einem der Fensterflügel fest und warf den Rest des Tuchs über das Fensterbrett nach draußen. Nun kam der schwierigere Teil. Besonders gelenkig war ich früher schon nicht gewesen und außerdem alles andere als schlank. Als ich mich rückwärts über das Brett quälte, die schweißnassen Hände in das Tuch gekrallt, hörte ich von unten einen sorgenvollen gedämpften Ruf. Gab mir Cam etwa noch Anweisungen? Dafür war es zu spät. Den ersten Meter die Mauer hinunter schaffte ich sogar leidlich, aber dann rutschten meine Füße unaufhaltsam ab. Das Tuch glitt mir durch die Hände, der Fall war nicht mehr zu bremsen oder aufzuhalten.

Ich fiel direkt auf Cam.

Atemlos blieb ich liegen, bis ich eine Faust spürte, die sich in meine Seite bohrte. »Ich hab dir doch gesagt, ich fang dich auf«, sagte Cam vorwurfsvoll unter mir.

»Du lebst noch?«

»Nicht mehr lange, du erstickst mich.«

Cam hatte sich nichts gebrochen, das war das Erstaunlichste. Irgendwie war es ihm gelungen, unter mir nicht nennenswert zu Schaden zu kommen, er musste Gummiknochen haben. Lediglich ein Handgelenk war verstaucht, er rieb es sich behutsam. Ich zog ihn auf die Füße, nachdem ich aufgestanden war und klopfte ihn sorgfältig ab. Die Hüfte tat mir wieder weh, aber darüber beklagte ich mich nicht.

»Und was jetzt?«, fragte ich. Es war helllichter Tag, es musste sogar schon Mittag vorbei sein. Und ich lebte immer noch! Es war still ringsum, ungewöhnlich still. »Hast du eine Ahnung, wo Cormac und die Lords Duncan und Dubhglais sind? Hast du was in Erfahrung bringen können über ... Lynn?«

»Komm erst einmal mit, es wäre doch blöd, wenn wir jetzt erwischt würden.«

Cam schlich voraus an der Wand entlang in Richtung Stallhof, aber dann fanden wir es doch besser, ganz offen und ruhig unseren Weg fortzusetzen. Schleichen war auf jeden Fall verdächtig. Falls uns jemand vom übrigen Personal entgegenkam, sollte es so aussehen, als ob wir wegen einer Besorgung unterwegs wären. Jetzt, wo meine Lage nicht mehr ganz so aussichtslos war, befiel mich Furcht und der heftige Wunsch, am Leben zu bleiben. Meine Flucht konnte so leicht noch vereitelt werden. Wir brauchten nur Lord Duncan zu begegnen, der vielleicht gerade ausreiten wollte. Oder Cormac, der überall seine Augen und Ohren hatte.

Cam strebte zu meiner Überraschung am Tor zum Stallhof vorbei und weiter an der Mauer entlang, bis die Obstwiese in Sicht kam. Und dort stand halb verdeckt von einem Haselbusch ein kleiner, zweirädriger Karren. Lynns Stute Meara war davor gespannt. Cam half mir galant auf das Sitzbrett vorn.

»Ich hab gedacht, wir brauchen ein paar Vorräte, sie liegen hinten in einem Sack und noch so einiges, was auf einer längeren Reise nützlich sein könnte.«

Seine Umsicht verschlug mir die Sprache. Ergriffen streckte ich eine Hand aus, Cam fasste zu und schwang sich auf den Sitz neben mich. Mit einem Zungenschnalzen trieb er das Pferd an.

»Cam, du bist ... du bist ...« Ich drückte ihn kurz und entschlossen an mich und gab ihm schmatzend einen Kuss auf die Wange. »... einfach großartig.«

Cam schnaubte verlegen.

Eine Weile zuckelten wir schweigend dahin, immer wieder drehte sich einer von uns um, um sich zu vergewissern, dass wir keine Verfolger an den Hacken hatten. Irgendwie konnten wir es beide nicht fassen, so einfach davonzukommen.

»Du hast mich gefragt, ob ich etwas erfahren konnte«, begann Cam schließlich.

»Und, hast du?«

»Es gab eine Beratung im Arbeitszimmer des Königs, das heißt, kann sein, dass sie noch andauert. Sicher bin ich mir nicht, ich bin vorzeitig gegangen, als ich... hm ... dachte, ich hätte genug gehört. Die Polsterung der Tür zum Dienergang ist schadhaft, weiß du, sie dämpft nicht mehr so gut«, erklärte er verlegen.

»Cam«, sagte ich energisch, »erspar mir die Einzelheiten, und du musst dich fürs Lauschen nicht bei mir rechtfertigen. Ich gratuliere dir, dass du so umsichtig warst.«

»Danke.« Cam neigte würdevoll das Haupt. »Cormac, Lord Duncan und Lord Dubhglais haben miteinander geredet. Der König war nicht dabei. Er hat sich von seinem Anfall noch nicht erholt. Ich weiß nicht, wie es ihm inzwischen geht.«

Ich sparte mir einen weiteren Einwurf und übte mich in Geduld. Cam würde schon noch auf das Wesentliche kommen.

»Sie sind dabei, die Nachforschungen zu organisieren, es wird so sein, dass überall Suchtrupps aufgeboten werden. Die ersten Befehle müssen rausgegangen sein, bevor ich das Pferd geholt hab. Es war ziemlich leer in den Ställen, ich hab dann diese Stute gefunden, hoffentlich kommen wir mit ihr zurecht. Sie scheint aber gutmütig zu sein.«

Ich stöhnte auf. »Das ist Meara, Lynns Stute. Ja, sie ist sehr anstellig und geduldig, ein anderes Pferd hätten sie ihr gar nicht erlaubt.«

»Dann ist es sicher eine Fügung des Schicksals, dass ich mir gerade dieses Tier ausgesucht habe. Weißt du, ich versteh nicht viel von Pferden, sie haben mir zu viele Beine. Und was ich noch sagen wollte, Lord Duncan ist absolut sicher, dass die Prinzessin noch lebt. Er hat vom Teich geredet, vom Kleid, das darin schwamm, und hat gesagt, dass sei nichts als ein Täuschungsmanöver gewesen. Eins, das die Prinzessin sich nie und nimmer selbst ausgedacht hätte. Ja, es scheint fast so, als sei sie entführt worden. Das jedenfalls hat der Lord behauptet und die anderen haben es ihm geglaubt. Wir haben die Prinzessin doch gesehen, wie sie über den Stallhof gerannt ist. Glaubst du, sie hatte sich mit jemandem verabredet, der sie entführt hat?«

»Mit Gort? Glaubst du, sie und Gort ...«, ich mochte nicht weitersprechen, eine wilde Freude durchzuckte mich und gleich darauf Wut. Was war den beiden bloß eingefallen? Aber Hauptsache, sie lebten.

Cam wiegte den Kopf, antwortete aber nicht direkt. »Und was machen wir jetzt?«

»Ist das nicht sonnenklar? Wir werden sie suchen. Wir müssen sie vor ihnen finden.«

»Einverstanden«, sagte er feierlich.

Kapitel 17

Lynn

Ulf rüttelte mich so lange an der Schulter, bis ich die Augen aufschlug. Damit begann der Tag schon mal schlecht. Wir hatten eine weitere Nacht im Elfenbaum verbracht, denn mir ging es nicht gut genug, um den Abstieg zu wagen. Und auf den Abstieg allein kam es ja nicht an. Wir mussten weiter. Ulf rechnete damit, dass früher oder später unsere Verfolger auftauchen würden. So gesehen war es verwunderlich, dass er mir eine weitere Nacht an unserem seltsamen Zufluchtsort zugestanden hatte. Wobei sich mir natürlich die Frage stellte, ob es nicht das Allerbeste wäre, wenn ich genau hier auf die Verfolger wartete. Auf den Verfolger, auf Duncan.

»Ich hoffe, du hast deinen Kater jetzt hinter dir«, brummte Ulf nicht gerade freundlich.

»Was meinst du mit Kater?« Zu meiner Überraschung lag ich unter Ulfs Jacke, es war wunderbar warm und gemütlich darunter. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er mich zugedeckt hatte.

»Einen Kater kriegst du, wenn du in kurzer Zeit viel Wein und Sekt in dich hineinschüttest und es nicht gewöhnt bist. Daher die Kopfschmerzen und der Schwindel. Bist du nun wieder nüchtern und zurechnungsfähig? Kannst du aufstehen?«

Der Kerl beleidigte mich schon, bevor ich richtig wach war. Gern hätte ich ihm eine scharfe Antwort erteilt, aber das war mir so früh am Morgen zu anstrengend. Mein Kopf machte noch nicht richtig mit.

Ulf hatte mir wieder Wasser gebracht. Im Stiefel, etwas anderes hatte er nicht, aber ich lernte gerade, an was man sich alles in der Not gewöhnen konnte. Außerdem hatte er meine schmerzenden Fußsohlen behandelt: mit einer dicken Lage Moos, umwickelt mit ein paar langen Gräsern. Ich hatte ihn einfach machen lassen, in der Hoffnung, dass er wusste, was er tat.

Spät am Abend war er vom Baum gestiegen und bis in die Nacht fortgeblieben. Bei seiner Rückkehr hatte er einen recht zufriedenen Eindruck gemacht. Ich selbst verspürte Hunger, je länger ich nun wach war.

Ich schaute in das prächtige grüne Laubdach über mir, durch das ein paar Sonnenstrahlen bis zu mir herabdrangen. An diesem Morgen ließen sich die Eichhörnchen nicht blicken, dafür hingen über mir zusammengefaltete Fledermäuse.

»Ich brauche erst was zu essen, ich bin schwach vor Hunger. Du nicht?«

»Nicht sehr. Gib mir meine Jacke und zieh das hier an.« Ulf warf mir ein Bündel zu. Ich fing es nicht auf, sondern ließ es neben meinem Lager auf den Boden plumpsen. Nachlässig zog ich es näher zu mir heran. Das Bündel enthielt eine schmutzig-grau verwaschene Hose und ein graues und nur noch an den Nähten blaues Hemd.

»Woher hast du das?« Ich überlegte, wann er das Zeug besorgt hatte und kam zu dem Schluss, dass es in der Nacht gewesen sein musste. Und wahrscheinlich hatte er auch etwas zu essen aufgetrieben, mir aber nichts mitgebracht. Schlau wurde ich aus ihm immer noch nicht. Warum gab er sich mit mir ab? Vergangenen Abend, als er mir plötzlich näher und näher gerückt war, hatte ich gewaltige Furcht vor ihm gehabt. Dabei hatte er am Ende nur nachgesehen, ob mein Bett aus Laub und Farnkraut noch in Ordnung war.

Später, als es so dunkel geworden war, dass ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte, hatte ich vorsichtig in meinem Mieder nach meinen Schätzen getastet. Sie waren alle da: der Mondstein, der Schlüssel und Gorts geschnitzte Distel. Ulf hatte gemerkt, dass ich dort etwas versteckte. Er hatte mich darauf angesprochen, mich aber nicht gezwungen, meine Schätze herauszurücken. Stattdessen hatte er seine Befragung wieder aufgenommen.

Ich hatte ihm so viel erzählt, nur was alles? Ich wusste es nicht mehr genau, aber an eins erinnerte ich mich.

»Worauf wartest du?« Ulf wurde ärgerlich.

»Gleich.« Ich beugte mich vor und sah ihn mit brennendem Blick an. »Ich hab dir doch von Duncan und Gort erzählt.« Ich hatte ihm das mitgeteilt, was mich am meisten beschäftigte, weil ich mir unbedingt über etwas klar werden musste und es allein nicht schaffte.

Ulf nickte unwillig. »Was soll das denn jetzt? Vergiss es.«

»Glaubst du, Duncan ist die Bestie, die Gort zerfleischt hat?«

Das war die Frage, die mir seit dem Ballabend durch den Kopf spukte, die ich aber bisher nie zu Ende denken, geschweige denn aussprechen mochte. Nicht einmal meinem Vater gegenüber. Es war zu ungeheuerlich.

Ulf verdrehte die Augen. »Du bist vor ihm davongelaufen, warum wohl?«

Weil ich so verwirrt war, hätte ich antworten können, aber nun war mein Kopf wieder klarer – etwas wenigstens.

»Er kann es nicht gewesen sein, ich kenne ihn doch. Er hat so hohe Grundsätze, weißt du. Er hat Ehre. Und mein Vater schätzt ihn«, flüsterte ich. Und überhaupt konnte sich ein Mensch nicht in eine Bestie verwandeln. Was hatte Ulf gefragt? Ob ich wieder zurechnungsfähig sei? Mit Ulf ließ sich über komplizierte Dinge nicht reden. Bestimmt nicht über meine häufigen Zweifel an der Wirklichkeit und an meiner Wahrnehmung. Mit allen Fasern sehnte ich mich nach einem Glas von Eadhas wundervollem Morgen- oder Abendtrank. Danach hätte ich mich sehr viel besser gefühlt. Es tat mir leid, das Thema angeschnitten zu haben, denn ich erkannte, dass ich von Ulf keine Hilfe zu erwarten hatte.

Ich stand auf, das Hemd in der Hand, im Begriff, es mir überzustreifen.

Meine Füße schmerzten überraschend.

»Zieh erst einmal dieses blaue Oberteil aus«, wies mich Ulf an, der mich interessiert beobachtete. »Das muss dir doch vorn alles mächtig zusammenschnüren.«

Wie der Blitz stülpte ich mir das Hemd über den Kopf. »Hör auf, mir auf die Brust zu starren, ja? Du bist ein Flegel!«, schrie ich, als ich es herunterzog. Leider waren von ehemals fünf nur noch zwei Knöpfe zum Schließen übrig. Ausgerechnet die ersten fehlten, sodass oben noch recht viel von meinem Mieder hervorlugte. Und dummerweise hatte ich keine Nadel, um den zerfransten Ausschnitt zusammenzustecken.

»Was schreist du so? Du bist es doch, die ihre Dinger heraushängen lässt.«

»Es heißt Brüste«, sagte ich eisig.

Endlich wandte er sich ab und verschwand die Baumtreppe hinab nach unten.

Rasch schlüpfte ich in die Hose. Zu dem Kleiderbündel gehörte auch ein Strick, den ich mir anstelle eines Gürtels über dem Hemd um die Taille band. Vorne raffte ich das Hemd, das mir viel zu weit war, so zusammen, dass von meinem blauen Seidenmieder mit den aufgestickten Perlen nichts mehr zu sehen war. Ich durfte mich nur nicht vorbeugen. Die Hosenbeine hatte ich mehrmals umkrempeln müssen, damit sie nicht auf dem Boden schleiften. Wem immer diese Sachen gehört hatten, war mindestens einen Kopf größer als ich und hatte doppelt so breite Schultern. Ich musste aussehen wie eine Vogelscheuche. Erstmals widmete ich mich auch meinen Haaren. Soweit ich das feststellen konnte –- ich besaß ja keinen Spiegel –, hatte sich meine Frisur weitgehend aufgelöst, denn die meisten Haarnadeln waren auf meiner Flucht verloren gegangen. Die restlichen hielten ein paar Strähnen auf dem Oberkopf fest, aber das meiste Haar fiel mir unordentlich über die Schultern auf den Rücken. Es würde schwierig werden, meine Haare in Ordnung zu bringen, wenn ich mal Zeit dafür hatte. Aber zu einer Vogelscheuche passten sie so wie sie waren hervorragend.

Der Waldboden unter dem Baum sah aus wie frisch gepflügt. Tiefe Furchen zogen sich durch die Erde.

Ich hielt mich am Stamm fest, einen Meter über dem Boden.

»Was ist hier passiert?« Wir verließen gerade den Elfenbaum, es kam mir vor, als hätte ich mein halbes Leben darauf verbracht, und zwar die ungemütlichere Hälfte. Dennoch hatte er mir ein bisschen Sicherheit geboten und eine dringend nötige Verschnaufpause. Jetzt fing alles von vorn an: die Flucht und die Zweifel, ob ich überhaupt fliehen musste. Wenn ich bloß mehr über die Bestie wüsste, wenn ich bloß herausfinden könnte, ob Duncan ... Ich mochte nicht weiter darüber nachdenken, der Gedanke löste zu viel Schmerz aus. Aber über eins war ich mir immer noch im Klaren: Ich liebte Duncan mit jeder Faser meines Herzens, gerade deshalb fiel es mir so schwer, über seine Rolle in meinem ganzen Unglück nachzudenken.

»Eine Rotte Schwarzkittel ist vorbeigekommen.« Ulf grinste zu mir herauf. »Kamen genau richtig. Haben alle unsere Spuren beseitigt. Steig auf meinen Rücken. Und nimm wieder meine Stiefel.«

»Warum?«

»Frag nicht ständig, das ist lästig.«

Und mir ist es lästig, dass du mir dauernd Anweisungen, aber keine Erklärungen gibst, dachte ich aufgebracht.

Um nicht erneut mit ihm einen Streit zu beginnen, der mich nur Kraft gekostet hätte, schwieg ich und kletterte auf seinen Rücken, nachdem er mir die Stiefel gereicht hatte. Warum bloß wollte er unbedingt barfuß laufen? Nach einigen Metern schaute ich zurück und sah zu meiner Überraschung keine menschlichen Fußspuren in der aufgewühlten Erde. Abdrücke gab es schon und sie mussten von Ulf stammen. Was hatte er mit seinen Füßen gemacht? Ich versuchte an ihm hinabzuschielen, aber er trabte so rasch, dass ich mich nicht weit genug vorbeugen konnte, ohne hinunterzufallen.

»Sitz still, ja?«, knurrte er.

Er trabte zum Bach. Noch bevor er ihn erreicht hatte und ins Wasser ging, begriff ich, warum er diesen Weg wählte und zwar bereits zum zweiten Mal. Im Wasser waren Spuren schwer zu verfolgen. Aber etwas wollte ich doch wissen.

»Und was sind Schwarzkittel?«

»Wildschweine.«

Hatte er die Wildschweine angelockt oder waren sie uns aus eigenem Antrieb gefällig gewesen? Ulf, stellte ich fest, gab mir beinahe so viele Rätsel auf wie Duncan, nur dass mich die des Letzteren so entsetzlich schmerzten.

Während Ulf durchs Wasser trabte, fragte ich mich, wie lange Duncan mit den Spürhunden nach mir suchen würde. Der Bach führte uns bis an den Waldrand und dort sollte ich von Ulfs Rücken herunterrutschen.

»Ab jetzt kannst du laufen«, sagte mein Begleiter, »wenn’s dir genehm ist.«

»Sicher.« Ich hatte noch vor dem Aufbruch den Moosverband entfernt und festgestellt, dass meine Fußsohlen besser aussahen. Aber sie schmerzten, sobald ich auftrat und nun ging ich wie auf Messern und verstand das nicht. Wieso jetzt diese starken Schmerzen, da die Schnitte beinahe verheilt waren? Alle paar Schritte blieb ich stehen, nicht nur die höllischen Schmerzen zwangen mich dazu. Die grelle Sonne war kaum auszuhalten. Obwohl es noch früh am Morgen war, stach sie mir unerträglich in die Augen. Alles war unerträglich. Das Gezwitscher der Vögel, das Kratzen des rauen Hemds auf meiner Haut, die schmerzenden Füße. Ich hätte schreien können.

Am liebsten wäre ich umgekehrt, hätte erst einmal meine brennenden Füße im Bach gekühlt und dann den Weg zurück zum Elfenbaum gesucht. Der Baum erschien mir wie eine wundersame Zuflucht, die ich nie hätte aufgeben dürfen. Lieber im Baumbett vor mich hindämmern, als in dieser grellen Sonne sinnlos herumzulaufen, wo jeder Schritt eine Höllenqual bedeutete.

»Meinst du, Duncans Hund könnte unsere Spur jetzt nicht mehr aufnehmen?«, brachte ich angestrengt hervor. Es nützte nichts, ich musste mir über Duncans Absichten Klarheit verschaffen, das war das Allerwichtigste. Ich glaubte nicht, dass Ulf, was Duncan betraf, ehrlich zu mir war. Mein Instinkt sagte mir, dass die beiden so etwas wie natürliche Feinde waren, aber ich hoffte, durch genug Fragen etwas herauszubekommen.

»Welcher Hund?«, fragte Ulf erstaunt.

»Worüber sprechen wir denn? Ist das nicht klar?«, gab ich gereizt zurück. »Duncan ist uns doch mit einem Hund gefolgt, einem Spürhund. Vielleicht auch zwei oder drei Hunden. Deswegen bist du doch durch den Bach gelaufen.« Ich verstummte verwirrt, denn Ulf sah mich beinahe mitleidig an, fast, als zweifelte er an meinem Verstand.

»Wir haben doch immer wieder das Heulen gehört. Wer soll denn sonst so geheult haben, wenn nicht ein Hund?«

»Kennst du dich mit Heulen so aus?«

»Na ja«, meinte ich verwirrt, »wenn kein Hund geheult hat, was dann?«

»Wie wär’s mit einem Wolf? Und können wir nun weiter? Wir gehen zu diesem Bauernhaus.«

Nicht weit von uns entfernt stand in einem Stoppelfeld ein seltsames Holzkreuz. Ich starrte wie blind auf dieses nackte Kreuz und schauderte.

»Ein Wolf? Wie kommst du denn jetzt auf Wolf? Ich versteh überhaupt nichts mehr.«

Er hatte Wolf gesagt. Was war das für ein Kreuz?

»Wieso ein Wolf?«, nahm ich den Faden wieder auf. »Es war bestimmt ein Hund. Duncan will mich zurückholen, ich weiß es. Er muss mich zurückholen, er gibt niemals auf und warum sollte er auch? Ich bin ihm doch versprochen, ich hab ihm selbst gesagt, dass ich ihn heiraten werde und so ein Versprechen bindet. Es war falsch, wegzurennen, es war alles ein großer Irrtum, ich hab’s dir schon mal gesagt. Ich muss zurück. Das siehst du doch ein, nicht wahr?«

Ulf antwortete nicht.

»Ulf? Das siehst du doch ein?« Meine Stimme schwankte. Leider verfing mein Versuch nicht, ihn dazu zu bringen, meine Gedanken für mich zu klären und mich in Hoffnungen zu bestärken, an die ich mich so hartnäckig klammerte.

Er hatte den Kopf vorgestreckt und deutete in die Senke vor uns. »Da ist gerade eine alte Frau aus dem Haus gekommen. Sie hat uns entdeckt.« Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. »Ich frag sie, ob sie was vom Frühstück übrig hat.«

Der Hof bestand aus drei Gebäuden mit tief herabgezogenen Binsendächern, dazwischen lag eine freie, mit einem großen Baum bestandene Fläche, wo ein paar weiße Hühner scharrten.

Auf einmal musste ich an Rühreier denken. Locker, gelb, leicht gesalzen und in Butter schwimmend. Und gebackene Bohnen dazu. Und frisches Brot. Unversehens lief mir das Wasser im Mund zusammen. Alles, an was ich noch denken konnte, war Essen. Wenn ich erst einmal etwas im Magen hatte, würde es mir leicht fallen, alles im richtigen Licht zu sehen und meine Zweifel zu begraben. Vielleicht liehen mir die Bauersleute ein Pferd, auf dem ich nach Hause reiten konnte.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Der Schmerz zuckte mir das ganze Bein hinauf. Ulf hatte inzwischen Vorsprung gewonnen, und er hatte sich nicht einmal nach mir umgedreht. Um ihn einzuholen, musste ich die Schmerzen überlisten. Ich sog scharf die Luft ein, spannte meine Muskeln an und rannte los. Meine Sohlen brannten wie im Feuer und Tränen liefen mir unaufhaltsam die Wangen hinab. Dennoch blieb ich nicht stehen. Endlich wandte sich Ulf nach mir um, streckte mir eine Hand entgegen, aber ich preschte an ihm vorbei. Noch hundert Meter bis zu diesem Hof.

Gut, dass der Weg abschüssig war. Das machte das Rennen leichter. Mir verschwamm alles vor den Augen und deshalb sah ich das Hindernis nicht. Ich strauchelte über einen Stein, wurde aber aufgefangen. Ulfs Hand hielt mich fest, und ehe ich noch ganz begriff, was er wollte, hatte er mich hochgehoben und trug mich das letzte Stück.

»Möchte wissen, was in deinem Kopf vorgeht. Erst bleibst du störrisch wie ein Esel stehen, dann rennst du wie eine Irre diesen Weg hinunter. Warum machst du so was Blödes? Du erschreckst die Leute.«

Ich wimmerte nur. Als er mich auf die Füße stellte, brannten sie, als würden sie auf einer Herdplatte geröstet. Ulf musste mich halten, damit ich nicht umfiel.

Jetzt erst nahm ich die Frau zur Kenntnis. Sie wandte den Kopf und rief etwas über die Schulter zurück zur offenen Haustür. Gleich darauf trat ein Mann heraus und stellte sich neben sie. Beide waren alt und blickten äußerst misstrauisch drein. Der Mann hatte eine scharfzinkige Heugabel mitgebracht und richtete sie gegen uns. Das fand ich reichlich unfreundlich.

Mit Bauern kannte ich mich nicht aus. Die in der Nähe des Schlosses grüßten scheu oder ehrerbietig, wenn ich vorüberritt, aber gesprochen hatte ich nie mit ihnen. Jetzt tauchte auch noch ein Hund auf, ein mittelgroßer mit zotteligem, braunem Fell. Er näherte sich Ulf von der Seite, zog die Lefzen hoch und knurrte bedrohlich. Anscheinend sah er in Ulf die größere Gefahr als in mir.

Ulf gab einen Laut von sich, ein kehliges Keuchen oder Bellen. Sofort klemmte der Hund den Schwanz ein, drehte die Ohren nach hinten und wich winselnd zurück.

»Was wollt ihr?« Der Mann fuchtelte mit der Heugabel durch die Luft.

Aus dem Stall waren das Muhen einer Kuh und das Meckern einer Ziege zu hören.

»Etwas zu essen«, antwortete Ulf ruhig, »und entschuldigt, dass wir hier so einfach bei euch reinplatzen. Aber wir kommen nicht mit bösen Absichten. Wir sind nur hungrig.«

Die beiden Alten sprachen gleichzeitig.

»Wir haben nichts«, brummte der Mann.

»Wir können nichts geben«, sagte die Frau gequält. Unverwandt schaute sie mich an und dabei füllten sich ihre Augen langsam mit Tränen. Da war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei.

»Ich kann nicht mehr«, schluchzte ich auf, »mir ist so sterbenselend zumute. Habt ihr denn gar kein Mitleid?« Meine Beine gaben nach, ich sank auf die Knie.

»Kommt ins Haus«, sagte der Mann barsch, »rasch, bevor euch jemand sieht.«

Noch im Alter war der Mann groß, breitschultrig und sichtlich kräftig, ging aber so gebeugt, als hätte er allzu lange zu schwer gearbeitet. Seine Frau erinnerte mich an Eadha, sie hatte fast die gleiche rundliche Figur. Aber vor allem huschte immer wieder ein Schatten über ihr Gesicht, eine Bedrücktheit, die ich von meiner Dienerin allerdings nur kannte, wenn sich diese unbeobachtet glaubte. Ja, diese Bauersfrau bedrückte etwas. Und auch den Mann.

Dabei hatten es die beiden recht behaglich. Das Haus erwies sich als geräumiger, als von außen zu vermuten war. Wir wurden in eine große Küche geführt, von der ich durch eine offene Tür einen Blick in die Wohnstube werfen konnte. Bunte, gemusterte Leinenvorhänge hingen vor den Fenstern und in einer Ecke stand ein grüner schimmernder Kachelofen, ein wahres Prachtstück, auf dem ein paar kupferne Kannen thronten.

Während die Frau auf meine Bitte Milch holen ging, schnitt der Mann dunkles Brot auf und stellte es nach kurzem Zögern zusammen mit einem großen Stück Käse auf den Tisch. Ich wagte nicht zu fragen, ob ich außerdem Rühreier haben konnte. Der Hund war auch mit hereingekommen und ließ Ulf nicht aus den Augen. Immer wieder musste der Bauer seinen Hund ermahnen, nicht zu knurren, setzte ihn aber auch nicht vor die Tür, was für die Atmosphäre in der Küche entschieden besser gewesen wäre.

»Früher hätten wir uns geschämt, nicht von uns aus einem Bedürftigen gegenüber gastfreundlich zu sein. Nie hätte uns jemand bitten müssen. Aber die schlechten Zeiten haben die Sitten verkommen lassen«, sagte die Frau leise und goss Milch für mich ein. »Nun langt auch zu.«

Schweigend und besorgt sahen uns die Bauersleute beim Essen zu. Ich stürzte mich auf die kühle Milch, aß hastig Brot und Käse, ich stopfte mich geradezu voll und wartete darauf, dass ich mich besser fühlte. Ulf aß sehr bedächtig ein Stück Brot zusammen mit etwas Käse. Nichts deutete bei ihm auf tagelanges Fasten hin.

»Lebt ihr ganz allein hier?«, fragte ich schließlich, weil ich es unhöflich fand, mich nicht mit unseren Gastgebern zu unterhalten.

»Unser letzter Knecht ist voriges Jahr gestorben«, antwortete der Mann brummig, »er war älter als ich.«

»Ihr macht alle Arbeit allein?« Ich hatte nicht viel Ahnung von der Arbeit eines Bauern. Hin und wieder hatte ich gesehen, wie gepflügt oder geerntet wurde. Was gab es sonst noch zu tun? Stallarbeit? »Habt ihr keine Söhne, die euch helfen könnten?«

Die Alte schlug die Hand vor den Mund.

»Wo lebst du denn?«, polterte der Mann plötzlich los. »Ich frag mich die ganze Zeit schon, wo ihr herkommt. Wer seid ihr? Ich erinnere mich nicht, wann ich zuletzt einen kräftigen jungen Mann gesehen habe, der ungehindert durch die Gegend streunt. Dass kann nur heißen, dass ihr auf der Flucht seid.«

»Das heißt gar nichts«, wandte Ulf ein.

»Vor sechs Jahren haben sie unsere beiden Buben geholt.« Die Frau wischte sich unauffällig mit der Schürze über die Augen.

Natürlich, auf einmal war mir alles klar. Die Söhne dieser Familie arbeiteten in den Bergwerken oder in einer der neuen großen Fabriken.

»Sie sind Bergleute, nicht wahr?«

»Bergleute?« Der Alte erhob sich schwerfällig vom Tisch, der Hund begann wie verrückt zu kläffen. »Sie sind Sklaven! Sie sind nicht freiwillig mitgegangen, das kannst du mir glauben. Und sie werden gefangen gehalten, bis sie verreckt sind.«

Ich spürte, wie sich ein drückender Ring um meinen Kopf bildete. Das Denken wurde wieder zu einer Anstrengung und überhaupt fühlte ich mich keinen Deut besser. Nur satt, aber das war eine sehr viel geringere Erleichterung, als ich erwartet hatte. Ich wusste von den Bergwerken nördlich von Sruighlea und davon, dass viele kräftige junge Männer und sogar Frauen dort arbeiteten. Nur hatte ich nie darüber nachgedacht, ob sie es freiwillig taten.

Der Blick der Frau spiegelte nackte Panik. »Sei still!«, beschwor sie ihren Mann. »Wir haben ein Papier erhalten, eine Art Vertrag, den wir und die Jungen unterzeichnen mussten. Und wir bekommen manchmal eine Kornzuteilung, wenn unser eigenes nicht reicht.«

»So sollte es auch sein, und sicher erhalten eure Söhne einen angemessenen Lohn für ihre Arbeit«, sagte ich unsicher. »Dafür gibt es Gesetze.«

»Das Beste ist, man hört ihr nicht zu«, mischte sich Ulf auf einmal ein, »sie ist ein bisschen zurückgeblieben.« Er tippte sich vielsagend an die Stirn. »Aber sie ist harmlos.«

Der Mann langte über den Tisch, griff nach Ulfs Hand, drehte sie um und starrte verblüfft darauf. »Ich hätte schwören können, du hast noch nie im Leben hart gearbeitet. Aber du hast Schwielen an den Händen, genau wie ich. Also, wer bist du und wer ist das Mädchen? Und wieso lauft ihr frei herum?«

»Bitte! Ich bin weder verrückt noch zurückgeblieben«, erklärte ich energisch. Endlich gab der Hund Ruhe, das hieß, er bellte nicht mehr, sondern knurrte nur. »Wenn ihr eure Söhne zurückhaben wollt, werde ich mich dafür einsetzen, das verspreche ich euch.« Fragte sich nur, ob ich jemals eine Gelegenheit dazu haben würde.

Der Bauer kam nicht dazu, sich zu meinem großartigen Versprechen zu äußern, das für ihn vermutlich ein Beweis meiner geistigen Zurückgebliebenheit war und im Nachhinein sogar mir selbst so erschien.

Der Hund sprang Ulf an. Als hätte er den Angriff geahnt oder längst damit gerechnet, packte er das Tier im Genick und drückte es mit einer Hand an den Boden.

»Ganz ruhig, mein Freund. Kein Laut mehr, verstanden?«, sagte er mit einer so tiefen Stimme, dass sich mir die Nackenhaare sträubten. Der Hund erschlaffte regelrecht. Als Ulf ihn freigab, rührte er sich nicht mehr. Nur der Schwanz wischte ganz sacht über den Boden. »So ist es besser«, fügte Ulf in normaler Stimmlage freundlich hinzu.

Einen Augenblick herrschte Stille in der Küche, dann ließ sich der Bauer wieder am Tisch nieder. »Mit dem Hund wird außer mir sonst niemand fertig«, murmelte er. »Was hast du gesagt?«, wandte er sich unsicher an mich.

»Das ist Nuins Hemd, ich hab’s selbst für ihn genäht«, mischte sich die Frau ein. Sie hatte die ganze Zeit nicht aufgehört, mich anzustarren. »Sie trägt die Sachen, die du der Vogelscheuche oben im Kornfeld angezogen hast.«

Deutlich hatte ich das Holzkreuz vor Augen, diesmal aber mit Hemd und Hose bekleidet. Ich fasste mir vorn ans Hemd und drehte mich zu Ulf um. »Ich trage die Sachen von einer Vogelscheuche

»Na, und? Was anderes konnte ich nicht finden.« Er sprach die Frau an. »Das Feld ist abgeerntet, für dieses Jahr braucht ihr keinen Schutz mehr vor Vögeln, die euch die Saat wegfressen.«

»Nuins Hemd und Ailms Hose«, sagte die Frau zu mir. »Jedes Jahr, wenn der Steuereintreiber kommt und uns alles bis auf das Allernötigste zum Überleben wegnimmt, flehen wir um eine Nachricht von unseren Söhnen. Dies war einmal ein schöner Hof mit reichlich Vieh. Jetzt ist alles weg bis auf eine Kuh, die Zugochsen und ein paar Ziegen. Aber das ist sicher recht so, der Hof hat ohne unsere Söhne sowieso keine Zukunft!« Ihre Augen wurden plötzlich riesengroß. »Jetzt hätte ich glatt die Hühner vergessen. Ich muss sie reinholen, das hätte ich gestern schon machen sollen. Hast du nicht gesagt, die Eintreiber könnten jeden Tag kommen?«, fragte sie ihren Mann. »Sie sollen nicht auch noch die Hühner kriegen.«

»Ja, versteck die Hühner im Loch unter der Scheune. Geh schon, ich helfe dir, sobald ich mit den beiden hier fertig bin. Wer seid ihr? Wo kommt ihr her und wo wollt ihr hin? Rückt endlich mit der Sprache heraus. Ich habe keine Angst vor dir«, blaffte er Ulf an, »auch wenn mein Hund vor dir kuscht, sobald du nur mal mit den Fingern schnippst.« Ein rascher Blick des Bauern streifte die Heugabel, die er in eine Ecke neben den Herd gestellt hatte. »Wieso braucht das Mädchen die Sachen unserer Vogelscheuche?«

Ulf blieb gelassen. »Das ist meine Schwester und ich bin Ulf, ich wollte uns schon die ganze Zeit vorstellen, was immer euch das nützt.«

»Ihr seht nicht wie Geschwister aus, nicht ein bisschen.« Der Bauer langte nun tatsächlich nach der Heugabel. »Erzähl mir keine Märchen.«

Ulf ließ sich davon nicht beeindrucken. »Glaub, was du willst. Wir sind seit Tagen auf der Flucht, es ist erstaunlich, dass wir es bis hierher geschafft haben«, begann er langsam, die Hände friedfertig auf der Tischplatte gefaltet. »Meine Schwester ist nicht die Kräftigste. Bis vor einem Monat habe ich mit unserem Vater zusammen ein Fuhrgeschäft betrieben. Wir waren für Getreidelieferungen zuständig. Aber vor vier Wochen starb mein Vater und dann hieß es, das Geschäft wird nun mit dem eines anderen zusammengelegt. Ich hatte keine Arbeit mehr. Aber dann erhielt ich eine Aufforderung, ins Rathaus zu kommen.«

»Das genügt«, wandte der Bauer ein, »erzähl mir besser nicht, woher ihr stammt. Deinen Namen vergesse ich auch sofort wieder. Ich hätte gar nicht erst fragen sollen. Flüchtlinge, ja, jetzt sehe ich es, Flüchtlinge wie so viele andere, du hättest es gleich zugeben können. Geht nach Edradour, das ist eine kleine Stadt eine Tagesreise im Norden von hier oder kommt ihr von dort?«

Ulf schüttelte den Kopf.

»Dann taucht dort unter, mehr kann ich euch nicht raten.«

Ich dachte daran, dass uns das vermutlich auch nicht weiterbrachte. Wie ich Duncan einschätzte, hatte er längst dafür gesorgt, dass über die Signaltürme eine Beschreibung von mir verbreitet wurde.

Ich sah Ulf an. »In einer Stadt bin ich auch nicht sicher.«

Er schien nicht zu verstehen, seine Miene war undurchdringlich geworden. Da ging mir auf, dass der Bauer noch etwas gesagt hatte, und anscheinend bereute er es schon. Er wirkte verlegen.

»Ach«, sagte nun seine Frau, »das ist doch nur eine Legende.«

»Eine Legende?«, hakte ich ein. »Mit Märchen und Legenden kenne ich mich bestens aus. Ich habe etwa hundert Bücher darüber.«

»Bücher?«

Da hatte ich etwas Falsches gesagt. Welcher Fuhrmann hatte schon eine Bibliothek mit gleich hundert Märchenbüchern? »Na ja, keine hundert«, wandte ich rasch ein. »Viel, viel weniger«, ich dachte noch mal kurz nach. »Zwei, um genau zu sein.«

Der Gesichtsausdruck des Bauern blieb skeptisch, mit einer Spur Mitleid.

»Es bleibt dabei«, fuhr ich dennoch fort. »Ich kenne jedes Märchen und jede Legende.«

»Diese bestimmt nicht«, sagte der Bauer kurz angebunden. »Die findest du in keinem Buch.«

Ich wollte nicht zugeben, dass ich vorhin nicht aufgepasst hatte. »Erzähl doch einfach mehr darüber. Die ganze Legende.« Da meine geistige Abwesenheit nicht lange gedauert hatte, konnte er nicht sehr viel gesagt haben – über diese Legende.

»Legenden!«, schnaufte Ulf abfällig. »Wenn einem nichts Gescheites mehr einfällt, müssen Legenden her. Meine Schwester träumt mal wieder und glaubt ja nicht, dass wir Bücher zu Hause hatten. Nicht ein einziges. Die Legenden fantasiert sie sich selbst zusammen und ein paar hat sie halt von alten Weibern gehört, die nichts Besseres zu tun haben, als dummes Zeug von sich zu geben.«

Ich wunderte mich schon ein wenig über diese Bemerkung. Wer hatte mir denn erklärt, dass es im Elfenteich zwar keine Elfen, aber dafür Nixen gab? Und was war mit dem Elfenbaum? Hier stimmte etwas nicht.

»Na, diese hat sie nicht gehört, und ob sie nur dummes Zeug ist, kannst du nicht wissen«, erklärte der Bauer mit einem leicht kämpferischen Unterton. »Die Sage von den Toren erzählen sich die Leute hier seit Urzeiten.«

»Na, dann sollen sie so weitermachen, wenn sie Spaß daran haben«, schnitt ihm Ulf das Wort ab, erhob sich und griff nach meinem Arm, um mich hochzuziehen. »Aber uns betrifft das nicht.«

»Moment mal, ja?«, funkelte ich ihn an, stand auf und schob mich aus seiner Reichweite. »Ich möchte es einfach noch mal hören? Geht das?«, wandte ich mich an den Bauern.

»Sicher«, sagte er beunruhigt über unseren Wortwechsel. »Es gibt da diese Tore

»Tore!« Ulf lachte rau.

»Ja, Tore«, wiederholte der Bauer heftig, »sucht eines dieser Tore. Es heißt, man kann durch sie entwischen.«

Merkwürdige Legende. »Und wohin?«, fragte ich mehr aus Höflichkeit. Ich stellte mir ein hohes, breites Sandsteintor vor, ähnlich wie das, das bei uns in den Stallhof führte. Nur dass dieses Legendentor in meiner Vorstellung mitten in der Landschaft stand. Ein Tor wohin? Zur Hölle oder zum Himmel? Ulf hatte Recht, mit Legenden kamen wir nicht weiter.

Der Blick des Bauern flackerte. Wahrscheinlich dachte auch er gerade darüber nach, wie sich seine Torlegende anhören musste: irgendwie verrückt. Dennoch antwortete er, daran konnte ich erkennen, wie groß seine Sehnsucht war, einem Leben zu entkommen, das nur noch Leid bedeuten mochte.

»Durch diese Tore könnt ihr in eine Welt entwischen, in die euch niemand zu folgen vermag – falls ihr wisst, wie man sie öffnet.« Nun zuckte er resignierend mit den breiten Schultern. »Dumm nur, dass mir noch nie jemand begegnet ist, der eins gefunden hat. Also, am besten, ihr versucht es in Edradour, und am besten brecht ihr gleich auf. Der Weg dorthin ist weit.«

»Sag ich ja«, meldete sich Ulf.

»Nein.« Die Bäuerin stand noch an der Tür zum Hof, aber statt nach draußen ging sie auf eine Treppe zu, die von der Küche direkt ins Obergeschoss führte. »Sie hat nicht einmal Schuhe an. So können wir sie nicht wegschicken.«

Zu meiner Überraschung kam die alte Frau mit ein paar Sachen und Stiefeln die Treppe wieder herunter, bedeutete mir, mich zu setzen und ließ sich vor mir auf einem Hocker nieder. »Lass mich das machen«, bat sie schüchtern und nahm meine Füße einen nach dem anderen in die Hände. »Was für eine junge weiche Haut! Wie lange ist das her, dass ich junge Haut berührt habe.« Behutsam strich sie mir über Knöchel und Rist, bevor sie mir dicken Socken überstreifte. Damit war sie gerade fertig, als der Hund den Kopf hob und leise anschlug.

Die Küche nahm die ganze Breite des Hauses ein, das hieß, sie besaß Fenster an zwei sich gegenüberliegenden Seiten rechts und links von einer Tür. Während die eine auf den Hof mit den Hühnern führte, musste die andere die eigentliche Haustür an der Vorderfront sein. Der Bauer eilte zu einem der Fenster.

»Die Eintreiber kommen. Beeilt euch.«

Ich nahm der Bäuerin die Stiefel ab, fuhr hinein und sprang von der Bank auf. Der Schmerz ließ mich in die Knie gehen.

»Warte, nimm das noch.« Während ich mit meiner Schwäche kämpfte, drückte mir die alte Frau eine Jacke aus festem braunem Stoff in die Hand. »Die hat meinem Ailm mit zwölf gepasst, jetzt wird sie für dich genau richtig sein. Und nimm auch die Kappe.« Sie setzte mir die Kappe, die zur Jacke gehörte, auf den Kopf und begann, mir die Haare darunter zu stopfen.

Ich schlang die Arme um die alte Frau. »Ich danke dir, ich danke dir von Herzen. Ich werde eure Freundlichkeit nie vergessen.«

Ulf war neben den Mann getreten. »Vergiss die Hühner nicht, aber vergiss, dass wir hier gewesen sind.«

»Hab ich schon. Geht über den Hof, hinter der Scheune beginnt ein Weg durch die Felder.«

Schweren Herzens löste ich mich von der Alten. Sie kam mit in den Hof und scheuchte ihre Hühner zur Scheune. Als wir ihr dabei helfen wollten, versetzte sie das aber nur in Furcht.

»Geht, geht!« Pferdegetrappel und das Holpern eines Karrens drangen von der anderen Hausseite zu uns herüber. »Sie sind gleich da, sie müssen nur noch ums Haus bis in den Hof.« Die Bäuerin verschwand mit den Hühnern in der Scheune, kam aber sofort wieder heraus und drückte Ulf zwei Eier in die Hand. »Wir hätten euch Wegzehrung mitgeben müssen. Nun hab ich nur die Eier für euch.«

Ulf bedankte sich. Während die Frau zurück in die Scheune hastete, schlug er eins der Eier auf und trank es aus. »Willst du das andere?«, fragte er mich.

»Roh? Igitt!«

»Du weißt nicht, was gut ist.« Er schlug das nächste auf. »Hier lang!« Er strebte nicht sonderlich rasch auf die nächstgelegene Hausecke zu.

»Wir sollen den Weg hinter der Scheune nehmen und uns beeilen«, zischte ich. Die Furcht der Bauersleute hatte mich angesteckt.

Inzwischen waren Stimmen zu hören. Der Steuereintreiber würde mit seinen Männern jeden Moment aus der anderen Richtung im Hof auftauchen.

»Ich will erst wissen, was hier vor sich geht. Du nicht? Bist du überhaupt nicht neugierig?«

Ulfs Vorhaben, erst noch abzuwarten, was sich tat, hielt ich für leichtsinnig und überflüssig, aber dann überkam mich eine ganz andere Idee. Warum sollte ich mich nicht dem Steuereintreiber zu erkennen geben? Musste er nicht sofort meinen Schutz übernehmen? Schließlich war er als königlicher Beamter auch dazu verpflichtet. Ich konnte ins Schloss zurückkehren, ohne auf Duncans Hilfe angewiesen zu sein. Alle alten Zweifel verdrängte ich so rigoros, dass mich nur noch Erleichterung durchflutete.

Ich stolperte in den zu großen Stiefeln hinter Ulf her zur Hausecke. Meine Füße schmerzten immer noch, aber das konnte bald vorbei sein, ich musste ja nicht zu Fuß nach Hause zurückkehren.

Ulf drückte mich hinter der Hausecke an die Wand. Hier wuchs Efeu die Mauern empor, der genug Sichtschutz bot, dass wir es wagen konnten, um die Ecke zu lugen, ohne gleich entdeckt zu werden.

Ein Leiterwagen fuhr in den Hof, von zwei kräftigen Pferden gezogen. Vier Männer begleiteten ihn, drei davon waren schwer bewaffnete Soldaten. Einer stieg vom Bock des Karrens und ließ die Peitsche, die er in der Hand behielt, knallen.

»Was ist denn das hier für ein Empfang? Wo ist der Bauer?«, grölte er.

Meine Aufmerksamkeit war vor allem auf den Steuerbevollmächtigten gerichtet, ich wollte sehen, was er für einen Eindruck auf mich machte und dann entscheiden, ob ich es wagen konnte, mich ihm zu erkennen zu geben. Es war ein noch junger, schlanker, groß gewachsener Mann in blank gewichsten Stiefeln und einer strengen dunklen Uniform. Ich fragte mich, ob er mir etwas über das Befinden meines Vaters sagen konnte. Wahrscheinlich nicht. Die Männer, die über Land zogen, um die Steuern direkt einzutreiben, hatten nur eine subalterne Stellung in der Hierarchie der Beamten inne.

Die Tür flog auf und der Bauer schlurfte heraus. »Hab nicht so früh mit euch gerechnet«, sagte er.

»Du solltest immer mit uns rechnen und als ehrlicher Mensch hast du nichts zu befürchten«, entgegnete der Beamte und runzelte die Stirn. »Wo ist deine Frau?« Er hielt ein großes Buch unter dem Arm, das er nun aufklappte und in dem er ein paar Seiten umblätterte. »Wird’s bald? Wo ist deine Frau? Du lebst hier mit ihr allein, steht hier.«

»Soll ich ihm Beine machen?«, mischte sich der Soldat mit der Peitsche ein und lachte rau.

Eine knappe Handbewegung des Beamten ließ ihn abrupt verstummen.

»Sie war gerade noch hier. Da kommt sie«, nuschelte der Bauer.

Die alte Bäuerin tauchte aus der Scheune auf und wischte sich die Hände an ihrer blauen Schürze ab. Sobald sie die Besucher erreicht hatte, blieb sie in unterwürfiger Haltung neben ihrem Mann stehen.

»Was hast du in der Scheune gemacht?«, fragte der Beamte.

»Nach den Kornsäcken gesehen. Ich hab befürchtet, dass sich die Mäuse darüber hergemacht haben, aber es ist alles in Ordnung. Mein Mann bringt die Säcke gleich heraus.«

»Wie viele Säcke Korn habt ihr geerntet? Und was habt ihr an Heu? Was ist mit Vieh? Hat eure Kuh gekalbt, wie viele Zicklein haben die Ziegen geworfen ...«

Für mich hatte die Befragung nichts wirklich Bedrohliches, aber der harsche Ton des Mannes gefiel mir nicht. Sicher war der Mann als Steuereintreiber nicht beliebt, er gab sich aber auch keine Mühe, wenigstens einigermaßen höflich zu sein. Ich mochte mir kein Urteil darüber bilden, ob die Klagen der Bauersleute über zu hohe Abgaben berechtigt waren oder nicht, das wäre mir zu voreilig erschienen. Und ihre Sorgen waren nicht das, womit ich mich derzeit zu beschäftigen hatte. Noch hatte ich mich nicht entschieden.

Der Bauer und seine Frau vermieden es ängstlich, einem der Soldaten, die sich breitbeinig vor ihnen aufgestellt hatten, ins Gesicht zu sehen.

»Noch einmal«, forderte der Beamte, »das ist nicht alles, nicht wahr? Ihr wisst, ihr seid verpflichtet, jedes Stück Vieh anzugeben. Es gehört zu meinen Aufgaben, an einer landesweiten Erhebung der Bestände mitzuwirken, damit wir eine gerechte Verteilung in die Wege leiten können. Niemand soll hungern, niemand benachteiligt werden.«

Das klang nach vernünftigen Gesetzen.

»Das hat Ihr Kollege uns letztes Mal schon erklärt«, stieß der Bauer mit sachter Aufsässigkeit hervor, »Sie brauchen es nicht zu wiederholen.«

Der Beamte schnippte mit den Fingern. Und ehe ich nur einmal Atem holen konnte, zischte die Peitsche durch die Luft und traf den Bauern so hart an der Schulter, dass er mit einem Schmerzensschrei in die Knie ging.

»Ich bitte mir Respekt aus!«, schnarrte der Beamte kühl. »Und du hast euren Besuch nicht erwähnt. Warum nicht? Als wir kamen, hab ich jemanden mit dir am Fenster gesehen. Zufällig ist mir aufgetragen worden, nach einer vermissten Person Ausschau zu halten. Und bevor du mir berichtest, wer sich in deinem Haus aufhält, erklärst du mir, warum deine Frau eine weiße Flaumfeder im Haar hat und du mir nichts von Hühnern erzählt hast.«

Ulf begann, an meinem Ärmel zu zerren, aber ich entzog mich mit einem Ruck. Ich würde es nicht zulassen, dass der alte Bauer noch einmal geschlagen wurde. Ich brauchte nur vorzutreten, und alles würde anders werden.

»Tu’s nicht«, zischte Ulf.

»Was ...?« Ruckartig wandte der Beamte den Kopf. Ich sah seine Augen gelb aufflammen, bevor ich mich in den Efeu drückte. Plötzlich empfand ich Angst vor diesem Mann.

Etwas schoss an mir vorbei und stürzte sich laut kläffend in den Hof.

Der Hund. Die Männer begannen aufgebracht zu schreien, die Peitsche knallte wieder, während mich Ulf energisch vom Haus fortzog. Jetzt hatte ich nichts mehr dagegen. Ich rannte freiwillig, so weit ich in den ungewohnten, viel zu großen Stiefeln und bei meinen Schmerzen rennen konnte.

»Sie werden uns kriegen«, keuchte ich.

»Nicht, so lange sie der Hund beschäftigt hält.«

Der Hund bellte immer noch.

Der Weg hinter der Scheune wurde von einer hohen buschigen Hecke gesäumt. Ulf stieß mich in die Hecke und befahl mir: »Lauf auf der anderen Seite weiter, lauf immer geradeaus, sieh dich nicht um. Ich finde dich schon.«

Das gefiel mir nicht.

»Und die Bauern? Ich will nicht, dass ihnen meinetwegen ein Leid geschieht. Ich muss zurück, es geht nicht anders.« Ich war jetzt fest davon überzeugt, dass die Soldaten aus dem Bauern und seiner Frau herausprügeln würden, dass ich bei ihnen aufgetaucht war. Ich musste umkehren.

»Sie wollen, dass du lebst und frei bist, begreif das endlich. Du machst nichts besser, wenn du zurückgehst.«

Ich zauderte. »Ich dachte, ich kann nach Hause.«

Ulf schnaubte verächtlich. »Dann geh. Du bist unbelehrbar. Aber sieh zu, wie du klar kommst.«

Als Ulf mich abrupt allein ließ, wand ich mich durch die Hecke und begann zu rennen.

Ich hatte mich im Dickicht eines kleinen Gehölzes verkrochen. Dort spürte Ulf mich auf, weigerte sich aber zu erklären, wie ihm das gelungen war. Auch über das Schicksal des Bauernpaars wollte er sich nicht auslassen, er erklärte nur, dass die beiden den Besuch des Steuereintreibers überlebt hatten. Ulf hatte eine Schramme auf der Wange und war ziemlich abgehetzt, scheuchte mich aber gnadenlos weiter.

»Und wohin?«

»Immer noch nach Edradour.«

»Warum?«

»Warum nicht? Hast du eine bessere Idee?«, gab er unwirsch zurück.

»Nein. Was sind das für Gesetze, nach denen Eltern die Kinder weggenommen und junge Leute zu Frondiensten verurteilt werden? Glaubst du, mein Vater weiß, was auf dem Land geschieht und wie sich seine Beamten benehmen? Was sie den Leuten antun?«

»Du machst dir Gedanken, was hier geschieht? Auf einmal? Bisher war bei dir immer nur von deinem gottähnlichen Duncan die Rede und wie sehr du ihn vermisst und liebst.«

Ich schwieg verstört. Ich konnte mich nicht erinnern, dauernd von Duncan geredet zu haben. Nur an ihn gedacht hatte ich ständig. Die Sehnsucht hatte nicht nachgelassen, und es fraß mich innerlich auf, nicht genau zu wissen, ob ich ihn wirklich fürchten musste.

Irgendwann fing ich an zu weinen. Erschöpfung und eine furchtbare Niedergedrücktheit, die jeden Atemzug zur Qual machte, hatten mich überkommen. Ulf ging in sich gekehrt neben mir her, vielleicht tat es ihm leid, dass er mich angefahren hatte, aber er entschuldigte sich nicht.

In der Ferne ragten Höhenzüge auf und zwischen ihnen breitete sich die Stadt aus, die wir noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollten. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das nicht schaffen würde.

Kapitel 1

Lynn

Vor uns bog ein Karren, gezogen von einer alten Mähre, von einem Feldweg in die Straße ein, die zur Stadt führte, aber bis dahin waren es noch etliche Meilen. Der Besuch im Bauernhaus lag nun einen Tag zurück. Wir wollten nach Edradour, genauer gesagt, Ulf wollte, er war nicht davon abzubringen. Mir war es inzwischen völlig egal, wohin es ging, ich schleppte mich nur noch Schritt für Schritt vorwärts und erwartete, irgendwann hinzufallen und liegenzubleiben. Dieser Karren hatte nur eine Achse, auf die ein hoher Holzkasten mit verwaschener Bemalung montiert war, von dessen Seitenwand allerhand herunterhing und klapperte, was mich fast in den Wahnsinn trieb. Es schepperte, dröhnte, klingelte, jeder Ton hallte in meinen Ohren wider und verstärkte den dumpfen Kopfschmerz, an dem ich wieder einmal litt.

»Können wir warten, bis sich dieser Karren ein bisschen entfernt hat? Mich bringt das Geklapper um den Verstand«, erklärte ich mit flacher Stimme.

»Dann hast du’s ja gleich überstanden«, sagte Ulf ungalant.

Es ging auf Mittag zu.

Ich fand, dass ich genug ertragen und genug von diesem Kerl eingesteckt hatte. »Findest du es witzig, wenn ich durchdrehe?«, schrie ich ihn an und griff mir aufjaulend an den Kopf.

Auf einmal lagen seine Hände an meinen Schläfen. »Scht! Beruhige dich, ein paar Stunden noch, dann haben wir die Stadt erreicht. Wir suchen das nächste Gasthaus auf und du kannst ausruhen.«

Seine kühlen Hände waren tatsächlich eine Wohltat. Die Schmerzen und alle Qualen wurden erträglicher und einen kurzen Moment fühlte ich mich wundersam geborgen. Aufseufzend lehnte ich mich an seine Brust.

Ein furchtbares Geschepper ließ mich zusammenfahren. Vor Schreck stieß ich einen Klageschrei aus. Jemand fluchte laut.

Ulf schob mich von sich. Beide starrten wir die Straße entlang. Ein Rad hatte sich gelöst und der Trödelkarren war auf die Seite gekippt. Das Pferd scheute und schob den scheppernden Karren ein Stück rückwärts, das Deichselende schrammte über die unbefestigte Straße.

»Halt, haalt.« Ein Mann erschien und fasste dem Pferd in die Trense. Nachdem er es beruhigt hatte, kam er murmelnd und schimpfend auf die Seite des Karrens geschlurft, an der sich das Rad gelöst hatte, besichtigte den Schaden und spuckte in die Hände.

»Was macht er jetzt?«, flüsterte ich.

»Er versucht, den Karren wieder flott zu machen.«

Tatsächlich ging der Mann ein Stück in die Knie und stemmte sich mit einer Schulter gegen den Kasten, um ihn in die Waagerechte zu hieven. Gleichzeitig angelte er mit dem Fuß nach dem abgefallenen Rad. Aber schon neigte sich der Karren wieder. Pfannen, Töpfe, Kessel und andere metallene Gerätschaften, die an der Seite hingen, machten einen Höllenlärm.

Der Mann ließ sich davon nicht beirren. Er zog das Rad ein Stück näher und begann von Neuem.

»Was ist das für ein Kerl?«, fragte ich stöhnend.

»Ein Kesselflicker, nehme ich an.«

»Er sieht nicht gerade kräftig aus.«

»Deshalb hat er’s nur zum Kesselflicker gebracht statt zum ordentlichen Schmied.«

»Hilf ihm«, stieß ich hervor.

»Warum?«

»Damit der Lärm aufhört.«

»Renn einfach an dem Karren vorbei.«

Ich presste mir die Hände auf die Ohren. Gerade war wieder ein Versuch des Mannes, das Rad auf die Deichsel zu schieben, unter viel Krach gescheitert.

»Ich kann nicht, ich kann’s wirklich nicht«, erklärte ich entnervt. Ich wäre lieber stundenlang über einen glühenden Rost marschiert als das kurze Stück an diesem Karren vorbei. Meine Füße schmerzten immer noch, daher war der Gedanke an einen Rost gar nicht so abwegig. »Hilfst du ihm jetzt?«, röchelte ich mit versagender Stimme. Gerade begann eine neue Runde Geschepper.

»Schon gut, ich gehe ja schon.«

Ulf setzte sich in Bewegung, ich folgte ihm langsam in einigem Abstand, die Hände an den Ohren, obwohl der Mann gerade seine Versuche, allein mit seinem Problem klarzukommen, einstellte.

Er kratzte sich an der Stirn und schob den eingedellten Hut, den er trug, ein Stück nach hinten. Seiner schäbigen Kleidung und den ausgetretenen Stiefeln nach konnten seine Geschäfte nicht besonders gut gehen. Ob es an ihm lag oder die Kesselflicker-Branche allgemein nicht florierte, wusste ich natürlich nicht. Möglich war natürlich auch, dass der Mann einfach keinerlei Wert auf sein Äußeres legte. Sein Gesicht war von einem graumelierten Vollbart zugewuchert und das Haar hing ihm bis auf den speckigen Kragen herunter. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, während er Ulf misstrauisch entgegen glotzte.

»Geh beiseite«, forderte Ulf ihn auf. »Ich heb den Karren an und du schiebst das Rad auf.«

Ich wankte zum Straßenrand und ließ mich ins Gras sinken.

»Glaub aber nicht, dass du was für deine Hilfe von mir kriegst. Ich hab nichts, ich brauch deine Hilfe auch nicht. Das Rad ist zum fünften Mal in diesem Monat abgefallen und bis jetzt hab ich’s immer noch allein wieder drauf gekriegt«, grummelte der alte Kesselflicker.

Ganz schön unfreundlich, der Kerl!, dachte ich bei mir.

»Wenn du’s sagst«, gab Ulf gleichmütig zurück und stellte sich neben den Karren.

»Aber wenn du schon mal da bist, kannst du auch mit anpacken. Dann mal los«, sagte der Mann und spuckte wieder in die Hände.

Ulf grinste nur. Während er sich gegen den Karren stemmte, kam dieser langsam schwankend, klappernd und lärmend in die Waagerechte. Jeder Ton grub sich in meine Gehörgänge wie ein Schraubbohrer.

Viel zu langsam für meinen Geschmack nahm der Kesselflicker das Rad auf. Wenn er sich nicht ein bisschen beeilte, würde Ulf den Karren wieder absetzen müssen. Ich wunderte mich sowieso schon, wie er dem Gewicht so lange standhielt.

»Ich hab’s gleich«, sagte der Kesselflicker und versuchte, das Rad anzubringen. »Etwas tiefer, nein, höher, jetzt, nein ...«

Anscheinend war’s doch nicht so einfach.

»Kannst du nicht mal einen Moment still halten?«, schimpfte der Mann.

»Ich gebe mir Mühe. Wie wär’s, wenn du meine Schwester und mich auf deinem Karren mitnimmst?«

Der Wagen schwankte noch mehr, mir drehte der Krach den Magen um. Ich war drauf und dran, Ulf anzuschreien, den verdammten Karren in Ruhe zu lassen und mir lieber zu helfen, weiterzukommen. Was hatte er gefragt? Ob wir mitfahren könnten? Auf diesem Scheppergefährt? Hatte Ulf nicht mitbekommen, dass mich der Lärm umbrachte?

»Jetzt hätt’ ich’s beinahe geschafft«, schimpfte der Kesselflicker. »Ich hab dir gesagt, ich gebe dir nichts für deine Mühe. Mein Pferd ist zu alt, um zwei Leute zusätzlich zu ziehen und ich hab was gegen Gesellschaft. Und jetzt halt endlich still.«

Ein bisschen war ich beruhigt, aber immer noch wütend auf Ulf und auf seine unnötige Hilfsbereitschaft. Es war schon eine Qual, bloß zuzuschauen. Das Pferd wandte den Kopf und wieherte unglücklich.

Der Karren neigte sich wieder, Ulf konnte ihn nicht mehr halten und ließ ihn mit einem Plumps auf die Deichsel krachen.

Ich stöhnte auf.

»Tja, dann nicht«, sagte Ulf, rieb sich die Hände und streckte sich.

Der Kesselflicker spähte zu mir herüber.

»Das da ist deine Schwester? Sieht für mich wie ein Junge aus. Ihr zwei könnt laufen, ihr habt junge, kräftige Beine. Ganz anders als mein Pferd.«

Inzwischen trug ich die Jacke, die die Bäuerin mir geschenkt hatte, und hatte sie bis oben zugeknöpft. Wie das Hemd war mir auch die Jacke zu weit. Der Bauernjunge, dem die Kleidungsstücke einmal gehört hatten, musste schon mit zwölf oder dreizehn die Figur eines Ochsen gehabt haben. Mir war es gleich, für was oder wen der Kesselflicker mich hielt. Ich konnte mir ja sowieso nicht vorstellen, auf diesem Karren mit all dem scheppernden Zeug mitzufahren. Eine blöde Idee von Ulf. Stöhnend richtete ich mich auf und kam auf die Füße.

»Können wir weiter?«, fragte ich matt. »Besser wir gehen jetzt. Wenn ich noch mal stehen bleibe, falle ich eher tot um, als noch mal in die Gänge zu kommen.«

»Ist ja doch ein Mädchen, Jungs haben nicht diese hellen Stimmen«, murmelte der Mann und sah mir forschend ins Gesicht. Ich hatte mir die Kappe tief in die Stirn gezogen, um die Chance, erkannt zu werden, so gering wie möglich zu halten. Etwas wie Verwunderung flackerte im Blick des alten Mannes auf und verschwand wieder. Leise murmelnd schüttelte er den Kopf.

»Fass noch mal an«, forderte er Ulf auf.

»Und sie?« Ulf deutete auf mich. Ich hob abwehrend eine Hand.

»Einverstanden, sie kann mitfahren. Sie wiegt bestimmt nicht viel«, nuschelte der Mann. »Jetzt aber!«

Der Blick des Kesselflickers ging mir noch nach, während ich den Männern zuschaute.

Nun ging es ganz leicht. Ulf hob den Wagen an, hielt ihn ohne zu zappeln oder zu wanken in der Waagerechten, und schwupps, saß das Rad auf der Deichsel. Ulf trat einen Schritt zurück und las den herausgefallenen Splint, der das Rad auf der Deichsel gehalten hatte, aus dem Straßenschmutz auf. »Ich würde sagen, du brauchst einen neuen Splint, dieser sieht ziemlich abgenudelt aus.«

»Was du nicht sagst«, meinte der Kesselflicker, nahm ihm den Splint ab und klopfte ihn mit einem Hammer, der ebenfalls am Wagen gehangen hatte, wieder fest. »Dann mal rauf mit der Kleinen.«

Der Mann war selbst nicht gerade ein Riese, stellte ich fest, während ich vorsichtig den Kopf schüttelte, um den Schmerz in Schach zu halten.

»Nein, danke«, sagte ich höflich, aber wahrscheinlich nicht mit genügend Nachdruck.

Als hätte ich nichts gesagt, packte Ulf mich und hob mich auf den Bock. Ich schielte zurück auf die Straße und entschied, dass ich nicht hinunterspringen wollte, denn ich hielt es für nicht ganz unwahrscheinlich, dass mir bei dem Sprung der Kopf platzte. Meinem Gefühl nach hatte er sich in einen höchst empfindlichen, bruchgefährdeten Riesenkürbis verwandelt, der unkontrollierbar auf meinem Hals wackelte.

Ein durchgesessenes Kissen lag auf der Sitzbank. Wimmernd rollte ich mich darauf zusammen, als ich merkte, dass der Mann zusammen mit Ulf nun zu Fuß ging.

Durch das wieder einsetzende Geklapper erhaschte ich hin und wieder etwas von der Unterhaltung der beiden, was mich ein bisschen von meinem Leiden ablenkte.

Der Kesselflicker hieß Kyle. Er zog über die Dörfer und besuchte auch abseits gelegene Höfe und das seit Jahren. Ulf versuchte, ihn ein wenig auszuhorchen, stieß aber schon bald auf Widerstand. Kyle war an Gesprächen nicht interessiert. Sobald die Unterhaltung versiegte, ging mir das Geschepper wieder wahnsinnig auf die Nerven, ich fühlte mich gereizt, müde und überaus unwohl und kam zu der Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße unerträglich war. Nur ein paar Tage war ich von zu Hause fort und schon ein richtiges Wrack.

Wir kamen nur langsam voran, denn der Gaul war tatsächlich alt und gebrechlich und auch der Kesselflicker Kyle schlurfte mehr als dass er ging. Es mussten etliche Stunden vergangen sein, bis wir in Sichtweite der Stadt gelangten. Es war keine besonders große, aber eine mit Mauern befestigte Stadt und vor dem Tor standen Wachen.

Die Wachen stellten ein unerwartetes Problem dar.

»Sie kontrollieren«, sagte Kyle beiläufig und lenkte das Pferd an den Straßenrand unter einen ausladenden Holunder. Von hier waren die beiden Wachsoldaten gut zu erkennen, aber es sah nicht danach aus, als schenkten sie dem Karren des Kesselflickers bereits Beachtung. »Mich kennen sie, aber euch nicht. Hier muss das Mädchen absteigen. Wenn ihr in die Stadt wollt, seht zu, wie ihr das hinbekommt.«

Ich richtete mich auf. Ulf gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich noch oben bleiben sollte. Er lief um den Kastenwagen herum und ich hörte, wie er hinten die Tür aufriss, hineinstieg und herumkramte.

»He! Was machst du da?«, rief Kyle verärgert und ging ihm nach.

»Hier ist massenhaft Platz für meine Schwester, hier in dieser Truhe, ich räum sie nur schnell aus.«

Unruhig lauschte ich der Auseinandersetzung, die sich hinter mir im Karren entwickelte.

»Ich hab’s geahnt. Du bist ein Schlingel und eine Pestbeule. Raus aus meinem Wagen!«, schimpfte Kyle.

Ulf lachte bloß.

Am Ende gab Kyle überraschend nach. »Aber dich schmuggele ich nicht durchs Tor«, erklärte er entschlossen. Damit war Ulf gemeint.

»Brauchst du nicht«, antwortete dieser. »Es reicht, wenn du meine Schwester mitnimmst.«

Ich fand, dass ich zumindest gefragt werden sollte. Wenn ich etwas nicht leiden konnte, dann eingesperrt zu sein, vor allem im Dunkeln – das hatte Eadha oft genug mit mir gemacht. Und nun sah ich mich in eine enge Kiste oder Truhe gepfercht, das ging gar nicht. Außerdem hatte ich kein großes Zutrauen zu diesem Kyle gefasst. Gut möglich, dass er mich erkannt hatte und am Tor verriet.

»Ich will aber nicht«, rief ich nach hinten.

»Es ist doch nur für kurze Zeit, Lynn. Ich mach mit Kyle klar, wo wir uns in der Stadt treffen. Jetzt komm her.«

Er musste zweimal nach mir rufen, und als ich dann immer noch nicht vom Bock stieg, kam er und holte mich. Hastig sagte ich ihm, dass ich glaubte, von Kyle erkannt worden zu sein, aber das hielt er für ganz und gar unwahrscheinlich. Davon war er nicht abzubringen und zerrte mich mit sich nach hinten.

Das Innere des Karrens war mit allerhand Krimskrams vollgestopft und diente Kyle offensichtlich als Behausung. Eine breite Bank bot genügend Platz zum Schlafen, und als Ulf das Sitzbrett hochklappte, wurde mir klar, dass die Bank eigentlich eine Truhe war. Unten lag schon eine Decke für mich ausgebreitet.

»Nein, danke«, sagte ich störrisch.

Ulf sah mich an, ich bemerkte, wie sich seine Miene verfinsterte. Auf einmal schüttelte es mich. Zunehmend wurde er mir fremder, dabei hatte ich mich fast schon an ihn gewöhnt wie an ein lästiges, aber nicht wirklich gefährliches Insekt. Hornissen, das wusste ich, wurden nur gefährlich, wenn man sie reizte. Ulf sah gereizt aus.

»Steig hinein!«

Ich gehorchte. Sobald er den Deckel zugeklappt hatte, kam ich mir wie eingesargt vor. Alle Geräusche drangen nur noch gedämpft zu mir. Wahrscheinlich häuften die beiden Männer einiges von den Sachen Kyles auf die Bank, damit ja keiner der Wächter auf die Idee kam, in der Truhe nachzusehen. Dann setzte sich der Karren wieder rumpelnd und schlingernd in Bewegung.

Jetzt konnte ich nur noch abwarten.

Es dauerte nicht lange, da hörten die Geräusche auf, der Karren stand wieder still. Wie aus weiter Ferne drang ein Ruf zu mir. Einer der Wachsoldaten.

Schritte näherten sich. Eine Faust schlug an den Karren. Ich musste an den Soldaten denken, der dem Bauern mit der Peitsche eins übergezogen hatte. Würde mir überhaupt jemand glauben, dass ich Lynn von Alba war, die Kronprinzessin? Plötzlich begriff ich, wie dumm ich noch immer war. Man würde mich packen und in die Bergwerke verschleppen. Vielleicht gab es Geld als Fangprämie für eine neue Arbeitssklavin.

Der Kasten schwankte, als jemand hinten einstieg. Die Stimme war nun deutlicher zu hören.

»Was bist du nur für ein unordentlicher Mensch, Kyle.«

»Du kannst ja aufräumen, wenn du willst«, sagte Kyle mürrisch. »Und sag mir, wenn du irgendwas von Wert findest. Das tät mich echt freuen.«

Der Wächter lachte.

Wenig später fuhr der Karren wieder an, rumpelte aber nur ein kurzes Stück weiter und stand dann wieder still. Nichts geschah mehr. Ich wusste nicht, woran ich nun war. Hatte Kyle den Karren irgendwo in der Stadt abgestellt und war davon gegangen? Oder hatte er das Stadttor doch noch nicht passiert? Ich stemmte mich gegen den Deckel, aber er rührte sich nicht. Nach drei weiteren Versuchen gab ich auf. Jetzt fühlte ich mich lebendig begraben. Nicht ein Funke von Licht, nichts als Dunkelheit und Enge. Ich fing an zu keuchen.

Marterte mich vorher der Lärm, quälten mich nun die Stille und – die Ausweglosigkeit. Als die Luft immer stickiger wurde, überkam mich unausweichlich Panik.

Kapitel 2

Eadha

Wir hatten die erste Nacht in einer Scheune verbracht und uns dabei vom Stroh zerstechen lassen. Unter Cams »Vorräten«, auf die er so stolz war, befand sich leider keine Decke. Deshalb hatte ich meinen Unterrock ausgezogen und ausgebreitet, aber als Laken reichte er oben und unten nicht. Immerhin war es in der Scheune nicht übermäßig kalt. Dennoch knackten Cams Gelenke am nächsten Morgen so fürchterlich, als ob sie über Nacht eingerostet wären. Vorsichtig machte er ein paar Schritte und bewegte die Arme wie Vogelflügel. Danach wirkte er erleichtert.

Am darauffolgenden Tag waren ein paar Mal Reiter an uns vorbeigeprescht. Sie hatten es offensichtlich eilig und ich fragte mich, ob diese Eile mit Lynns Verschwinden zusammenhing. Cam-Shron hatte mich über Lynn ausgefragt. Er wollte wissen, ob es Orte gab, an denen sie sich gern aufhielt oder ob sie Freunde hatte oder Verwandte, zu denen sie geflohen sein konnte.

»Nein«, antwortete ich bestimmt, »sie hat keine Freundinnen und auch keine Freunde, das weiß ich genau. Und sie ist seit Jahren nicht über das Schloss, den Garten und die unmittelbare Umgebung hinausgekommen.«

»Klingt nach Gefangenschaft«, sagte Cam.

Betroffen schwiegen wir. Ich hatte Lynns Leben noch nie so gesehen und dann begann ich meine Rolle dabei zu verteidigen. Hatte ich mich nicht immer um sie gekümmert?

Cam wollte nichts davon wissen.

»Du hast sie ruhig gehalten, das hast du«, erklärte er mit einem anklagenden Seitenblick.

Mir war das Thema unangenehm. Wieviel ahnte oder wusste Cam?

»Wie war das mit der Entführung? Hast du nicht behauptet, sie sei entführt worden?«, versuchte ich ihn abzulenken.

»Daran denke ich dauernd. Aber sag mal ehrlich: Wer sollte sie entführt haben? Wir haben doch gerade festgestellt, dass sie niemanden außerhalb des Schlosses kannte. Und es muss jemand sein, dem sie vertraut.«

»Jetzt bist du wieder bei Gort«, wandte ich ein. »Entführt ist dann nicht der richtige Ausdruck. Aber ...«

»Aber wir wissen nicht, ob er mit ihr unterwegs ist.« Cam blickte vor sich auf die Straße. »Wahrscheinlich ist sie doch allein. Und das macht mir wirklich Sorgen.«

Mir auch, ich wollte das gar nicht in Erwägung ziehen. Inzwischen wollte ich einfach glauben, dass die beiden zusammen waren. Wenn wir Lynn fanden, dann auch Gort. Warum auch nicht? Mein Sohn war ein gut aussehender, umgänglicher Junge, warum sollte sich eine Prinzessin nicht in ihn verlieben?

Unterwegs, wenn wir zu einem Bauernhaus oder in ein Dorf kamen, zogen wir vorsichtig Erkundigungen ein. Aber niemand hatte ein fremdes Mädchen gesehen, allein oder in Begleitung eines kräftigen jungen Mannes. Nur einige berichteten, dass ihnen die Fragen nach dem Mädchen schon mal gestellt worden waren. Die Leute machten einen eingeschüchterten Eindruck. Einige wollten allerdings überhaupt nicht mit uns reden. Ein alter Bauer mit zerschundenem Gesicht verjagte uns mit der Mistgabel in der Hand.

»So kommen wir nicht weiter«, gab Cam endlich zu. »Was machen wir nun?«

Die letzte Begegnung mit einem Vertreter der Landbevölkerung, dem Mann mit der Mistgabel, lag uns beiden noch im Magen. Der Schwung war uns merklich abhanden gekommen.

»Hast du Geld?«, fragte ich.

»Wenig«, gab Cam vorsichtig zu.

»Lass uns nach Edradour fahren. Ich kenne den Ort von früher. Zurück ins Schloss können wir auf gar keinen Fall. Also sollten wir uns mit deinem Geld etwas besser ausstatten. Wir können froh sein, dass anscheinend noch keiner im Schloss auf die Idee gekommen ist, nach uns zu suchen. Das müssen wir ausnutzen.«

»Verstehe. Und an was denkst du konkret?«

»Das sag ich dir, wenn wir dort sind.« Cam gab sich zufrieden mit meiner Antwort und schlug bei nächster Gelegenheit einen Weg ein, der uns nach Edradour führen musste.

Am späten Nachmittag kamen wir an und konnten ohne nennenswerte Schwierigkeiten das Stadttor passieren. Für alte Leute wie uns interessierte sich die Torwache nicht. Als wir ziellos mit unserem Karren durch die engen Gassen zockelten, kamen wir an einem Kastenwagen vorbei, an dem Töpfe und Pfannen und noch so allerlei Haushaltsgeräte hingen.

»Da wäre schon mal was für uns dabei«, meinte ich hoffnungsvoll.

Cam zügelte Meara und schaute zurück. »Meinst du, davon ist was zu verkaufen? Aber ich sehe niemanden, den ich deswegen ansprechen könnte.«

»Klopf doch mal. Hinten ist eine Tür.«

»Na, ich weiß nicht.«

»Aber ich.« Ich stieg ab. Sobald ich an den Wagen des Kesselflickers herantrat, wurde mir aber klar, dass es besser war, sich erst einmal auf dem Markt umzusehen. Mir war eingefallen, dass Markttag war. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass wir dort auf den Besitzer des Karrens trafen. Unschlüssig schlug ich an die Seitenwand des Kastens. Ein seltsames, gedämpftes Kreischen antwortete mir. Vielleicht war eine Katze in dem Karren eingesperrt. Na, ich würde sie nicht befreien, ich hatte keine Lust, mich von einer wütenden Katze kratzen zu lassen. Ich ging zurück und stieg wieder zu Cam auf den Bock. Von der Katze sagte ich nichts. Cam war ein tierlieber Mensch, das hatte ich bemerkt, aber ich wollte nicht, dass er einen Rettungsversuch bei diesem nervösen Katzenvieh startete.

»Fahr weiter, vielleicht versuchen wir es später noch mal.«

»Ich hab da was gehört«, sagte er zögernd. »In dem Karren.«

Wie konnte er das Kreischen gehört haben?

»Kein Mensch ist in diesem Karren, fahr weiter«, sagte ich noch mal.

Cam regte sich nicht, zusammengesunken hockte er auf dem Bock.

»Und wenn doch ...«, begann er.

Ich nahm ihm die Zügel ab, schnalzte und Meara fiel gemächlich in Schritt, während Cam über die Schulter zurück zu dem Kesselflickerkarren äugte. Aber als ich ihm die Zügel wieder überließ, machte er keinen Versuch, unser Gefährt zu wenden und zurückzufahren.

Das Gässchen endete auf einem großen Platz mit ein paar Marktständen. Auf mein Geheiß fuhren wir eine Runde drumherum.

Ich betrachtete die Leute. Von früher erinnerte ich mich an das Geschnatter von Hausfrauen und jungen Mägden und an umherrennende Kinder, die gern Leute anrempelten. Kinder sah ich überhaupt keine. Die Leute vor den Ständen sprachen kaum miteinander und die meisten waren recht betagt. Zur gedrückten Stimmung trug noch bei, dass niemand von den Verkäufern lauthals seine Waren anpries. Ein lausiger Markt. Das schien auch Cam zu denken.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2019
ISBN (eBook)
9783960532651
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
High Fantasy Romantic Fantasy Gestaltenwandler Wolf Romantisch Twilight Vampire Diaries Teen Wolf Neuerscheinungen eBooks
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Titel: Moonlight – Ein Flüstern in der Dunkelheit: Fünf Romane in einem Band