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Nach dem großen Feuer

Roman

©2016 326 Seiten

Zusammenfassung

Wenn deine Welt verbrennt: Der spannende Science-Fiction-Roman „Nach dem großen Feuer“ von Kult-Autor Wolfgang Hohlbein jetzt als eBook bei jumpbooks.

Es fühlt sich an wie ein böser Traum … Gerade noch war der 14-jährige Tom in seinem Zimmer, jetzt findet er sich auf der Kommandobrücke des Raumschiffes HEDONIA wieder. Tom erfährt: Er ist einer von 20 auserwählten Jugendlichen, die auf eine geheime Mission vorbereitet werden sollen. Doch dann wird das Raumschiff plötzlich attackiert und die Jugendlichen stranden auf einem unbekannten Planeten, der von einer furchtbaren Katastrophe verwüstet wurde. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt – und Tom und seine neuen Freunde ahnen, dass sie nur eine Chance haben, hier zu überleben: Sie müssen das Rätsel dieses Planeten lösen. Doch die Zeit wird knapp …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der spannende Science-Fiction-Roman „Nach dem großen Feuer“ von Kult-Autor Wolfgang Hohlbein für Leser ab 12 Jahren. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Es fühlt sich an wie ein böser Traum … Gerade noch war der 14-jährige Tom in seinem Zimmer, jetzt findet er sich auf der Kommandobrücke des Raumschiffes HEDONIA wieder. Tom erfährt: Er ist einer von 20 auserwählten Jugendlichen, die auf eine geheime Mission vorbereitet werden sollen. Doch dann wird das Raumschiff plötzlich attackiert und die Jugendlichen stranden auf einem unbekannten Planeten, der von einer furchtbaren Katastrophe verwüstet wurde. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt – und Tom und seine neuen Freunde ahnen, dass sie nur eine Chance haben, hier zu überleben: Sie müssen das Rätsel dieses Planeten lösen. Doch die Zeit wird knapp …

Über den Autor:

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch Märchenmond. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX. 

Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Bei dotbooks erscheint von Wolfgang Hohlbein:
Der weiße Ritter - Erster Roman: Wolfsnebel
Der weiße Ritter - Zweiter Roman: Schattentanz
Nach dem großen Feuer
Ithaka
Drachentöter

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eBook-Neuausgabe Juli 2016

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co., Stuttgart

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs, unter Verwendung von © Ig0rZh (fotolia.com) © andreiuc88 (fotolia.com)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-139-5

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Wolfgang Hohlbein

Nach dem großen Feuer

Roman

jumpbooks

1. Kapitel

Der Bus hielt unter dem weitgeschwungenen, gläsernen Vordach der Abfertigungshalle, und die Passagiere begannen beinahe augenblicklich, auf die Ausgänge zuzudrängen. Die gläsernen Türen des Flughafengebäudes glitten lautlos auf, und eine Anzahl rot und blau uniformierter Stewardessen eilte den Reisenden entgegen, um ihnen den Weg zu zeigen und ihnen mit dem Gepäck behilflich zu sein. Irgendwo sehr weit entfernt, sicher am anderen Ende des Flughafengeländes, begannen die Motoren eines Flugzeuges zu dröhnen, und als Thomas dicht neben seinem Vater in das Gebäude trat, erscholl ein hallender Gong, und eine Lautsprecherstimme sagte: »We welcome you to the United States of America!«

Thomas blieb stehen und hob den Kopf, als könne er den unsichtbaren Sprecher irgendwo ausmachen. Aber natürlich sah er nichts außer der hohen, mit farbigen Kunststoffplatten verkleideten Decke und der riesigen Digitaluhr über dem Ausgang, auf der man ablesen konnte, wie spät es jetzt in einem Dutzend anderer Millionenstädte der Welt war. Er fühlte sich ein bißchen müde, obwohl er vor Antritt der Reise gründlich ausgeschlafen hatte. Aber sie waren mehr als neun Stunden ununterbrochen geflogen, und die lange Reise und das stundenlange Herumstehen und -sitzen auf dem Frankfurter Flughafen forderten ihren Preis.

»Na«, fragte sein Vater, »wie fühlt man sich in Amerika?«

Thomas wußte nicht so recht, was er antworten sollte. Er hatte sich seit Monaten auf diese Reise gefreut und während der letzten zwei Wochen sowohl zu Hause als auch in der Schule eigentlich über nichts anderes mehr geredet – aber im Moment fühlte er sich nur müde, hungrig und zerschlagen.

»Prima«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Nur …«

»Ein bißchen müde, wie?« lächelte sein Vater. »Das ist verständlich. Immerhin ist es jetzt zu Hause in München beinahe vier Uhr morgens, und ein vierzehnjähriger Junge wie du gehörte eigentlich schon längst ins Bett.«

»Fünfzehn«, korrigierte Thomas und sah auf die Uhr. Die Zeiger standen noch immer auf halb acht, aber der Jumbo war dem Tag ein gutes Stück davongeflogen. Er hatte die Uhr irgendwo über dem Meer verstellt, um sich der amerikanischen Ortszeit anzupassen, aber sein Körper war an einen anderen Tagesrhythmus gewöhnt und ließ sich nicht so rasch überlisten.

»Fünfzehn«, sagte sein Vater betont, »wirst du in genau zwei Wochen, Thomas. Und als Sohn eines Mathematikers solltest du wissen, daß auch vierzehn plus dreiundzwanzig Vierundzwanzigstel noch lange nicht fünfzehn ergeben.«

Thomas seufzte und verzichtete sicherheitshalber auf eine Antwort. Nicht einmal er wußte immer so genau, wann sein Vater nun einen Scherz machte und wann er es ernst meinte. Sein Vater war nicht nur einfach Mathematiker, sondern sogar Professor für Mathematik, und er konnte sich manchmal mit wahrer Begeisterung Stunde um Stunde über Zahlen unterhalten. Thomas teilte diese Begeisterung nicht so vollständig.

Er seufzte, packte seinen Koffer fester und ging neben seinem Vater her auf die Zollkontrolle zu. Es gab weder einen Schalter noch eine Schranke, wie sie sie in Frankfurt passiert hatten, sondern nur eine rote, auf den Fußboden gemalte Linie, vor der zwei Männer in den graugrünen Uniformen der Zollbeamten standen. Trotzdem überschritt keiner der Neuankömmlinge diese – fast – unsichtbare Grenze. So etwas wäre zu Hause in Deutschland schwer vorstellbar gewesen. Vielleicht war das schon einer der kleinen Unterschiede, von denen sein Vater gesprochen hatte.

Sie reihten sich geduldig in die langsam vorrückende Schlange ein, ließen ihr Reisegepäck kontrollieren und standen wenig später in einer zweiten Halle, die der, durch die sie zuvor gekommen waren, bis aufs Haar glich, nur daß sie mindestens doppelt so groß war. Hunderte von Menschen eilten geschäftig hin und her oder standen einzeln oder in kleinen Gruppen herum und warteten. Von irgendwoher kam Musik, und vor den deckenhohen Fenstern an der Westseite fuhren unablässig Autos an und ab. Sein Vater blieb stehen, setzte seinen Handkoffer ab und sah sich unschlüssig um.

»Wie sieht denn dieser Mister Dickkopf aus, auf den du wartest?« fragte Thomas.

Sein Vater lächelte. »Dirkhoff, Thomas. Er heißt Dirkhoff. Professor Dirkhoff, um genau zu sein. Und ich muß gestehen, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie er aussieht. Ich habe bisher nur ein paarmal mit ihm telefoniert, das war alles. Eigentlich wollte er hier auf mich warten.«

Als wären seine Worte ein Stichwort gewesen, knackte in diesem Augenblick ein unsichtbarer Lautsprecher, und eine Frauenstimme sagte: »Professor Edmund Bender, please come to the information! Professor Bender, please!«

Thomas nahm seine Tasche und deutete auf den chromblitzenden Informationsstand neben dem Ausgang. »Das ist für dich«, sagte er. »Sieht aus, als wäre Professor Dickkopf was dazwischengekommen.«

»Dirkhoff«, seufzte sein Vater. »Er heißt Dirkhoff. Merk dir das bitte. Er spricht nämlich ausgezeichnet Deutsch.«

Thomas unterdrückte ein Grinsen und folgte seinem Vater zum Informationsstand, der aussah wie das Cockpit eines Raumschiffes: eine in zwei Hälften geschnittene und auseinandergezogene Kugel aus blankpoliertem Stahl, in deren innerem zwei junge Frauen in dunkelblauen Uniformen vor einem verwirrenden Durcheinander von Schaltern, Knöpfen, Mikrophonen und Telefonhörern saßen. Vater setzte seinen Koffer ab, stützte sich mit den Ellbogen auf die blankpolierte Theke und begann leise auf Englisch mit einer der Frauen zu sprechen. Thomas versuchte, ihre Antwort mitzubekommen, aber sie sprach so schnell, daß er kein Wort verstand. Nun ja – Vater hatte ihn gewarnt, daß er mit seinem Schulenglisch hier nicht allzuviel würde anfangen können. Er schien recht zu haben.

»Professor Dirkhoff kommt nicht«, sagte Vater, nachdem er sich bedankt und wieder herumgedreht hatte. »Irgend etwas ist ihm dazwischengekommen.«

»Und jetzt?« fragte Thomas.

Sein Vater schwenkte einen kleinen Zettel, den ihm die Frau hinter der Information gegeben hatte. »Wir nehmen ein Taxi«, sagte er. »Ich habe die Adresse des Hotels, in dem Dirkhoff auf uns wartet.« Plötzlich lächelte er. »Vielleicht ist das nicht das Schlimmste«, sagte er. »Wir haben noch genug Zeit. Was hältst du von einer kleinen Stadtrundfahrt?«

Der Gedanke begeisterte Thomas nicht sonderlich. Er hatte nie viel von Sehenswürdigkeiten und deren Besichtigung gehalten. Aber er wollte seinen Vater auch nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin würde er während der nächsten zwei Wochen ohnehin nicht sehr viel Zeit für ihn haben. Thomas betrachtete die elf Tage in Amerika zwar als eine Art unerwartete Zusatzferien, aber für seinen Vater bedeutete die Tagung harte Arbeit, neben der nicht allzu viel Zeit zur Erholung bleiben würde. Thomas versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, elf Tage lang mit einer Horde Mathematiker in einem Konferenzzimmer eingesperrt zu sein und über Zahlen zu reden. Der Gedanke verursachte bei ihm beinahe so etwas wie Übelkeit.

Sie verließen das Flughafengebäude und traten in den warmen Sonnenschein hinaus. Thomas hatte jetzt erst das Gefühl, amerikanischen Boden zu betreten, und plötzlich empfand er die Erregung, die er vorhin nach dem Verlassen der Maschine vermißt hatte. Aber der Aufenthalt auf dem Flughafen war noch so etwas wie die Verlängerung des Fluges gewesen. Jetzt – jetzt erst – waren sie in Amerika. Es war ein erhebendes Gefühl.

Vater winkte ein Taxi heran und gab dem Fahrer den Zettel, den er in der Information erhalten hatte. Der Mann warf einen flüchtigen Blick darauf, nickte und ging dann um den Wagen herum, um den Kofferraum zu öffnen und ihr Gepäck zu verstauen. Sie stiegen ein, und Vater wechselte noch ein paar Worte mit dem Fahrer, ehe sie losfuhren.

»Wir fahren am Weißen Haus vorbei«, sagte Vater. »Das interessiert dich doch sicher, nicht?«

Thomas hätte das ›nicht‹ am liebsten laut und ohne das Fragezeichen dahinter wiederholt, aber er beherrschte sich, lächelte tapfer und nickte.

»Sehr gut«, sagte Vater. »Das ist kein großer Umweg zu unserem Hotel. Und den Rest nehmen wir uns morgen oder am Wochenende vor.«

»Wenn du Zeit dazu hast«, sagte Thomas. »Mach bloß keine Umstände wegen mir. Ich bin alt genug, um auch mal ein paar Tage allein zurechtzukommen.«

Sein Vater schien etwas antworten zu wollen, beließ es aber dann bei einem undeutbaren Seufzer und lehnte sich mit geschlossenen Augen in die Polster zurück. Auch er war müde, und als Thomas daran dachte, welche Anstrengungen ihm in den nächsten Tagen noch bevorstanden, tat er ihm beinahe leid. Aber die Konferenz war wichtig, nicht nur für seinen Vater. Thomas hatte sich bisher niemals für Politik interessiert, aber er hatte im Laufe der letzten Wochen zwangsläufig genug mitbekommen, um zu wissen, daß es um große Dinge ging. Worte wie Weltsicherheit und Zukunftskrise waren mehr als einmal gefallen, und soviel er wußte, trafen sich in dem Hotel nicht nur Mathematiker, sondern auch Biologen, Physiker, Chemiker, Soziologen – kurz, fast alles, was in der Welt der Wissenschaft Rang und Namen hatte. Eigentlich nicht der richtige Ort für einen vierzehnjährigen Jungen, um Ferien zu machen. Aber zu Hause wäre er auch allein gewesen, und seit dem Tod seiner Mutter vor fünf Jahren hatte sich Vater angewöhnt, ihn, wo immer möglich, mitzunehmen, wenn er auf Reisen ging. Und er ging oft auf Reisen. Öfter, als man es im allgemeinen von einem Mathematikprofessor erwartet hätte.

Sie fuhren auf dem breit ausgebauten Highway in Richtung Stadtmitte, überquerten den Potomac-River und bogen auf eine Art Stadtautobahn ein. Nach einer Weile berührte ihn Vater an der Schulter und deutete nach rechts.

»Das Weiße Haus«, sagte er.

Thomas setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Natürlich hatte er schon oft Bilder des Weißen Hauses gesehen – im Fernsehen und in Illustrierten, manchmal auch in den Fachzeitschriften, die sein Vater zu Dutzenden las, aber irgendwie enttäuschte ihn der Anblick beinahe. Es war ein gewaltiges, schneeweißes Gebäude, das irgend etwas Ehrfürchtiges und Altes auszustrahlen schien, aber es war doch nicht mehr als ein Haus, wenn auch ein großes. Und dort drüben wurde also über das Schicksal der Welt entschieden. Irgendwie hatte er es sich – nun ja, majestätischer vorgestellt. Aber es war vielleicht nicht das Haus, das zählte, sondern die Leute, die darin lebten.

Das Taxi wurde schneller, als sie das Weiße Haus passiert hatten, und nach einer Weile tauchten rechts und links der Straße die Hochhäuser auf, die er beim Klang des Namens Washington D. C. erwartet hatte. Sie waren nicht ganz so groß und nicht annähernd so beeindruckend wie auf den Bildern, aber noch immer beeindruckend genug. Sie durchquerten das Stadtzentrum, fuhren noch eine Weile in östlicher Richtung und hielten schließlich vor einem gewaltigen Turm aus schimmerndem Glas und Chrom.

»Unser Hotel«, erklärte Vater. Sie stiegen aus. Der Taxifahrer stellte ihr Gepäck auf den Bürgersteig und fuhr wieder ab, nachdem Vater ihn bezahlt hatte. Aus dem Hotel kamen zwei uniformierte Pagen, um ihre Koffer zu holen.

Vater lächelte aufmunternd, nahm einen tiefen Atemzug, als müsse er sich an die amerikanische Luft gewöhnen, und ging dann mit schnellen Schritten die Treppe empor.

Die Hotelhalle war gewaltig. Die Decke wurde von einer Anzahl mannsdicker marmorner Säulen getragen und war so hoch, daß ihr kleines Einfamilienhaus am Rande Münchens bequem Platz darunter gefunden hätte, und obwohl sich an die hundert Menschen in der Halle aufhielten, wirkte sie keineswegs überfüllt. Thomas ging neben seinem Vater zum Empfang hinüber und wartete geduldig, bis dieser die Anmeldeformalitäten hinter sich gebracht und den Zimmerschlüssel in Empfang genommen hatte. Dann fuhren sie mit dem Lift in die einundzwanzigste Etage hinauf, in der ihr Zimmer lag. Ihr Gepäck war bereits hinaufgeschafft worden.

Das Zimmer war genauso, wie Thomas es erwartet hatte – sehr groß, sehr modern und nach jenem typisch amerikanischen Geschmack eingerichtet, der nicht unbedingt die Zustimmung eines Europäers fand. Aber es war riesig; eigentlich schon eher eine kleine Wohnung als ein Hotelzimmer. Während Vater dem Hotelboy ein Trinkgeld gab und die Tür schloß, lief Thomas auf den Balkon hinaus. Er war sehr groß, wie alles in diesem Hotel, und gewährte einen phantastischen Blick über die Stadt. In der Ferne glitzerte der Potomac-River wie ein schmales, vielfach gewundenes Silberband, und tief unter ihm, in der Stadt, begannen die ersten Lichter anzugehen. Über dem Horizont erschien der erste Streifen grauer Dämmerung.

Thomas sah erneut auf die Uhr. Es war fast neun, aber die Zeit von der Landung bis jetzt war wie im Fluge vergangen. Er blieb noch einen Moment auf dem Balkon stehen und ging dann gemächlich ins Zimmer zurück. Sein Vater hatte die Koffer auf das Bett geworfen und war damit beschäftigt, ihren Inhalt auf die Frisierkommode und die drei Wandschränke zu verteilen. Natürlich hatte das Hotel genügend Personal, das diese Aufgaben hätte erledigen können, aber sein Vater war ganz das Gegenteil dessen, was man sich normalerweise unter einem zerstreuten Professor vorstellte. Er war sehr selbständig und haßte es, Arbeiten, die er selbst erledigen konnte, von jemand anderem tun zu lassen.

Thomas trat neben ihn und begann ihm zu helfen.

Das Telefon schrillte. Vater nahm den Hörer ab, meldete sich und hörte einen Moment schweigend zu. Dann sagte er »Okay«, nickte überflüssigerweise und hängte wieder ein. »Das war Prof. Dirkhoff«, sagte er. »Er wartet unten in der Halle auf mich. Zusammen mit ein paar Kollegen.« Er stockte einen Moment, sah sich im Zimmer um, als suche er etwas Bestimmtes, und fragte dann: »Willst du mitkommen, oder bleibst du hier? Ich glaube nicht, daß es sehr lange dauern wird. Die übliche Vorstellung und der ganze Kram. Später gehen wir dann zusammen essen.«

Thomas schüttelte den Kopf. Er hatte gewiß keine Lust, jetzt hinunterzugehen und einem Haufen verknöcherter Mathematikprofessoren die Hand zu schütteln. »Geh nur«, sagte er. »Ich sehe mich inzwischen hier um und versuche, mich einzuleben.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Fernseher. »Stimmt das, daß die Amerikaner siebzig Fernsehprogramme haben?«

Vater lächelte und zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, gestand er. »Aber ich denke schon, daß sie ein paar mehr haben als wir.«

Thomas hatte halbwegs damit gerechnet, jetzt wieder einen Vortrag über die Schädlichkeit von Fernsehen zu hören, aber sein Vater schien ganz froh darüber zu sein, ihn für die nächste Zeit beschäftigt zu wissen. Er nickte, trat noch einmal vor den Spiegel, um seine Krawatte zurechtzurücken, und verließ dann mit raschen Schritten das Zimmer.

Thomas ging zum Fernseher hinüber, schaltete ihn ein und drehte eine Zeitlang lustlos am Programmwählknopf. Er kam nicht annähernd auf siebzig Programme, aber es mußten trotzdem mehr als zwei Dutzend sein – er hörte bei zehn auf zu zählen und beschränkte sich darauf, den Schalter weiterzudrehen und den ständig wechselnden bunten Bildern auf der Mattscheibe zu folgen. Es schien für jeden Geschmack etwas zu geben, aber Thomas stand der Sinn an diesem Abend nicht nach fernsehen. Den ersten Tag in einer neuen Welt wollte er nun doch nicht vor dem Bildschirm verbringen.

Nach einer Weile schaltete er den Apparat wieder aus, drehte sich um und ging unschlüssig zur Balkontür hinüber. Es war dunkel geworden, während er mit dem Apparat beschäftigt gewesen war, und draußen wetteiferten die Lichter Washingtons mit dem Glanz des Sternenhimmels. Vom Fluß her wehte ein kühler Wind herauf, und als er die Gardine zurückschlug und auf den Balkon hinaustrat, konnte er ein leises Geräusch wahrnehmen, etwas wie das ferne Rauschen einer Meeresbrandung; die Geräusche der Stadt, einzeln nicht mehr wahrnehmbar, aber zusammengenommen etwas, das fast wie ein riesiges, ruhig schlagendes Herz klang, als wäre diese Stadt da unter ihm in Wirklichkeit ein gewaltiges lebendes Wesen.

Thomas mußte selbst über den Gedanken lächeln. Er war müde, und da kam man schon einmal auf die sonderbarsten Ideen. Vielleicht wäre es das beste, wenn er ins Zimmer zurückging und sich eine halbe Stunde ausruhte, ehe Vater heraufkam und ihn zum Essen abholte.

Er wollte sich umdrehen und ins Zimmer zurückgehen, als ihm etwas auffiel. Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah stirnrunzelnd in den Himmel hinauf. Einer der winzigen hellglänzenden Sterne hatte begonnen, sich zu bewegen.

Thomas fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Augen und sah noch einmal hin. Aber es war keine Täuschung. Einer der Sterne war kein Stern, sondern … irgend etwas eben. Und dieses Etwas schoß in steilem Winkel über den Himmel. Es war zu schnell für ein Flugzeug, viel zu schnell. Vielleicht eine Sternschnuppe, dachte Thomas, oder ein Teil eines Satelliten oder einer ausgebrannten Raketenstufe, die zur Erde zurückstürzte. In letzter Zeit, das hatte er aus Gesprächsfetzen erfahren, die er manchmal von seinem Vater aufschnappte, kam so etwas öfter vor.

Aber noch während er dastand und in den Himmel hinaufstarrte, tat das Ding etwas, das weder eine Sternschnuppe noch eine ausgebrannte Rakete hätten tun können: Es bog plötzlich in nahezu rechtem Winkel von seinem Kurs ab, blieb einen Moment reglos auf der Stelle stehen und schoß dann mit phantastischer Geschwindigkeit davon.

Thomas stand wie gelähmt auf dem Balkon und starrte in den Himmel hinauf, auch, als die Erscheinung schon längst verschwunden war. Es dauerte lange, bis er begriff, was er da gesehen hatte. Und als er es begriff, weigerte er sich fast, es zu glauben.

Das Ding war ein UFO gewesen!

Ein unidentifiziertes Flugobjekt, eines von diesen Dingern, von denen man immer wieder einmal in Zeitungen las oder im Radio hörte und an die eigentlich niemand so recht glaubte.

Aber er hatte es gesehen!

Oder nicht? Ein paar Augenblicke überlegte er ernsthaft, ob die Erscheinung am Himmel nicht vielleicht nur ein Produkt seiner überreizten Nerven und seiner Phantasie gewesen sein konnte. Er war müde, und der lange Flug hatte ihn mehr angestrengt, als er bisher geglaubt hatte. Aber so müde, daß er bereits Halluzinationen hatte, war er nun doch noch nicht. Und er hatte das Ding (er weigerte sich auch jetzt noch, es UFO zu nennen) ganz deutlich gesehen. Nein, das war keine Halluzination gewesen.

Minutenlang blieb er noch reglos auf dem Balkon stehen und suchte den Himmel ab, aber die Erscheinung zeigte sich kein zweites Mal. Schließlich begann er zu frieren. Der Wind hatte aufgefrischt, nachdem die Sonne untergegangen war, und der plötzliche Temperatursturz erinnerte ihn nachhaltig daran, daß auch hier in Nordamerika erst April war und die Nächte noch empfindlich kalt werden konnten. Er schlang fröstelnd die Arme um den Oberkörper, sah noch einmal nach Westen, wohin der Lichtpunkt verschwunden war, und ging ins Zimmer zurück. Er schaltete den Fernseher ein, wählte ein Programm, auf dem – zwischen den regelmäßigen Reklameeinblendungen – Zeichentrickfilme gegeben wurden, und ließ sich in einen Sessel fallen.

Aber er hatte Mühe, der Handlung des Films zu folgen. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab, und die bunten Bilder auf der Mattscheibe weigerten sich einfach, einen Sinn zu ergeben. Was war das, was er da gesehen hatte? Eine Sternschnuppe? Ein neues Flugzeug, das die Amerikaner in aller Stille testeten – oder wirklich ein UFO, eine fliegende Untertasse, ein Raumschiff, das aus einem anderen Sternensystem hierhergekommen war?

Aber natürlich war das Unsinn. Einmal, nachdem er zusammen mit seinem Vater im Kino gewesen war und KRIEG DER STERNE gesehen hatte (unerlaubterweise, denn der Film war erst ab sechzehn frei, aber sein Vater hatte gemeint, ein so harmloses Märchen könne einem Jungen seines Alters und seiner Intelligenz kaum schaden), hatte er einen ganzen Abend dagesessen und mit seinem Vater darüber geredet. Über UFOs, Sternenschiffe und Besucher von anderen Welten. Es war eine schöne Vorstellung, aber es würde wohl niemals mehr werden als ein Traum, ein modernes Märchen, das war ihm im Laufe des Gespräches klargeworden. Das Reisen von Stern zu Stern war nicht möglich, nicht mit der Technik der Erde und auch nicht mit der einer Kultur, die ungleich weiter fortgeschritten war. Es gab ein paar ganz einfache wissenschaftliche Gründe, die dagegen sprachen, so einfach, daß selbst ein Junge von vierzehn Jahren, der Geschichten über galaktische Imperien und gewaltige Kriege zwischen den Milchstraßen verschlang, nicht die Augen davor verschließen konnte.

Aber er hatte das Ding gesehen, mit eigenen Augen!

Erst als sein Vater hereinkam und mit einem erstaunten: »Nanu?« das Licht einschaltete, merkte er, daß er länger als eine Stunde reglos vor dem Fernseher gehockt und gegrübelt haben mußte. Draußen war es mittlerweile vollkommen dunkel geworden, und im Fernseher lief irgendein Spielfilm. Er hatte nicht einmal gemerkt, wie er begonnen hatte.

»Entschuldigung«, sagte er hastig, als er dem besorgten Blick seines Vaters begegnete. »Ich muß eingeschlafen sein.«

»Ich dachte immer, erst in meinem Alter schläft man vor der Flimmerkiste ein«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber du hast natürlich recht – es ist im Grunde das einzige, wozu das Ding überhaupt gut ist. Willst du mit hinunterkommen und essen, oder willst du lieber ins Bett gehen?«

»Ich komme mit«, sagte Thomas rasch. »Ich bin schon wieder ganz wach. Ehrenwort.«

»Na gut. Dann zieh dich um. Wir essen ganz groß; mit Smoking und Fliege und all dem Quatsch. Aber für dich wird es reichen, wenn du ein sauberes Hemd und frische Hosen anziehst. Und beeil dich. Die anderen Wissenschaftler haben zum Teil auch ihre Kinder mitgebracht. Du wirst dich also wahrscheinlich in den nächsten Wochen doch nicht so sehr langweilen.« Die letzten Worte rief er bereits aus dem Badezimmer, wohin er geeilt war, um sich ein frisches Hemd und seinen Smoking anzuziehen.

Thomas überlegte einen Moment, ob er seinem Vater von seiner Beobachtung erzählen sollte. Aber er tat es nicht. Wahrscheinlich würde Vater den Vorfall mit einer Handbewegung abtun und alles auf seine Müdigkeit schieben. Oder er hatte eine ganz einfache Erklärung dafür, und Thomas war sich noch nicht sicher, ob er die überhaupt hören wollte. Vielleicht war es gut, sich für eine Weile wenigstens noch an die Illusion klammem zu können, er hätte ein UFO gesehen. Auch wenn er ganz genau wußte, daß es keines gewesen sein konnte.

Er zog sich um, fuhr sich noch einmal mit dem Jackenärmel über die Schuhe, um den ärgsten Staub abzuwischen, und wartete dann, bis sein Vater aus dem Bad kam.

Sie verließen das Zimmer und fuhren mit dem Aufzug nach unten. Das Hotel kam Thomas jetzt wesentlich belebter vor als bei ihrer Ankunft; die Gänge und Flure schienen vor Menschen zu wimmeln, und vor dem Eingang zum Restaurant drängte sich eine dichte Menschentraube. Vater lächelte ermutigend, legte ihm die Hand auf die Schulter und stürzte sich todesmutig ins Gedränge. Thomas steckte eine Menge Knuffe und Stöße ein, und einmal trat ihm jemand so heftig auf den Fuß, daß er vor Schmerz aufstöhnte, aber schließlich hatten sie es geschafft und waren an ihrem Tisch vor dem großen Südfenster angelangt. Vater deutete auf zwei freie Stühle, setzte sich auf den einen und wartete, bis Thomas rechts neben ihm Platz genommen hatte.

»Mein Sohn«, sagte er mit einer übertriebenen Geste. »Thomas. Ich habe Ihnen ja bereits von ihm erzählt.«

Thomas sah neugierig in die Runde. Er wunderte sich ein bißchen, daß Vater deutsch sprach, aber die drei Männer, die außer ihnen noch am Tisch saßen, schienen sich nicht daran zu stören. Einer von ihnen – er erschien Thomas noch sehr jung für einen Wissenschaftler von Rang, noch keine dreißig – lächelte freundlich und nickte ihm zu.

»Hallo Tom«, sagte er. »Ich darf doch Tom sagen, oder?«

Thomas nickte.

»Das ist Professor Dirkhoff«, erklärte Vater.

Thomas begann gegen seinen Willen zu grinsen, und sein Vater warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu und stieß ihn unter dem Tisch an.

Dirkhoffs Lächeln wurde um eine Spur breiter, und in seinen Augen blitzte es schalkhaft auf. »Nicht doch, Professor«, sagte er in tadellosem Deutsch. »Ich habe in Heidelberg studiert, vergessen Sie das nicht. Ich bin es gewohnt, meinen Namen in leicht veränderter Form zu hören.«

Thomas zuckte erstaunt zusammen und lief rot an. Konnte dieser Dirkhoff Gedanken lesen?

Ein Ober brachte die Speisekarten, und Thomas rettete sich über die nächsten Minuten, indem er intensiv auf die Karte starrte und so tat, als überlege er krampfhaft, was er nun auswählen sollte. Dabei konnte er kaum ein Drittel von dem, was da angeboten wurde, lesen, geschweige denn sagen, worum es sich handelte. Er wartete, bis sein Vater bestellt hatte, nickte dann kurz und bestellte der Einfachheit halber dasselbe. Sein Vater runzelte verwundert die Stirn, schwieg aber, und in Thomas stieg die bange Ahnung auf, daß er mit dem Essen vielleicht noch eine Überraschung erleben würde.

Der Ober bedankte sich höflich, sammelte die Karten wieder ein und verschwand. Vater begann, mit einem der anderen Männer am Tisch zu reden – diesmal in Englisch und so rasch, daß Thomas kein Wort verstand – und ein anderer Kellner kam und begann, Geschirr und goldglänzendes Besteck auf dem Tisch vor ihnen auszubreiten.

»Nun, Tom, wie gefällt es dir in Amerika?« fragte Dirkhoff plötzlich.

Thomas sah verwirrt auf. »Ahm … gut«, sagte er rasch. »Aber ich bin ja erst seit ein paar Stunden hier. Das heißt…«

»Eigentlich bist du noch gar nicht hier«, nickte Dirkhoff. »Ich weiß. Aber du wirst dich rasch eingewöhnen, verlaß dich darauf. Im Hotel sind an die fünfzig Kinder und Jugendliche. Du wirst sicher genug Gesellschaft für die nächsten Tage finden.«

Thomas lächelte verlegen. »Sicher«, sagte er.

»Washington ist eine hübsche Stadt, trotz allem«, fuhr Dirkhoff fort. »Ich bin sicher, sie wird dir gefallen.« Er seufzte und sah eine Sekunde lang fast traurig aus dem Fenster. »Ich fürchte, dein Vater und ich werden nicht allzuviel von der Stadt mitbekommen«, sagte er.

Thomas' Blick glitt durch die glasklare Scheibe wieder zum Himmel. Es war nicht eine Wolke zu sehen, und der Mond war von einem Kranz hellglitzernder Sterne eingefaßt. Aber diesmal waren es nur Sterne. Nichts anderes.

»Suchst du etwas Bestimmtes?« fragte Dirkhoff, als er seinen forschenden Blick bemerkte.

Thomas fühlte sich auf seltsame Weise ertappt. »Äh … nein«, sagte er. »Das heißt – ich dachte vorhin, ich hätte etwas gesehen. Aber es ist fort.«

»Und was?« erkundigte sich Dirkhoff.

»Ein UFO«, antwortete Thomas.

Sein Vater hielt abrupt in seiner Unterhaltung inne, drehte den Kopf und sah ihn lange und strafend an. Thomas hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber die beiden Worte waren ihm einfach so herausgerutscht, zu schnell, als daß er sie noch hätte zurückhalten können.

»Thomas!« sagte sein Vater streng. »Was soll dieser Unsinn? Du weißt, was –«

»Aber ich bitte Sie, Professor«, unterbrach ihn Dirkhoff sanft. »Ich habe diese Antwort erwartet. Es hätte mich erstaunt, wenn ich sie nicht erhalten hätte.«

Vater sah für einen Moment sehr verdutzt drein. »Was … soll das heißen?« fragte er verwirrt.

Dirkhoff lachte leise. »Lesen Sie keine Zeitungen, Professor? Jedermann sieht dieses UFO, jedenfalls hier in Washington. Es ist schon so eine Art Maskottchen geworden.«

»Aha«, machte Vater.

Thomas wurde hellhörig. »Soll das heißen, daß es wirklich ein UFO hier gibt?« fragte er.

Dirkhoff nickte. »Wenn du das Wort so meinst, wie es irgendwann einmal gemeint war, bevor die Leute anfingen, Raumschiffe vom Planeten Epsilon Eridiani darin zu vermuten, ja«, sagte er. »UFO bedeutet nämlich nichts anderes als unidentifiziertes Flugobjekt. Und so etwas haben wir hier wirklich, nämlich etwas, das sich anscheinend über unseren Köpfen herumtreibt und sich stur weigert, sich identifizieren zu lassen.« Er lachte wieder und begann, mit seiner Gabel zu spielen. »Ich schätze, unsere braven Jungs von der Air Force sind in den ersten Tagen halb wahnsinnig geworden. Was immer es ist – es führt sie an der Nase herum.«

Thomas blickte erstaunt auf seinen Vater. Aber auf dessen Gesicht stand nur Ratlosigkeit geschrieben. Und Mißtrauen. Sehr viel Mißtrauen.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte er nach einer Weile. »Sie wollen mir erzählen, ein unidentifiziertes Flugobjekt könne sich wochenlang über der Hauptstadt der Vereinigten Staaten herumtreiben, ohne daß die halbe Welt Kopf stünde?«

Aber Dirkhoff nickte bloß. »Sie hat Kopf gestanden, Professor«, sagte er. »Während der ersten beiden Tage haben sie alles aufgeboten, was sie hatten. Ich glaube fast, es gab schon Evakuierungspläne für die Regierung. Aber es war alles zwecklos. Dieses Ding ist weder auf einem Radarschirm auszumachen, noch kommt ein Flugzeug nahe genug heran, um Einzelheiten zu erkennen. Mittlerweile hat man sich wohl darauf geeinigt, daß es sich um eine Luftspiegelung handeln muß. So eine Art Nordlicht.«

»Und davon erfährt die Welt nichts?« fragte Vater mißtrauisch.

»Sie hat davon erfahren, Professor«, sagte Dirkhoff. »In den ersten Tagen. Mittlerweile ist man wohl zu dem Schluß gekommen, daß es das Vernünftigste ist, die Sache einfach totzuschweigen. Wer macht sich schon gerne selbst lächerlich?«

Thomas sah erneut aus dem Fenster. Er wußte nicht so recht, was er von Dirkhoffs Eröffnung halten sollte. Sollte er nun froh sein, daß es das Ding, das er zu sehen geglaubt hatte, wirklich gab – oder enttäuscht? Er dachte eine Weile über diese Frage nach, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis.

»Jedenfalls ist es kein Raumschiff von der Wega«, sagte Dirkhoff augenzwinkernd.

Thomas rang sich ein halbherziges Lächeln ab und sah zu Boden. Er war sich noch nicht ganz darüber im klaren, ob ihm dieser Professor nun sympathisch war oder nicht. Auf der einen Seite hatte er eine herzerfrischende, nette Art, aber Thomas mochte es auch nicht, wenn jemand in seinen Gedanken scheinbar wie in einem offenen Buch lesen konnte.

Das Essen wurde gebracht, und für eine Weile schlief das Gespräch am Tisch ein. Thomas stellte bestürzt fest, daß er – ebenso wie sein Vater – gebackenen Hummer in einer hellen, salzig schmeckenden Sauce bestellt hatte. Aber als er Vaters Blick begegnete, zog er es vor, die Zähne zusammenzubeißen und das Schalentier, dessen aufgestellte Stielaugen ihn spöttisch zu mustern schienen, tapfer herunterzuwürgen. Es schmeckte nicht einmal sonderlich gut.

Das Essen schien endlos anzudauern. Nach dem Hummer gab es eine unidentifizierbare gelbe Pampe, die er ebenso tapfer hinunterschlang, dann Pudding und schließlich noch Erdbeeren mit Schlagsahne, das einzige, was er mit Appetit aß. Aber auch danach machten weder sein Vater noch die anderen irgendwelche Anstalten, vom Tisch aufzustehen. Im Gegenteil: Sie bestellten Wein und begannen fast sofort wieder, miteinander zu diskutieren.

Thomas fühlte sich zunehmend von Müdigkeit gepackt. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand, sah auf die Uhr und dann seinen Vater sehnsüchtig an. Aber der war so in seine Fachsimpeleien vertieft, daß er seinen Sohn vollkommen vergessen zu haben schien.

Nicht so Dirkhoff. Er bemerkte Thomas' Blick und räusperte sich so lautstark, daß sein Vater die Unterhaltung unterbrach und fragend aufsah.

»Es ist spät«, sagte Dirkhoff. »Ich schlage vor, wir verlegen den Rest unserer kleinen Diskussion in die Hotelbar und unseren jungen Freund hier« – und damit deutete er lächelnd auf Thomas – »ins Bett.«

Thomas gönnte ihm einen dankbaren Blick, und sein Vater sah mit einem Male ganz schuldbewußt aus. »Natürlich«, sagte er. »Es ist ja schon fast elf! Du mußt hundemüde sein, Thomas.« Er stand auf. »Ich bringe dich nach oben.«

Thomas schüttelte schwach den Kopf und unterdrückte mit letzter Kraft ein Gähnen. Hundemüde war gar kein Ausdruck. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht gleich hier am Tisch einzuschlafen.

»Laß nur«, sagte er. »Ich finde den Weg schon allein. Bleib ruhig bei deinen Kollegen.« Er erhob sich ebenfalls, nickte noch einmal zum Abschied und ging dann rasch zum Ausgang hinüber. Sein Vater sah ihm stirnrunzelnd nach. Aber immerhin war Thomas kein Säugling mehr, den man auf Schritt und Tritt bemuttern mußte.

Er betrat die Liftkabine, drückte auf den obersten Knopf und wartete, bis die Türen zugeglitten und der Aufzug losgefahren war. Seine Augen brannten, und er fühlte sich mit einem Male so müde, daß er sich gegen die Kabinenwand lehnen mußte. Was war nur mit ihm los? Er hatte eine anstrengende Reise hinter sich und hatte ein Recht, müde zu sein. Aber das …

Er wußte hinterher kaum mehr, wie er sein Hotelzimmer erreicht hatte. Mit letzter Kraft öffnete er die Tür, wankte zum Bett und ließ sich der Länge nach darauf fallen.

Aber seltsamerweise schlief er nicht ein. Er fiel in eine Art Trance, etwas, das dem Schlaf sehr, sehr nahekam und in dem sich Wirklichkeit und Traum bereits sacht zu vermischen begannen, aber er schlief nicht wirklich ein. Sein Kopf begann zu dröhnen. Er warf sich unruhig auf dem Bett hin und her, und ein paarmal war ihm, als huschten Schatten durch das Zimmer.

Dann, übergangslos, war er wieder hellwach.

Er fuhr hoch, blinzelte verwirrt und sah auf die Leuchtziffern der Uhr, die neben der Tür hing. Es war lange nach Mitternacht. Unwillkürlich drehte er den Kopf, aber das Bett neben ihm war leer. Vater saß wohl noch mit seinen Kollegen unten an der Bar und diskutierte darüber, warum zwei und zwei vier und auf keinen Fall fünf ergaben, und wahrscheinlich würde es auch noch Stunden dauern, ehe er endlich heraufkam.

Thomas setzte sich vollends auf, schwang die Beine vom Bett und gähnte ausgiebig. Seine Müdigkeit war verflogen, so übergangslos, wie sie gekommen war. Ihm fiel auf, daß er noch vollständig angezogen war, einschließlich Schuhe und Jackett. Er stand auf, ging zum Schrank und nahm einen Schlafanzug vom Regal. Dann schlurfte er ins Bad, um sich umzuziehen.

Das Licht funktionierte nicht. Er betätigte ein paarmal den Schalter, sah mißmutig zur Decke hinauf und ging in den Wohnraum zurück. Als er am Fenster vorbeikam, sah er unwillkürlich nach draußen. Der Himmel war leer; natürlich. Vermutlich würde er das ominöse UFO weder an diesem noch an einem der folgenden Tage noch einmal zu Gesicht bekommen. Und wenn doch – nun, wahrscheinlich hatte Dirkhoff recht, und es handelte sich wirklich um eine Luftspiegelung oder ein harmloses Nordlicht.

Er zog sich um, hängte seine Kleider ordentlich über einen Stuhl und legte sich wieder aufs Bett.

Aus dem Badezimmer ertönte ein Geräusch.

Thomas hob verwundert den Kopf, lauschte einen Moment angestrengt und ließ sich dann wieder zurücksinken. Er mußte sich getäuscht haben.

Das Geräusch wiederholte sich, und diesmal war er sicher, es sich nicht bloß eingebildet zu haben. Er setzte sich auf, sah eine halbe Sekunde nach dem Telefon auf dem Nachtschränkchen und entschied dann, daß es vermutlich ratsamer war, zuerst selbst nach dem Rechten zu sehen, als wegen einer klopfenden Wasserleitung oder eines tropfenden Hahns das halbe Hotel zu alarmieren und sich womöglich bis auf die Knochen zu blamieren.

Als er aus dem Bett stieg, sah er das Licht. Es drang aus dem Schlüsselloch und unter der Badezimmertür hervor, ein grünlicher, flackernder Schein, der langsam wie träge fließendes Wasser über den Teppich und auf ihn und das Bett zukroch.

Thomas war vor Schrecken wie gelähmt. Er wollte herumfahren und davonstürzen, aber er konnte es nicht. Das grüne Licht erreichte das Bett, zeichnete seine Umrisse mit flirrenden hellen Linien nach und kroch weiter, erreichte seine Zehen, seine Füße und begann langsam an seinen Waden emporzukriechen. Ein kribbelndes, nicht einmal unangenehmes Gefühl machte sich in Thomas' Beinen breit.

Wieder ertönte aus dem Bad ein leises Poltern. Und dann senkte sich ganz, ganz langsam die Türklinke.

Thomas' Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Das grüne Licht füllte das Zimmer nun vollständig aus und legte flimmernde Heiligenscheine um jeden Gegenstand. Aber dafür hatte er kaum noch einen Blick. Wie gebannt starrte er vielmehr auf die Badezimmertür, die sich langsam, Zentimeter für Zentimeter öffnete und den Blick in den dahinter liegenden Raum freigab. Er wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Und irgendwie schien von dem grünen Licht nicht nur eine lähmende, sondern zugleich eine beruhigende Wirkung auszugehen. Er hatte Angst, aber ohne daß er einen logischen Grund dafür hätte angeben können, wußte er, daß er nicht in Gefahr war.

Die Badezimmertür hatte sich mittlerweile ganz geöffnet, und Thomas konnte erkennen, daß der Raum von brodelndem Licht und hellen Nebelschwaden erfüllt war. Etwas Dunkles, Großes begann sich in seinem Zentrum zu bilden, ein langgestreckter, schimmernder Umriß, ein … ein Mensch!

Thomas wußte nicht, wie lange es gedauert hatte, bis die Umrisse klar erkennbar waren. Sein Zeitgefühl war vollkommen erloschen. Aber er ahnte, daß es nur wenige Augenblicke gewesen sein konnten, obwohl es ihm wie Stunden vorkam. Der Mann blieb noch einen Moment reglos im Bad stehen und trat dann mit ruhigen Schritten ins Zimmer.

Thomas betrachtete ihn ohne Furcht. Der Mann – wenn es ein Mann war – war nur wenig größer als er selbst, aber viel breitschultriger und massiger. Er trug einen einteiligen Anzug aus weichem, silbrig schimmerndem Stoff, der seinen Körper vollkommen einhüllte und scheinbar nahtlos mit Handschuhen und Stiefeln aus dem gleichen Material verschmolz. Sein Kopf verbarg sich unter einem runden, ebenfalls silberfarbigen Helm, dessen Visier aus verspiegeltem Glas zu bestehen schien, so daß sein Gesicht nicht zu erkennen war. Ein wuchtiger, viereckiger Tornister auf dem Rücken und ein breiter Gürtel, in dem eine Unzahl verschiedener Dinge – darunter auch so etwas wie eine Waffe – steckten, vervollständigten die Ausrüstung.

Thomas begriff erst nach einer Weile, daß die Gestalt genau das trug, was man sich im allgemeinen unter einem Raumanzug vorstellte.

Minutenlang standen sie sich reglos gegenüber und starrten sich an, und Thomas hatte plötzlich das unbehagliche Gefühl, daß ihn die Augen hinter dem blitzenden Visier spöttisch musterten. Obwohl er das Gesicht des Fremden nicht sehen konnte, spürte er einfach, daß dieser Mann ihn mit einem einzigen Blick durchschaute, bis in die tiefsten Winkel seiner Seele sah und selbst seine allergeheimsten Gedanken und Wünsche erriet.

Dann, nach einer Ewigkeit, hob der Fremde die Hand und deutete zum Fenster. Thomas wandte sich gehorsam um, öffnete die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Der eisige Wind schlug ihm ins Gesicht, aber er spürte die Kälte kaum. Auch davor schien ihn das grüne Licht zu schützen.

Er war nicht einmal überrascht, als es geschah.

Die Luft vor dem Balkon begann zu flimmern. Ein großer, unglaublich großer Schatten bildete sich, verschwamm für einen kurzen Moment und nahm dann immer rascher Form an. Wo Sekunden zuvor noch leere Luft gewesen war, hing plötzlich eine gewaltige, silberfarbige Scheibe.

Das UFO!

Thomas betrachtete es ein paar Sekunden lang mit fast wissenschaftlicher Neugier, ehe er, einem stärkeren als seinem eigenen Willen gehorchend, auf die Balkonbrüstung zuschritt. Das Schiff war riesig: ein flacher Diskus mit einem Durchmesser von sicherlich fünfzig Metern und mehr als zehn Metern Höhe. Obenauf saß eine halbrunde, glänzende Kuppel, hinter der er vage Schatten wahrzunehmen glaubte. Rings um den äußeren Rand der Scheibe verlief eine Kette kleiner runder Öffnungen, durch die milchiges Licht herausschimmerte; Fenster wahrscheinlich.

Er kletterte auf die Balkonbrüstung und blieb stehen. Unter ihm lagen einundzwanzig Stockwerke Nichts und dann der Beton der Straße, aber er fühlte auch jetzt keine Furcht. Ohne zu zögern, trat er ins Nichts hinaus. Ein Band flirrenden grünen Lichts schoß aus dem UFO heraus und bildete unter seinen Füßen eine Brücke, über die er sicher über den Abgrund gehen konnte. Thomas konnte keinerlei Risse oder Fugen in der glänzenden Außenhaut des UFOs erkennen, aber als er näher kam, war plötzlich vor ihm ein ovaler Eingang. Er senkte den Kopf, trat hindurch und blieb stehen. Hinter ihm schloß sich die Wand so lautlos, wie sie sich geöffnet hatte. Der Boden unter seinen Füßen bebte sacht, und Thomas wußte plötzlich, daß das Schiff nicht mehr reglos vor dem Hotel schwebte, sondern mit phantastischer Geschwindigkeit dorthin zurückjagte, wo es hergekommen war.

Und langsam, ganz langsam nur, begann er zu begreifen, daß sein Abenteuer nicht beendet war, sondern gerade erst angefangen hatte.

2. Kapitel

Lange Zeit stand er reglos in der winzigen Kammer. Das grüne Leuchten umfloß seinen Körper wie ein Mantel aus Licht, und der Boden unter seinen Füßen begann stärker zu beben. Ein heller, singender Ton lag in der Luft, ein Geräusch, das eigentlich in den Ohren hätte schmerzen müssen, es aber nicht tat. Nach einer Weile begann das Grüne Licht, zu verblassen, erlosch jedoch nicht vollständig, sondern blieb weiter als sanfter Schimmer in der Lufthängen.

In der Wand vor ihm bildete sich ein Spalt. Mildes, blaues Licht schien in die Kammer. Die Tür glitt vollends auf und gab den Blick auf einen niedrigen, sanft gekrümmten Gang frei, der tiefer in das Raumschiff hineinführte. Als Thomas zögerte, der stummen Einladung Folge zu leisten, leuchtete vor ihm in der Luft ein gelber Pfeil auf, der sich langsam in Bewegung setzte. Thomas folgte dem Pfeil.

Er hatte noch immer keine Angst, und er wunderte sich fast selbst darüber. Aber in seinem Innern war noch immer dieses seltsame, vollkommen unbegründete Gefühl der Sicherheit.

Der Pfeil glitt lautlos vor ihm her und paßte seine Geschwindigkeit der seiner Schritte an. Thomas ging absichtlich langsam, um jede noch so winzige Kleinigkeit in seiner Umgebung genau in Augenschein nehmen zu können. Viel gab es allerdings nicht zu sehen: Die Wände des Ganges waren vollkommen glatt und bestanden aus dem gleichen, mattblau schimmernden Material, aus dem das ganze Schiff gefertigt zu sein schien. Es gab keine sichtbaren Türen oder andere Öffnungen, auch keine Schalttafeln und Computerkonsolen, wie er halbwegs erwartet hatte.

Nach einer Weile hielt der Pfeil an, drehte sich langsam um neunzig Grad, so daß seine Spitze genau auf die linke Seitenwand des Ganges deutete, und erlosch. Eine weitere Tür öffnete sich, und Thomas trat ohne weitere Aufforderung hindurch. Der Raum, in den er kam, unterschied sich in Größe und Form kaum von der Kammer, in der er zu Anfang gewesen war. Nur an der gegenüberliegenden Wand gab es etwas, das Thomas vage an eine Schalttafel erinnerte. Darüber hing etwas an der Wand, das wie ein leerer Bilderrahmen aussah.

Der ›Bilderrahmen‹ begann, sich plötzlich mit grauem Nebel zu füllen, und dann hatte er den Eindruck, in einen weiteren, viel größeren Raum zu blicken. Der ›Bilderrahmen‹ war in Wirklichkeit ein Bildschirm, und die bunten Farbflecke darunter stellten wohl so etwas wie Schalter dar.

Aber Thomas kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Seine Aufmerksamkeit wurde ganz von dem in Anspruch genommen, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Der Raum, in den er blickte, mußte die Kommandozentrale des Raumschiffes sein – ein gewaltiger runder Dom, dessen Wände ganz aus Glas oder einem anderen durchsichtigen Material zu bestehen schienen, so daß man durch sie hindurch in den freien Weltraum sehen konnte. Gestalten in silbernen Anzügen huschten geschäftig durch das Bild. Nach einer Weile blieb eine von ihnen stehen, wechselte ein paar Worte mit jemandem, den Thomas nicht sehen konnte, und kam dann so weit auf die Kamera zu, daß sein Helm fast den gesamten Bildausschnitt in Anspruch nahm.

Thomas fühlte eine leichte Enttäuschung, daß er das Gesicht des Fremden nicht erkennen konnte. Er trug die gleiche Art von Helm wie der Mann, dem er in seinem Hotelzimmer begegnet war, und wieder hatte Thomas das Gefühl, von einem Paar alles durchdringender Augen gemustert zu werden.

»Sei gegrüßt, Thomas«, sagte der Mann. Seine Stimme klang weich, aber gleichzeitig auch etwas künstlich, so, als spräche dort nicht ein Mensch, sondern eine Maschine. Trotzdem war sie nicht unangenehm.

Thomas nickte zaghaft und suchte nach einer passenden Antwort, fand aber keine. Doch der Fremde schien auch nicht damit gerechnet zu haben.

»Ich hoffe, du verzeihst uns die Unannehmlichkeiten, die wir dir bereiten mußten«, fuhr er nach einer Pause fort. »Aber es war unumgänglich, um dich unauffällig an Bord nehmen zu können.«

»Was … was wollen Sie von mir?« fragte Thomas stockend. »Wo bin ich, und wer sind Sie?« Die Worte kamen ihm selbst albern vor, aber es waren die besten, die ihm im Moment einfielen.

»Du bist an Bord des Raumschiffes HEDONIA«, antwortete der Mann. »Und mein Name ist Xertal. Ich bin das, was du einen Kommandanten nennen würdest.«

Thomas nickte. Irgend etwas begann sich in seinem Inneren zu regen, eine leise, warnende Stimme, die ihm zuflüsterte, daß hier irgend etwas nicht stimmte, aber sie verstummte fast augenblicklich wieder. Das grüne Leuchten war stärker.

»Deine erste Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworten«, fuhr Xertal fort. »Aber wir haben Zeit genug, um über alles zu reden, ehe wir auf Eridiani aufsetzen. Vorerst versichere ich dir, daß du nichts zu befürchten hast. Du bist bei Freunden.«

Thomas nickte erneut. »Das glaube ich«, sagte er verwirrt. »Aber ich …«

Xertal schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. »Ich werde gebraucht, Thomas«, sagte er. »Das Schiff wird in wenigen Augenblicken die Erdumlaufbahn verlassen und in den Hyperraum gehen. Nach dem Übertritt werde ich dich persönlich aufsuchen und dir alles erklären. Bis dahin bitte ich dich um Geduld. In wenigen Augenblicken wird einer unserer Roboter bei dir erscheinen und dich in deine Unterkunft bringen. Du brauchst keine Furcht vor ihm zu haben.«

Der Bildschirm erlosch, noch bevor Thomas Gelegenheit zu weiteren Fragen hatte, und vor ihm hing plötzlich wieder nur der leere Rahmen. Einen Moment lang sah er, verwirrt, aber auch ein bißchen wütend, auf die mattschimmernde Wand, dann streckte er die Hand nach den Farbflecken unterhalb des Schirmes aus.

Die Tür hinter seinem Rücken glitt auf, und ein mächtiger dunkler Schatten fiel in die Kammer. Thomas drehte sich herum und fuhr unwillkürlich zurück, als er den Roboter sah.

Die Maschine war gewaltig. Ihr Körper hatte die Form einer schlanken, an die zwei Meter hohen Tonne und bestand aus dem gleichen, bläulichen Material wie das Schiff. Zwei lange, fast schon lächerlich dünne Arme hingen bis fast auf den Boden herab, und oben auf der Tonne saß ein winziger Kopf mit einem einzigen, in sanftem Gelb leuchtenden Auge. Das Ding hatte keine Beine, sondern schwebte schwerelos zwei Handbreit über dem Boden.

»Folge mir, Thomas«, sagte der Roboter. Er sprach mit der gleichen sanften und ein wenig synthetisch klingenden Stimme wie zuvor Xertal, und sein einziges Auge flackerte wie eine Lichtorgel im Rhythmus seiner Worte.

Thomas rührte sich nicht. Nervös sah er von der Maschine zum ›Bilderrahmen‹, aber der Schirm leuchtete nicht wieder auf.

»Ich bringe dich in dein Quartier«, fuhr die Maschine nach einer Weile fort. »Es besteht kein Grund zur Furcht. Mein Äußeres mag erschreckend auf dich wirken, aber ich bin nur eine Maschine und darauf programmiert, dir und den anderen zu Diensten zu sein.«

Thomas rührte sich noch immer nicht. »Wer … wer bist du?« fragte er stockend.

»Ich habe keinen Namen«, antwortete der Roboter. »Aber die anderen nennen mich Max. Du kannst dabei bleiben, wenn er dir gefällt.«

Max … ein seltsamer Name für einen Roboter, fand Thomas. Er machte einen Schritt auf den Ausgang zu, blieb plötzlich abermals stehen und sah den schwebenden Koloß nachdenklich an. Es war jetzt schon das zweite Mal, daß Max die ›anderen‹ erwähnt hatte.

»Von welchen anderen sprichst du?« fragte er. »Soll das heißen, daß ich nicht der einzige bin, den ihr entführt habt?«

»Es sind noch mehr Erdenmenschen an Bord, ja«, bestätigte Max. »Fünf Gruppen zu jeweils vier, dich mitgerechnet. Und nun komm. Das Schiff wird in wenigen Minuten die Lichtmauer durchbrechen. Es ist sicherer, wenn du dann in deiner Unterkunft bist.« Der Roboter glitt lautlos zurück, drehte sich um und schwebte vor Thomas den Gang hinunter. Das helle Summen, das ihn seit Betreten des Schiffes begleitet hatte, schien sich zu verstärken, und er konnte spüren, wie irgendwo tief unter seinen Füßen gewaltige Maschinen anliefen.

»Lichtmauer …«, murmelte er verwirrt. Wenn das sein Vater miterleben könnte!

»Der Ausdruck ›Lichtmauer‹, erklärte Max, der über ein ausgesprochen scharfes Gehör zu verfügen schien, »ist irreführend. Aber die physikalischen Vorgänge beim Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit sind äußerst kompliziert. Es würde zu weit führen, sie jetzt erklären zu wollen. Deshalb ist es am besten, du begnügst dich vorerst mit diesem Wort. Später ist Zeit, alles genauer zu erklären.«

Der Roboter hielt an und deutete mit einem seiner dünnen biegsamen Arme auf die Wand. Eine Tür öffnete sich, und Thomas trat zögernd hindurch. Max machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Hinter ihm verschwand die Öffnung wieder.

Der Raum, in den er kam, ähnelte mehr einem gemütlichen Spiel- und Wohnzimmer als der Kabine eines Raumschiffes. Er war vielleicht vier mal fünf Meter groß und hatte eine niedrige, sanft gekrümmte Decke. Farbige Kunststoffmöbel standen in einer Art geordnetem Chaos auf dem Boden herum. An der gegenüberliegenden Wand war eine riesige Schalttafel und ein weiterer, größerer ›Bilderrahmen‹.

Und außerdem waren noch drei Menschen im Zimmer.

Thomas blieb unmittelbar hinter der Tür stehen und sah die drei forschend an. Es waren zwei Jungen und ein Mädchen, alle drei etwa genauso alt wie er. Sie schienen nicht im mindesten erstaunt zu sein, ihn zu sehen, sondern wirkten im Gegenteil wie Menschen, die ungeduldig auf etwas gewartet hatten.

»Hallo«, sagte Thomas schüchtern.

Einer der beiden Jungen – der größere – winkte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zu sich heran und deutete auf einen freien Stuhl. »Setz dich«, sagte er. »Gleich wird's ein bißchen wackelig.«

Thomas gehorchte und nahm auf einem der bunten Kunststoffstühle Platz. Sie sahen unbequem aus, waren aber wunderbar weich und schienen sich seinem Körper wie eine zweite Haut anzupassen.

Der Junge, der ihn aufgefordert hatte, sich zu setzen, lächelte flüchtig, als er den verwunderten Ausdruck auf seinen Zügen registrierte. »Toll, die Dinger, nicht?« sagte er. »Aber du wirst noch mehr Sachen kennenlernen, von denen du vor einer halben Stunde noch nicht einmal geträumt hast.«

Thomas nickte zaghaft. Der Boden begann stärker zu zittern, und das helle Singen wurde für einen Moment so laut, daß eine Unterhaltung nicht mehr möglich war. Thomas nutzte die Zeit, um seine drei ›Mitgefangenen‹ etwas eingehender zu betrachten. Der Junge, mit dem er bereits gesprochen hatte, war etwas größer als er, dunkelhaarig und so schlank, daß man schon fast von dürr sprechen konnte. Er hatte ein schmales, fast mädchenhaft geschnittenes Gesicht, in dem die Sommersprossen irgendwie fehl am Platze wirkten. Er trug Jeans und ein dunkelrot kariertes Baumwollhemd, das nicht so recht zu seiner Erscheinung paßte.

Der andere war etwas kleiner, blond und von kräftiger Statur. Seine Augen blinzelten ununterbrochen, und sein Gesicht war etwas zu breitflächig, um noch gut auszusehen. Auch er trug Jeans und Hemd, dazu ein Paar rote Cowboystiefel und ein schreiend buntes Halstuch.

Am meisten staunte Thomas über das Mädchen. Es war eine Asiatin – Chinesin oder Japanerin vielleicht –, hatte langes, schwarzes, in Zöpfe geflochtenes Haar und wache Augen, die ihn die ganze Zeit amüsiert zu mustern schienen. Auch sie trug Jeanshosen und ein buntgemustertes Wollhemd.

Thomas fiel plötzlich ein, daß er noch immer den hellblauen Pyjama trug, den er angezogen hatte, bevor ihn das grüne Licht überfiel. Er sah an sich herab und spürte, wie er rot anlief.

Nach einer Weile verklang das Singen, und der Boden hörte auf zu beben.

»Kein Grund, rote Ohren zu bekommen«, sagte der schwarzhaarige Junge lächelnd. »Wir waren auch nicht wesentlich eleganter gekleidet, als wir an Bord kamen. Unser Freund Max wird dir sicher nachher andere Sachen bringen. Es gibt aber nur Jeans und karierte Hemden. Muß der letzte Schrei in der Galaxis sein.«

Thomas sah den Jungen mit wachsender Verwirrung an. Sie befanden sich auf einem Raumschiff und rasten jetzt vermutlich schon mit zigfacher Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum, und sie saßen hier und unterhielten sich über Kleider! Aber schließlich verspürte auch er diese vollkommen unbegründete Ruhe, eine Gelassenheit, die der Situation ganz und gar nicht angemessen schien.

»Mein Name ist übrigens Boris«, fuhr der Junge fort »Das da« – er deutete zuerst auf den anderen Jungen, dann auf das Mädchen – »sind Stephen und Tai Lin. Und du?«

»Thomas«, sagte Thomas. »Die meisten sagen nur Tom zu mir.« Das war glatt gelogen, aber Dirkhoffs Abkürzung hatte ihm gefallen, und außerdem erschien ihm der Name in ihrer Lage irgendwie passender.

»Woher kommst du?« fragte Boris. »Ich meine – aus welchem Land?«

»Deutschland«, antwortete Thomas. »Mein Vater hat mich mitgenommen, als er zu diesem Kongreß …«

Boris winkte ab. »Geschenkt, Tom. Wir stammen aus dem gleichen Stall. Dieser Xertal muß das ganze Hotel abgegrast haben. Ich komme aus Minsk. Stephens Vater ist aus New York angereist, und Tai Lins Eltern sind gerade gestern aus Peking gekommen.«

»Minsk?« wiederholte Thomas ungläubig. »Aus Rußland?«

Boris nickte. »Eine gute Mischung, nicht?«

»Wieso sprichst du so gut Deutsch?« erkundigte sich Thomas.

Boris begann zu lachen, und ohne daß Thomas einen logischen Grund dafür sah, stimmten auch Stephen und Tai Lin für einen Moment ein.

»Was ist daran so komisch?« fragte Thomas beleidigt.

»Nichts«, sagte Boris. »Aber genauso gut könnte ich dich fragen, wieso du so gut Russisch sprichst. Oder Chinesisch.«

Thomas verstand immer weniger. »Wie … wie meinst du das?« fragte er.

»Ich spreche kein Wort deutsch«, erklärte Boris. »Auch jetzt nicht. Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber jeder von uns redet in seiner Heimatsprache, und trotzdem können ihn die anderen verstehen. Und er sie. Diese Galaktiker haben schon was auf dem Kasten.«

»Galaktiker?« wiederholte Thomas stirnrunzelnd.

»Xertal und seine Leute«, mischte sich Stephen ein. »Sie nennen sich jedenfalls so.« Er schwieg einen Moment, sah Thomas durchdringend an und sprach dann mit veränderter Stimme weiter. »Ich bin schon seit vier Tagen hier, weißt du. Boris kam vorgestern, und Tai Lin gestern. Du wirst das alles noch erfahren. Dieser Xertal nimmt sich für jeden extra Zeit, um ihm seine Geschichte aufzutischen.«

»Welche Geschichte?« erkundigte sich Thomas.

Stephen seufzte. »Na ja, ich habe sie schon zweimal erzählt, warum soll ich sie nicht noch ein drittes Mal erzählen. Nicht, daß sie dadurch besser würde, aber …« Er seufzte erneut, schüttelte den Kopf und machte eine weit ausholende Geste. »Dieses Ding hier«, erklärte er, »ist der interplanetare Sternenkreuzer HEDONIA. Eines von Hunderten von Raumschiffen, die ständig durch die Milchstraße fliegen und nach unterentwickelten Planeten wie unserer Erde Ausschau halten. Sie haben uns vier und noch sechzehn andere gekidnappt, damit wir vor dem Rat der Galaktiker antanzen und über unsere Welt berichten sollen. Sie wollen sehen, ob die Erde reif ist, in den Bund der galaktischen Welten aufgenommen zu werden. Soweit die Kurzfassung.«

Thomas tauschte einen raschen Blick mit Boris aus, aber auf dem Gesicht des jungen Russen war nur sein freundliches Lächeln zu sehen. Anscheinend lächelte er ständig.

»Das … hört sich nicht so an, als würdest du das glauben«, sagte er vorsichtig, wieder an Stephen gewandt.

Stephen machte ein abfälliges Geräusch. »Natürlich nicht«, sagte er überzeugt. »An der ganzen Geschichte ist doch kein wahres Wort! Xertal! So heißt jeder dritte Außerirdische in einem Science-Fiction-Roman, aber doch kein Mensch. Dann dieser Roboter Max und dieser ganze Krempel hier …« Er wies auf die bunten Möbel und die glitzernde Schalttafel an der Wand. »Ich komme mir vor wie in der Dekoration eines zweitklassigen Hollywoodfilmes. Und dann diese haarsträubende Geschichte. Rat der Galaktiker! Bund der Welten! Das ist doch alles ausgemachter Blödsinn. Schwachsinn hoch drei! Verrat mir einen einzigen logischen Grund, aus dem sie Kinder entführen sollten, wo sie praktisch die gesamte Führungsspitze der Weltwissenschaftler zur Verfügung hatten. Und außerdem macht es mich mißtrauisch, daß sie uns manipuliert haben.«

»Manipuliert?«

»Aber sicher«, behauptete Stephen. »Ist dir eigentlich nicht aufgefallen, daß du keinen Augenblick lang erschrocken warst oder gar Angst hattest? Daß du alles wie selbstverständlich hinnimmst und dir auch keine Gedanken darüber machst, daß deine Eltern halb wahnsinnig vor Angst werden müssen, wenn du plötzlich verschwindest? Und dann das mit der Sprache … Wenn sie das geschafft haben, dann können sie wahrscheinlich mit unseren Gedanken herumspielen, wie es ihnen paßt. Nein, mein Lieber. Irgend etwas ist hier faul. Oberfaul.«

Thomas dachte einen Moment über Stephens Worte nach. Auf den ersten Blick schienen sie von einer zwingenden Logik zu sein, aber er erkannte den Fehler darin sehr schnell.

»Wenn du recht hättest«, sagte er langsam, »warum sollten sie uns dann diese Geschichte erzählen? Wenn sie wirklich unsere Gedanken manipulieren könnten …«

»Kämen wir wahrscheinlich gar nicht erst auf die Idee, ihre Worte anzuzweifeln«, beendete Boris den Satz. »Genau das versuche ich ihm seit zwei Tagen klarzumachen. Aber er glaubt mir nicht.«

Stephen schenkte ihm einen bösen Blick und wandte sich dann wieder an Thomas.« Vielleicht ist ihre Technik nicht so perfekt«, räumte er ein. »Aber ich bleibe dabei, daß hier etwas nicht stimmt. Warum landen sie nicht einfach vor dem Weißen Haus oder von mir aus auch vor dem Kreml und steigen aus, wenn sie die Erde wirklich in ihren komischen Bund aufnehmen wollen?«

»Weil sie vermutlich sofort verhaftet würden«, sagte Boris ruhig. »Euer Geheimdienst würde sie verschwinden lassen, und eure Wissenschaftler würden auf der Stelle darangehen, ihr Schiff auseinanderzunehmen, um ihre Technik zu erforschen.«

»Eure nicht?« fragte Stephen spitz.

Boris lächelte heiter und schwieg.

»So geht das jetzt schon, seit ich hier bin«, murmelte Tai Lin. »Die beiden haben anscheinend nichts Besseres zu tun, als sich den ganzen Tag in den Haaren zu liegen.«

»Und was tust du?« fragte Stephen spitz. »Herumsitzen und lächeln und Löcher in die Luft starren. Was ist das? Chinesischer Gleichmut?«

Tai Lin sah ihn beinahe mitleidig an. »Etwas, das dir zu fehlen scheint«, sagte sie sanft. »Geduld. Ich warte, das ist alles. Viele große Probleme erledigen sich einfach durch Abwarten.«

»Und worauf wartest du?« erkundigte sich Stephen.

»Darauf, daß etwas geschieht. Ich weiß nicht, ob diese Geschichte, die Xertal uns erzählt hat, stimmt oder nicht, aber wir werden es herausfinden.«

Thomas schüttelte den Kopf. Das alles war noch viel zu neu und verwirrend für ihn, als daß er sich wirklich ein Urteil bilden konnte, aber er hatte das Gefühl, daß die drei alles andere als gute Freunde waren. Sie kamen aus drei verschiedenen Ländern – drei verschiedenen Welten fast, wenn man bedachte, wie unterschiedlich ihre Heimatländer sein mußten – und offenbar genügte es doch nicht, einfach ein paar Menschen in eine gefährliche oder auch nur ungewöhnliche Situation zu stoßen, um sie all ihre Vorurteile und Ressentiments vergessen zu lassen. Die Spannung, die in der Luft lag, war direkt fühlbar. Was immer die Galaktiker mit ihnen gemacht hatten – und in diesem Punkt zweifelte Thomas nicht an Stephens Behauptung, daß sie irgend etwas mit ihnen getan hatten – es hatte ihnen nur die Furcht vor dem Raumschiff und seiner Besatzung genommen, mehr nicht.

»Das darf nicht wahr sein«, murmelte Stephen. »Die eine sitzt herum und wartet auf den Weihnachtsmann, und der andere grinst die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd und glaubt jeden Schwachsinn, den man ihm auftischt.« Er schüttelte den Kopf, stand auf und begann unruhig in der Kabine auf und ab zu gehen.

»Und du?« wandte er sich an Thomas. »Was hast du vor?«

Thomas antwortete nicht gleich. Das Gefühl der Hilflosigkeit in seinem Inneren wurde immer stärker, und am liebsten hätte er sich in irgendeine Ecke verkrochen, die Augen zugepreßt und darauf gewartet, daß der Alptraum endlich aufhörte und er erwachte.

»Verrat mir lieber, was du vorhast«, sagte Boris. »Selbst wenn du recht hast – was sollen wir tun? Max einen Stuhl über den Schädel schlagen und das Schiff kapern? Du scheinst zu vergessen, daß wir uns irgendwo im Weltraum befinden.«

»Quatsch, Weltraum«, schnappte Stephen. »Wenn du mich fragst, dann ist das Ganze ein riesengroßer Schwindel. Humbug! Irgendein verrückter Test, den sie mit uns anstellen.«

»Dann gibst du nicht gerade eine gute Figur ab, mein Lieber«, sagte Boris.

»So?« machte Stephen. »Aber du, wie? Hockst herum und tust gar nichts.«

»Zumindest«, antwortete Boris, noch immer im gleichen, sanft-tadelnden Tonfall, »verliere ich nicht die Nerven.«

Stephen setzte zu einer scharfen Antwort an, aber in diesem Moment ging die Tür auf, und der riesenhafte Roboter schwebte lautlos ins Zimmer. Über dem rechten Arm trug er ein Bündel mit zusammengefalteten Kleidern: Jeans, ein Baumwollhemd und kniehohe Stiefel. Offensichtlich, dachte Thomas, war diese Art von Kleidung in der Galaxis wirklich gerade groß in Mode.

Der Roboter glitt auf ihn zu, legte Kleider und Stiefel wortlos vor ihm auf den Boden und deutete mit einem seiner Arme auf die Wand hinter ihm. »Der Baderaum«, sagte er. »Dort kannst du dich umziehen.«

Thomas wandte unwillkürlich den Kopf und sah in die angegebene Richtung. Die Wand war so glatt und fugenlos wie die anderen, aber er hatte ja schon ein paarmal erlebt, auf welch wundersame Weise die Türen in diesem Raumschiff funktionierten. Er stand auf, nahm die Sachen vom Boden auf und trat auf die Wand zu. Sie glitt lautlos auseinander, als er noch einen halben Schritt davon entfernt war. Er betrat einen kleinen, halbrunden Raum, der vollkommen leer zu sein schien. Auf dem Fußboden war ein etwa anderthalb Meter durchmessender Kreis aufgemalt, und direkt neben der Tür leuchtete ein rotes Dreieck. Darunter war eine niedrige Nische angebracht.

»Wenn du duschen willst, dann tritt in den Kreis und berühre das rote Dreieck«, sagte Max. »Deine Kleider kannst du in das Wandfach legen. Sie werden trocken bleiben.«

Thomas bedankte sich mit einem stummen Kopfnicken und trat von der Tür zurück. Lautlos schloß sie sich wieder. Eigentlich hatte er keine Lust zu duschen, sondern brannte darauf, wieder zu den anderen hinauszukommen und mit ihnen zu reden. Die seltsame Lethargie, die ihn erfaßt hatte, begann allmählich zu weichen, und es gab eine Million Fragen, auf die er eine Antwort haben wollte. Aber dann siegte doch seine Neugier. Er zog sich aus, verstaute seinen Pyjama und auch die frischen Kleider, die ihm Max gebracht hatte, in der Nische und trat ins Zentrum des Kreises. Der rote Fleck neben der Tür begann stärker zu leuchten, aber sonst geschah nichts. Thomas legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke hinauf. Es gab weder Löcher noch irgend etwas anderes, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Dusche gehabt hätte. Achselzuckend streckte er die Hand nach dem roten Dreieck aus und berührte es.

Die Luft begann plötzlich zu flimmern. Der erwartete Wasserstrahl blieb aus, aber er hatte plötzlich das Gefühl, von einer unsichtbaren, weichen Hand umschlossen zu werden. Seine Haut begann zu prickeln. Das Gefühl hielt nur wenige Sekunden an, aber er fühlte sich hinterher frisch und sauber, und als er an sich herabsah, sah er, daß seine Haut gerötet und so sauber war, als hätte er stundenlang gebadet.

Er zog sich an, ließ den Pyjama der Einfachheit halber, wo er war, und trat wieder in die Kabine hinaus. Stephen und Boris waren in ein hitziges Streitgespräch verwickelt, hörten aber sofort auf, als er aus der Duschkabine kam.

Boris sah an ihm herab und grinste noch breiter als gewöhnlich.

»Willkommen im Club«, sagte er. »Jetzt sieht man wenigstens, daß du zu uns gehörst. Steht dir wirklich ausgezeichnet.«

Thomas hakte verlegen die Daumen hinter den Gürtel. Die ganze Situation kam ihm mit einem Male unglaublich absurd vor. Aber absurd oder nicht – er war mitten drin, und er mußte versuchen, das Beste daraus zu machen.

»Wenn du hungrig bist«, fuhr Boris fort, »dann brauchst du nur auf den Knopf da ganz rechts zu drücken. Eine große Auswahl gibt es allerdings nicht. Du kannst wählen zwischen grünen, roten und braunen Pillen. Sie schmecken alle gleich.«

»Nach Pappe«, fügte Stephen hinzu. »Aber sie machen satt.«

Thomas schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger, danke«, sagte er. »Aber ich glaube, es wird Zeit, daß wir uns ein bißchen gründlicher unterhalten. Also, wie war das mit diesen Galaktikern?«

Stephen seufzte. »Die Geschichte wird nicht besser, wenn man sie noch mal erzählt«, sagte er unlustig. »Außerdem wird dich unser Herr und Meister sicherlich gleich zu einem kleinen Gespräch abholen. Du wirst dann alles erfahren, was du wissen willst. Jedenfalls das, was er dir sagen will«, schränkte er ein.

»Fang nicht schon wieder an«, sagte Tai Lin ruhig. »Tom hat ein Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden, oder?«

Stephen schien aufbrausen zu wollen, überlegte es sich aber dann doch anders und zuckte nur stumm mit den Schultern.

Thomas setzte sich wieder. Es gab nichts, was er hätte tun können, aber irgendwie ahnte er, daß diese Untätigkeit nicht mehr lange andauern würde. Wenn er Xertals Worten und denen des Roboters trauen konnte, dann befanden sie sich jetzt schon auf dem Weg nach Eridiani, und es würde eine Menge Dinge geben, die er ihm bis dahin erklären mußte.

Zum zweiten Mal seit seiner Ankunft an Bord verspürte er dieses leise Gefühl des Zweifels. Eridiani… er hatte diesen Namen schon einmal gehört, und es war noch nicht einmal lange her. Aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wann und in welchem Zusammenhang. Trotzdem – er verstand Stephens Mißtrauen plötzlich. Irgend etwas schien hier wirklich nicht so zu sein, wie man sie glauben machen wollte.

»Wie viele sind wir insgesamt an Bord?« fragte er. »Zwanzig?«

Boris nickte. »Mit uns, ja. Es gibt noch vier andere Gruppen, auch jeweils zu viert. Aber wir haben sie noch nicht gesehen.«

»Sie trennen euch?« fragte Thomas verwundert.

»Uns«, verbesserte ihn Boris. »Du gehörst jetzt dazu, Tom.«

»Das tut nichts zur Sache«, sagte Thomas ungeduldig.

»Wieso können wir die anderen nicht sehen?«

»Weil wir die Kabine nicht verlassen dürfen«, antwortete Stephen rasch. »Die Tür öffnet sich nur für Max.«

»Das heißt, wir sind eingesperrt?« vergewisserte sich Thomas.

Boris nickte. »Ja. Angeblich nur vorläufig und angeblich nur aus Sicherheitsgründen.«

»Ich frage mich nur, um wessen Sicherheit sie sich Sorgen machen«, sagte Stephen.

»Und woher wißt ihr dann von den anderen?«

»Von Max«, sagte Boris. »Der alte Knabe ist recht gesprächig. Er antwortet auf alle Fragen.«

»Auf fast alle Fragen«, verbesserte ihn Stephen.

Boris verzog das Gesicht. »Bitte, auf fast alle Fragen, wenn dir das lieber ist. Jedenfalls hat er es uns gesagt. Wir sind insgesamt zwanzig an Bord.«

»Die Delegation der Erde«, murmelte Stephen spöttisch. »Um vor dem Rat der Galaktiker aufzutreten. So ein Blödsinn!«

Boris warf ihm einen bösen Blick zu, schwieg aber.

»Vielleicht«, sagte Thomas schüchtern, »sehen sie die Sache anders. Ich meine, wir glauben, daß nur die Politiker und Wissenschaftler etwas zu sagen haben, aber das muß nicht überall so sein.«

»Aber sicher«, sagte Stephen sarkastisch. »Der Bund der Planeten wird höchstwahrscheinlich von Kindern regiert. Und wir sind zwanzig Auserwählte, die den ganzen Laden übernehmen sollen. Wer weiß, vielleicht übernimmt Boris demnächst den Kreml und ich das Weiße Haus.«

Der Streit wäre sicher noch weitergegangen, doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Roboter schwebte zu ihnen herein.

»Kommt mit«, sagte er einfach.

Boris blinzelte verwirrt, stand aber gehorsam auf. »Wohin?« fragte er.

»Zu Xertal«, antwortete Max. »Der Kommandant möchte euch und den anderen ein paar Erklärungen geben. Jetzt, wo wir vollzählig und auf dem Weg sind, ist Zeit dazu.«

Der Roboter schwebte wieder auf den Gang hinaus, und sie folgten ihm gehorsam. Hinter ihnen verschmolz die Tür wieder fugenlos mit der Wand.

Thomas schätzte, daß sie das Schiff etwa zur Hälfte umrundet hatten, ehe die Maschine anhielt und sich eine weitere Öffnung vor ihnen auftat. Dahinter lag ein runder, vollkommen leerer Schacht. Boris ging bis zur Tür, lugte mißtrauisch hindurch und sah den Roboter zweifelnd an. »Was ist das?« fragte er.

»Der Lift. Xertal erwartet euch im Mannschaftsraum.«

Thomas schob sich neugierig an Max vorbei und sah ebenfalls durch die Tür. Das, was Max als Lift bezeichnet hatte, war in Wirklichkeit nichts als ein runder Schacht, der durch das gesamte Schiff zu führen schien. Der Boden lag mindestens zehn Meter unter ihnen.

»Ich sehe keine Kabinen, sagte Boris vorwurfsvoll.

Die Stimme des Roboters klang beinahe amüsiert, als er antwortete.

»Der Lift funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie die Maschinen, mit denen ich mich fortbewege«, erklärte er. »Aufhebung der Schwerkraft. Geht ruhig hinein.«

Boris zögerte noch immer. »Na ja«, sagte er schließlich.

»Ihr werdet euch kaum die ganze Mühe gemacht haben, um dann zuzusehen, wie wir uns die Knochen brechen, oder?« Damit schwang er sich ohne ein weiteres Wort in den Schacht und begann langsam nach unten zu gleiten.

Thomas sah ihm staunend nach. Der Gedanke, sich diesem unsichtbaren Kraftfeld – oder was immer es war – anzuvertrauen, war ihm noch immer nicht geheuer. Trotzdem schwang er sich hinter Boris in den Aufzug und glitt, wie von Geisterhänden getragen, langsam nach unten.

Es war ein durchaus angenehmes Gefühl. Sein Körper schien mit einem Male vollkommen gewichtslos zu werden, und er fühlte sich so frei wie nie zuvor in seinem Leben. Er war beinahe enttäuscht, als er am unteren Ende des Schachtes ankam und zur Seite treten mußte, um Platz für Stephen, Tai Lin und den Roboter zu machen.

Sie warteten schweigend, bis die Maschine als letzte unten angekommen war, und gingen weiter. Max übernahm wieder die Führung, und wieder gingen sie durch einen hohen, vollkommen leeren Gang mit glatten Wänden.

Thomas begann, sich zunehmend unwohler zu fühlen. Es mochte sicher praktisch sein, alle möglichen Gebrauchsgegenstände und Maschinen in den Wänden zu verbergen, aber es machte ihn einfach nervös, sich ständig durch ein scheinbar vollkommen leeres Schiff zu bewegen. Er sah sich nach Stephen um und unterdrückte ein Lächeln, als er sah, wie erschüttert der junge Amerikaner plötzlich wirkte. Seine Theorie, daß dies alles hier nichts als Täuschung war und sich jemand einen schlechten Scherz mit ihnen erlaubte, mußte durch den Schwerelosigkeitslift einen gehörigen Knacks abbekommen haben. Aber er schwieg verbissen.

Schließlich – sie hatten das Schiff fast ein weiteres Mal zur Hälfte umrundet und mußten sich annähernd unter ihrem Quartier befinden – erreichten sie eine weitere Tür. Max glitt zur Seite und machte eine einladende Armbewegung.

Der Anblick war so erstaunlich, daß Thomas unwillkürlich stehenblieb und Boris von hinten gegen ihn rempelte. Der Raum war viel größer, als er erwartet hatte, und keineswegs leer. Die gesamte hintere Wand schien aus einem einzigen, gewaltigen Bildschirm zu bestehen, vor der sich eine Anzahl niedriger weißer Tische und dazu passender Kunststoffstühle gruppierten. Es waren fünf Tische, und an vieren davon saßen jeweils vier Kinder.

Thomas registrierte mit einem raschen Blick, daß sie alle etwa im gleichen Alter wie er und seine drei Begleiter waren. Und sie alle waren auf die gleiche Weise gekleidet – Jeans, Stiefel und karierte Baumwollhemden. Neben jedem Tisch schwebte reglos ein Zwillingsbruder von Max.

»Setzt euch, bitte«, sagte eine Stimme. Thomas sah erschrocken auf und merkte erst jetzt, daß vor der Bildschirmwand ein Mann stand.

Jedenfalls vermutete er, daß es ein Mann war.

Er war sehr groß, schlank, beinahe zerbrechlich, und er trug die gleiche Art von silbernem, vollkommen geschlossenem Anzug, wie er sie schon zweimal gesehen hatte. Das mußte Xertal sein, oder einer seiner Begleiter.

Sie nahmen gehorsam Platz. Der Roboter schwebte ans Kopfende des Tisches und erstarrte zur Bewegungslosigkeit.

Thomas sah sich verstohlen um. Sie waren jetzt insgesamt zwanzig; die zwanzig, von denen Boris und Stephen gesprochen hatten. Die meisten der Jungen und Mädchen kamen ihm seltsam ruhig und gelassen vor, und er sah, daß einige von ihnen noch von einem schwachen, grünlichen Glanz umgeben waren, so, als bliebe das beruhigende grüne Licht immer gerade so lange, bis man sich genügend an seine neue Umgebung gewöhnt hatte, um sie auch aus eigener Kraft hinnehmen zu können. Unwillkürlich hob er die Hände vor die Augen und suchte mißtrauisch nach einer grünen Aura. Aber er fand nichts mehr.

»Ich begrüße euch noch einmal an Bord des Raumschiffes HEDONIA«, sagte der Mann vor dem Bildschirm. Thomas ließ die Hände sinken und konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf ihn. Es irritierte ihn, daß er das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte.

»Ich bin Xertal«, fuhr der Mann fort, »der Kommandant dieses Raumkreuzers. Die meisten von euch haben ja bereits mit mir gesprochen, aber jetzt, wo wir alle zusammen sind, möchte ich euch noch einmal ausführlich erklären, warum ihr hier seid.« Er legte eine Pause ein und schien einen nach dem anderen durchdringend anzusehen. »Ihr seid zwanzig«, fuhr er fort. »Zwanzig junge Erdenmenschen aus zwanzig verschiedenen Staaten eures Planeten. Es ist kein Zufall, daß wir gerade euch ausgesucht haben, um euch dem Rat der Galaktiker vorzustellen. Ihr stammt aus den zwanzig mächtigsten und einflußreichsten Ländern eurer Welt, und auch wenn ihr noch sehr jung seid, so tragt ihr doch bereits alles in euch, was eure Völker an kulturellem und ethischem Erbe zu vermitteln haben.«

Wieder stockte er, und Thomas nutzte die Pause, um einen raschen Blick in die Runde zu werfen. Die Blicke der meisten hingen wie gebannt an Xertals unsichtbarem Gesicht, aber es gab auch ein paar, die starr zu Boden sahen oder ganz eindeutig Angst hatten. Die ›Konditionierung‹ schien nicht bei jedem so einwandfrei zu wirken wie bei Boris oder Tai Lin.

»Bevor ich dazu komme, euch im einzelnen zu erklären, was euch auf Eridiani erwartet«, fuhr Xertal fort, »will ich euch etwas über den Bund der Welten erzählen. Vielleicht versteht ihr dann vieles besser.«

Die Wand hinter ihm färbte sich schwarz. Gleichzeitig erlosch das Licht. Auf dem Bildschirm erschien die gestochen scharfe Aufnahme der Milchstraße, ein gewaltiges, lohendes Feuerrad, vor dem sich Xertals Gestalt nur noch als schwarzer Schattenriß abzeichnete.

»Der Bund der Welten«, erklärte Xertal mit ruhiger, angenehmer Stimme, »ist ein Gebilde, das einen großen Teil des Milchstraßensystems umfaßt. Er ist so alt, daß nicht einmal wir wissen, wann er entstand und wer ihn gründete. Unsere Geschichtsschreibung reicht mehr als dreißigtausend eurer Jahre in die Vergangenheit, aber selbst damals gab es den Bund der Welten schon. Es ist eine Vereinigung von annähernd zehntausend verschiedenen Völkern und Planeten.«

Er schwieg wieder, und die Galaxis auf dem Bildschirm wuchs heran, als wäre die Kamera in einem Raumschiff befestigt, das sich ihrem Rand mit ungeheurer Geschwindigkeit näherte. Nach wenigen Sekunden füllte sie die gesamte Bildfläche aus. Die Kamera bewegte sich auf einen einzelnen Spiralarm zu und verharrte wieder.

»Aber selbst diese gewaltige Zeitspanne reichte nicht aus, um die gesamte Galaxis zu erforschen«, sagte Xertal. »Heute umfaßt der Bund der Welten den Großteil des Spiralarmes, den ihr auf dem Bild hinter mir seht, aber er stellt nur einen winzigen Bruchteil der Milchstraße dar. Wir wissen, daß es überall in der Galaxis intelligente Rassen geben muß, und wir sind ständig auf der Suche nach Kontakten.«

Wieder wechselte das Bild, und diesmal sahen sie eine Armada schimmernder flacher Scheiben, die aus der Atmosphäre eines dunkelgrün leuchtenden Planeten hervorbrachen und in den Raum hinausjagten.

»Ich will euch nicht verschweigen, daß es auch dunkle Episoden in unserer Geschichte gab«, fuhr Xertal fort. »Zweimal trafen wir auf kriegerische Rassen, die uns ebenbürtig erschienen, und zweimal stand die Galaxis am Rande eines unvorstellbaren Krieges. Es gelang uns beide Male, einzulenken und die Katastrophe zu verhindern, aber wir sind gewarnt. Seither gibt es Schiffe wie die HEDONIA, Beobachtungskreuzer, die unbemerkt durch die Galaxis streifen und Welten wie die eure überwachen. Planeten, die an der Schwelle zu den Sternen stehen. Nicht alle dieser Welten sind wirklich reif für die Galaxis. Oftmals hält die ethische Entwicklung eines Volkes nicht Schritt mit ihrer Technik, und es ist unsere Aufgabe, zu entscheiden, ob und wann ein Volk reif ist für den Frieden.«

Das Bild wechselte, und sie sahen ein Raumschiff, das mit wahnwitziger Geschwindigkeit über der Oberfläche eines fremden Planeten dahinraste.

»Kommen wir zu dem Schluß, daß ein Volk noch Zeit braucht, um zu sich selbst zu finden, so greifen wir behutsam in seine Entwicklung ein und verhindern, daß es den Weg zu den Sternen zu früh findet. Das mag euch im Augenblick vielleicht grausam und anmaßend erscheinen, aber wir wissen aus vielen traurigen Beispielen, daß es oftmals der einzige Weg ist, ein Volk vor dem Untergang zu bewahren.«

Die Bildwand zeigte jetzt eine große Anzahl von Raumschiffen. Sie waren längst nicht so elegant wie die flachen Scheiben, die sie zuvor gesehen hatten, und wirkten irgendwie bedrohlich. Plump, massig und auf schwer zu beschreibende Art gewalttätig. Ein Planet tauchte am linken Bildrand auf. Die Flotte fächerte auseinander, und dann löste sich ein Schwarm kleiner, silberner Raketen von den großen Raumschiffen. Sekunden später blitzte es an zahllosen Stellen auf dem Planeten weiß und orange auf. Thomas schauderte. Xertal erklärte die Bilder nicht, aber das war auch nicht nötig.

»Ist ein Volk reif für die Aufnahme in den Bund«, fuhr der Galaktiker fort, »so nehmen wir ganz offen Kontakt mit ihm auf. Aber es kommt auch vor, daß wir nicht sicher sind, wie weit eine Rasse in ihrer Entwicklung fortgeschritten ist, so wie bei euch. In euch Menschen vereinigt sich Aggressivität und Weisheit in einer seltenen Kombination. In einem solchen Fall suchen wir uns eine Anzahl Lebewesen heraus, um sie vor den Rat der Galaktiker zu bringen. Und es ist kein Zufall, daß ihr so jung seid. Ihr seid alt genug, um dicht vor der Schwelle des Erwachsenseins zu stehen und jeden Charakterzug aufzuweisen, den ihr auch später haben werdet, aber noch jung genug, um nicht durch eure Umwelt beeinflußt zu sein.«

Thomas hatte den Eindruck, daß Xertal eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen und es sich im letzten Moment anders überlegt hatte, aber seine Aufmerksamkeit wurde bereits wieder von dem Geschehen auf der Bildwand in Anspruch genommen.

Sie zeigte jetzt Aufnahmen einer fremden Welt. Eine seltsame, gewellte Ebene voller Bäume und grünlichblauem Gras glitt auf dem Bildschirm vorbei. Große, bizarr gewachsene Tiere liefen in kleinen Gruppen über die Ebene, aber sie waren zu rasch vorbei, als daß Thomas Einzelheiten erkennen konnte. Dann tauchte eine Stadt am Horizont auf.

Ein erstauntes Raunen ging durch den Raum, als die Stadt näher kam, und auch Thomas hielt erstaunt den Atem an. Die Stadt war gewaltig; eine schier endlose Ansammlung flacher, weißer Gebäude und gigantischer gläserner Türme, die meilenweit in den Himmel zu streben schienen.

»Eridiani«, sagte Xertal. »Die Welt, zu der wir euch bringen werden. Das Zentrum des Bundes. Sie wird euch wie ein Paradies erscheinen, aber ihr dürft nie vergessen, aus welchem Grund ihr dort seid. Und noch etwas dürft ihr nicht vergessen.«

Xertal kam nie dazu, zu erklären, was sie noch beachten mußten.

Der Bildschirm erlosch von einem Augenblick zum anderen. Das Licht flammte wieder auf, aber es war jetzt rot statt weiß, und das monotone Singen des Antriebes, das seine Worte bisher untermalt hatte, wurde plötzlich vom nervenzerfetzenden Gellen einer Alarmsirene übertönt.

3. Kapitel

Im ersten Moment war Thomas gelähmt vor Schrecken.

Das Licht begann zu flackern, und das Gellen der Alarmsirene wurde um eine Spur schriller. Ein harter, knirschender Stoß ging durch das Schiff. Der Boden kippte für einen Moment zur Seite und stellte sich dann mit einem Ruck wieder auf. Thomas klammerte sich instinktiv am Tisch fest, aber seine Finger glitten an dem glatten Kunststoffmaterial ab, und er landete unsanft auf dem harten Metallboden.

Der Mannschaftsraum verwandelte sich in ein Chaos. Dutzende von Stimmen schienen gleichzeitig durcheinanderzuschreien. Drei, vier Kinder versuchten gleichzeitig, die Tür zu erreichen, und wurden von einem zweiten, noch machtvolleren Stoß von den Füßen gerissen.

Thomas rollte sich herum, griff nach dem erstbesten Gegenstand, den er erreichen konnte – es war ein Tischbein – und zog sich daran in die Höhe. Das Schiff stampfte und bockte wie ein Boot auf hoher See. Das Licht erlosch für einen Moment ganz, und Thomas spürte, wie in der darauffolgenden Dunkelheit endgültig die Panik ausbrach. Jemand rempelte ihn so hart an, daß er den Halt verlor und abermals gestürzt wäre, hätte ihn nicht jemand von hinten gepackt und festgehalten.

»Keine Panik!« drang Xertals Stimme über das Durcheinander. »Bewahrt Ruhe, Kinder! Ihr seid in Sicherheit!«

Das Licht ging wieder an, und ein dritter, noch härterer Stoß fegte auch die letzten, die sich noch irgendwo festgeklammert hatten, von den Beinen. Auch Xertal stürzte, sprang aber sofort wieder auf und hob in einer beschwörenden Geste die Arme.

»Bleibt zusammen!« schrie er. »Alle Gruppen bleiben zusammen. Eure Roboter bringen euch zu den Rettungskapseln!«

Thomas rappelte sich mühsam hoch. Ein dünner, silberner Arm tastete nach ihm, wickelte sich wie eine Schlange um sein Handgelenk und riß ihn nicht gerade sanft auf die Füße. Er sah erschrocken auf und bemerkte, daß Max plötzlich zwei zusätzliche Arme ausgefahren hatte und sie alle vier – Boris, Stephen, Tai Lin und ihn – auf die gleiche Weise an sich fesselte. Auch die anderen Roboter verfuhren ähnlich, und trotz des unglaublichen Durcheinanders dauerte es nur wenige Sekunden, bis jede der fünf Maschinen mit vier zappelnden und schreienden Anhängseln verbunden war.

»Rasch jetzt!« befahl Xertal. Seine Stimme vibrierte hörbar, als unterdrücke er mit aller Macht den Ausdruck von Angst darin. »Ihr erfahrt alles Nötige, wenn ihr in den Kapseln seid!«

Der Roboter fuhr herum. Diesmal öffnete sich keine Tür, sondern die ganze Wand glitt lautlos auseinander, so daß die Maschinen fast gleichzeitig auf den Gang hinausschweben konnten. Thomas stolperte, aber Max zerrte ihn unbarmherzig hinter sich her und schwebte eilig den Korridor hinab. Das Schiff zitterte immer noch, und das Singen der Triebwerke war vollkommen erloschen. Scharfer Brandgeruch lag in der Luft, und als Thomas im Laufen den Kopf wandte, gewahrte er flackernden Feuerschein am hinteren Ende des Ganges.

Vor ihnen öffnete sich eine Tür. Eine der Maschinen glitt, vier zappelnde Kinder an sich gefesselt, hindurch, und die Öffnung schloß sich wieder.

»Was ist denn hier los?!« schrie Boris über den allgemeinen Lärm hinweg. »Max, was ist los? Antworte!«

Aber diesmal blieb die Maschine stumm. Sie raste weiter, zog sie, beinahe schneller, als ihre Füße zu laufen imstande waren, hinter sich her und glitt schließlich durch eine Tür, die sich urplötzlich vor ihnen in der Wand auftat.

Der Raum dahinter war winzig, gerade groß genug für vier schmale Kunststoffsitze und etwas, das wie ein zu breit geratener Kleiderschrank aussah. Von der Decke hing eine Unzahl von Instrumenten und verwirrenden Apparaturen, und jeder Quadratzentimeter der Wand schien mit Schaltern und Tastaturen bedeckt zu sein. In der vorderen Wand gab es eine hohe, schmale Nische. Max stieß sie unsanft in die Sitze, schnippte mit zwei seiner Arme rasch hintereinander etliche Schalter um und glitt über sie hinweg. Sein Körper paßte sich haargenau in die Öffnung in der Vorderwand ein.

Thomas wollte wieder aufstehen, aber aus den Armlehnen seines Sessels schossen plötzlich dünne, biegsame Metallbänder, die seinen Körper auf dem Sitz festhielten.

Das Licht wechselte von flackerndem Rot zu Weiß. Ein sanfter Stoß ging durch den Boden. Dann trat Ruhe ein.

Eine Ruhe, dachte Thomas erschrocken, die etwas seltsam Endgültiges hatte.

»Was … was war das?« fragte Tai Lin leise. Ihre Stimme zitterte, und ihr Gesicht war schreckensbleich.

Max' Kopf drehte sich summend um hundertachtzig Grad, und sein großes gelbes Auge sah sie einen Moment beinahe nachdenklich an. Es war nicht das erste Mal, daß Thomas den Eindruck hatte, als wäre Max mehr als eine Maschine. Aber er wagte es nicht, diesen Gedanken laut auszusprechen.

»Ihr seid in Sicherheit«, sagte er nach einer Weile.

»Zum Teufel, ich will wissen, was passiert ist, nicht, ob wir in Sicherheit sind!« begehrte Stephen auf. »Wenn das wieder einer von euren blödsinnigen Tests ist, dann …«

»Kein Test, Stephen«, unterbrach ihn Max ruhig. »Die HEDONIA ist in einen Energiewirbel geraten.«

»Und was ist das?« fragte Thomas. Er mußte all seine Kraft aufwenden, um einigermaßen ruhig zu sprechen. Sein Herz klopfte bis zum Hals, und seine Hände zitterten, obwohl er sie um die Armlehnen des Sessels gekrampft hatte.

Max zögerte einen Moment mit der Antwort. »Eine Art… Sturm«, erklärte er. »Ja, ihr könnt es mit einem Sturm vergleichen. Ein Sturm aus reiner Energie.«

»Aber wieso habt ihr es nicht früh genug gemerkt?« fragte Boris. »Bei eurer Technik …«

»Sie sind unberechenbar, Boris. Und auch wir können nicht zaubern. Sie treten sehr selten auf, aber sie erscheinen ohne Vorwarnung. Ein Schiff, das in einen Energiewirbel gerät, ist verloren. Aber ihr seid in Sicherheit. Die Rettungskapseln wurden rechtzeitig abgeschossen.«

Thomas begriff nur ganz langsam, was der Roboter da gesagt hatte. »Du … du meinst«, sagte er stockend, »wir sind nicht mehr auf der HEDONIA?«

»Nein«, antwortete Max ruhig. »Die Kapsel befindet sich jetzt schon mehr als zehntausend Meilen vom Zentrum des Wirbels entfernt.«

»Und die Besatzung?« fragte Boris. »Xertal und die anderen?«

Max antwortete nicht, aber sein Auge begann für einen Moment unruhig zu flackern.

»Was ist mit Xertal?« fragte Boris noch einmal.

»Die Rettungskapseln bieten nur Platz für zwanzig Passagiere«, sagte Max. »Alle Erdenmenschen wurden rechtzeitig von Bord geschafft.«

»Das ist keine Antwort«, sagte Thomas. Er hatte plötzlich das Gefühl, als ob sich eine eisige, unsichtbare Hand um sein Gehirn legte und langsam, aber unbarmherzig zudrückte. »Was ist mit der Besatzung?«

Max' leuchtendes Auge richtete sich für eine endlose, quälende Sekunde direkt auf ihn. »Die HEDONIA«, sagte der Roboter, »ist vor vier Komma sieben Sekunden explodiert.«

Die Worte trafen Thomas wie eine Ohrfeige. Er hatte damit gerechnet, hatte es eigentlich gewußt, bevor der Roboter auf seine Frage geantwortet hatte. Trotzdem war es ein Schock. Manchmal half es, die Wirklichkeit einfach zu verleugnen. Er schloß die Augen und kämpfte einen Moment gegen die Tränen an, die in ihm hochstiegen.

»Dann sind sie … alle tot«, sagte er mühsam.

»Ja.«

Thomas starrte den Roboter an. »Sie haben sich geopfert«, sagte er. »Sie hätten von Bord gekonnt, aber die Plätze haben nur für uns gereicht, nicht?«

»Der Schutz eures Lebens hatte oberste Priorität«, antwortete Max. »Sie waren Raumfahrer. Sie haben gewußt, welche Gefahren auf sie warten. Das Risiko eines Raumfluges war ihnen bekannt. Euch nicht.«

»Und wir?« fragte Boris. »Was geschieht mit uns?«

Max' Auge drehte sich dem jungen Russen zu. »Die HEDONIA hat einen Hilferuf abgesetzt, bevor sie vernichtet wurde«, sagte er. »Ein Rettungsschiff wird kommen.«

»Wann?«

»Die Botschaft braucht zwei Wochen, um Eridiani zu erreichen«, erklärte Max. »In weiteren zwei Wochen werden die Suchmannschaften hier sein.«

»Vier Wochen!« ächzte Stephen. »Du willst uns erzählen, daß wir vier Wochen in diesem Sarg eingesperrt sein sollen?«

»Nein«, sagte Max. »Die Rettungskapseln sind nur für einen begrenzten Aufenthalt im freien Raum konstruiert. Nahrung und Sauerstoffvorräte reichen für achtundvierzig Stunden. Wir werden auf einem nahe gelegenen Stützpunktplaneten des Bundes notlanden und dort auf das Eintreffen der Rettungsmannschaft warten.«

Fast eine Minute lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Thomas zweifelte das, was Max gesagt hatte, nicht eine Sekunde an. Und trotzdem sah er plötzlich eine grauenhafte Vision. Er sah sich selbst und die drei anderen, elendiglich erstickt in diesem winzigen Metallkasten, der hilflos durch das All trudelte. Was, wenn der Antrieb der Kapsel nicht funktionierte? Wenn Max den richtigen Kurs nicht fand oder irgend etwas – irgend etwas – schiefging? Wenn sie einer Sonne zu nahe kamen und hier drinnen langsam zu Tode gegrillt wurden, wenn ein Meteor ein Leck in die papierdünne Außenhülle schlug, wenn …

Er vertrieb den Gedanken und riß sich mit aller Macht zusammen. Aber als er in die Gesichter der anderen blickte, wußte er, daß sie Ähnliches dachten. Wurde es nicht schon merklich wärmer in der winzigen Kammer? War die Luft nicht schon schlechter geworden?

»Dieser Stützpunkt«, fragte er, mehr, um sich abzulenken als aus wirklichem Interesse, »wie weit ist er entfernt?«

»Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit brauchen wir etwas mehr als vierzehn eurer Stunden, um den Planeten zu erreichen.«

»Kannst du keinen Funkspruch oder so was absetzen, damit sie uns von dort aus entgegenkommen?« fragte Stephen.

»Nein«, antwortete Max. »Wir werden auf dem Planeten Tombstone landen. Es gibt dort nur eine kleine, vollautomatische Station des Bundes. Sie hat keine Besatzung und verfügt auch nicht über eigene Raumschiffe. Aber ihr und die anderen könnt dort in Sicherheit auf das Schiff von Eridiani warten.«

»Tombstone«, murmelte Stephen. »Das klingt nicht sehreinladend.«

»Tombstone ist eine Extremwelt«, antwortete der Roboter. »Die Atmosphäre ist atembar, aber sie ist nicht für menschliche Besiedlung geeignet. Ihre Oberfläche besteht zum Großteil aus unfruchtbaren Wüsten und kleinen Dschungelgebieten. Die Station wurde dort nur errichtet, um Notfällen wie diesem zu begegnen.«

»Ist der Planet bewohnt?« erkundigte sich Tai Lin.

»Ja. Aber seine Lebensform ist äußerst primitiv. Wir haben keinen Kontakt mit ihnen.«

»Reizend«, murmelte Stephen. »Ein Sandklumpen voller fleischfressender Wilder. Das wird ein Urlaub!«

»Ihr werdet keinerlei Kontakt mit ihnen haben«, sagte Max. »Die Station bietet alles, um euch vier Wochen mit allem Komfort beherbergen zu können.«

»Und die anderen Kapseln?« fragte Boris. »Sie fliegen auch dorthin?«

»Selbstverständlich. Es besteht kein Grund zur Sorge.«

Irgendwie hatte Thomas den Eindruck, daß der Roboter ihnen ein paarmal zu oft zu versichern versuchte, daß sie sich nicht zu sorgen brauchten. Er musterte Max mißtrauisch.

»Wie weit sind die anderen Kapseln von uns entfernt?« fragte er.

»Wenige hundert Meilen«, antwortete Max. »Warum?«

»Ich möchte mit den anderen reden«, sagte Thomas. »Die Kapsel wird doch sicher über ein Funkgerät verfügen.«

Das Auge des Roboters begann hektisch zu flackern.

»Das … geht im Moment nicht«, sagte er.

»Und warum nicht?« hakte Boris nach. »Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht, daß wir uns mit den anderen unterhalten.«

Max zögerte. »Das ist richtig«, sagte er nach sekundenlangem Schweigen. »Aber eine Kontaktaufnahme mit einer der anderen Kapseln ist im Moment trotzdem ausgeschlossen.«

»Warum?« fragte Thomas. »Warum ist es ausgeschlossen, Max? Ich will eine Antwort!«

»Die Kapsel wurde beim Verlassen der HEDONIA von einem Ausläufer des Energiewirbels gestreift«, erklärte Max. »Unsere Außenhülle hat standgehalten, aber die Hitze hat sämtliche externen Instrumente zerstört. Die Antennen sind weggeschmolzen!«

»Weggeschmolzen!« keuchte Boris. »Das heißt, daß wir … daß wir blind sind.« Seine Stimme schwankte, und Thomas hatte den Eindruck, als würde er jeden Moment losschreien. »Das heißt«, fuhr er fort, »daß wir … blind und taub durchs Weltall rasen. Heißt es das, Max?!«

»Ja«, antwortete der Roboter. »Das heißt es.«

Lange Zeit saß Thomas wie gelähmt da. Es war alles viel zu schnell gegangen. Vor nicht einmal einer halben Stunde hatten sie noch im Mannschaftsraum gesessen und Xertals Bericht über den Bund der Welten gelauscht, und jetzt saßen sie in diesem winzigen Metallzylinder und rasten blind und hilflos durch den Weltraum. Es war – trotz der gellenden Alarmsirenen, trotz des Feuers und ihrer verzweifelten Flucht in die Rettungskapsel – so verdammt undramatisch gewesen. Aber die wirklich dramatischen Ereignisse verliefen vielleicht oft so.

Nach einigen Minuten, die ihnen allen wie eine Ewigkeit vorkamen, brach Tai Lin das Schweigen mit einer Sachlichkeit, die Thomas kaum jemandem von ihnen zugetraut hätte.

»Dann kannst du auch nicht steuern, Max«, vermutete sie.

Der Roboter löste sich von seinem Platz und schwebte – so weit es die winzige Kabine zuließ – aus der Nische heraus, so daß sie erkennen konnten, daß ihre Hinterwand aus durchsichtigem Material bestand. »Ich steuere optisch«, sagte der Roboter.

»Sind wir so nahe an dieser Welt, daß du sie erkennen kannst?«

»Nein«, antwortete Max. »Aber mir sind sowohl die Geschwindigkeit als auch die genaue Richtung, in der wir die HEDONIA verließen, bekannt. Ebenso bekannt ist mir die Position Tombstones, seine Rotations- und Umlaufgeschwindigkeit und seine Bewegung in Relation zur Eigendrehung der Galaxis und –«

»Danke, danke«, sagte Tai Lin hastig. »Du glaubst also, daß wir den Planeten finden werden.«

»Die Wahrscheinlichkeit beträgt annähernd siebenundachtzig Prozent«, sagte der Roboter. »Das ist sehr viel, bedenkt man, daß die Wahrscheinlichkeit einen Zusammenstoß mit einem Energiewirbel zu überleben, bei nur sieben Prozent liegt.«

Thomas starrte den Roboter schockiert an. »Siebenundachtzig Prozent!« keuchte er. »Das heißt, wir haben eine Dreizehn-Prozent-Chance vorbeizufliegen?«

»Ja. Aber selbst, wenn wir Tombstone beim ersten Anflug verfehlen sollten, bleibt uns genügend Treibstoff für mindestens drei weitere Anflüge. Es besteht wirklich kein Grund zur Besorgnis. Die Wahrscheinlichkeit für ein endgültiges Verfehlen beträgt nicht einmal ein Prozent.«

»Und wie hoch«, erkundigte sich Thomas, »liegt die Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenstoß mit einem Energiewirbel?«

»Unter einem tausendstel Prozent«, sagte Max, während er wieder in seine Nische zurückglitt. Thomas hätte schwören können, eine Spur von Ungeduld in seiner synthetischen Stimme zu vernehmen. »Aber wenn man einmal Pech hat, bedeutet das nicht, daß man auch beim zweiten Mal –«

»Glück haben muß«, fiel ihm Stephen ins Wort.

Max stieß das elektronische Äquivalent eines Seufzers aus. »Sicher nicht«, sagte er. »Aber wir können im Moment kaum etwas anderes tun als abzuwarten. Und Ruhe zu bewahren. Es hat keinen Sinn, in Panik zu geraten.«

Stephen fuhr sichtlich zusammen und starrte den Roboter böse an. »Was soll das?« fragte er. »Ist das ein neuer Test? Wollt ihr herausfinden, wie wir uns in einer ausweglosen Situation verhalten?«

»Es ist kein Test, Stephen. Und die Situation ist auch nicht ausweglos. Wir werden Tombstone und die Rettungsstation erreichen.«

»Ach, hör doch endlich auf«, schnappte Stephen. »Ich habe die Nase voll von diesem Affentheater.«

»Ich begreife nicht ganz …«, begann Max, wurde aber sofort wieder von Stephen unterbrochen.

»Du begreifst nicht, so?« sagte er höhnisch. »Dann will ich es dir ganz genau erklären. Ich glaube kein Wort. Ich glaube weder, daß wir uns in einem Raumschiff befinden, noch daß es so etwas wie den Bund der Planeten gibt. Sag das den Leuten, die an deiner Fernsteuerung sitzen. Ihr habt eine Menge dummer Fehler gemacht, Max.«

»Fehler?« fragte der Roboter. »Was für Fehler?«

Stephens Lächeln wurde ein wenig überlegener. »Verrat mir nur eines, Max«, sagte er. »Dieser Planet, zu dem wir fliegen – wieso trägt eine Welt, auf der man von der Existenz der Erde nicht einmal eine Ahnung hat, einen englischen Namen?«

»Tombstone, meinst du?« sagte Max ruhig. »Natürlich heißt der Planet nicht so, aber ich habe seinen Eigennamen sinngemäß übersetzt. Er wäre für euch unaussprechbar und auch ohne jede Bedeutung gewesen.«

»Ha!« rief Stephen. »So kommst du mir nicht davon!«

»Hör jetzt endlich auf, Stephen«, fuhr Boris auf. Zum ersten Mal, seit Thomas den Jungen kennengelernt hatte, war sein Lächeln erloschen, und er sah richtig böse aus. »Wir sitzen wirklich tief genug in der Tinte, auch ohne daß du dich hier aufspielst.«

Stephen fuhr wütend herum, aber zu Thomas' Überraschung antwortete er nicht. Nur in seinen Augen blitzte es zornig auf.

»Laß ihn«, murmelte Thomas. »Vielleicht hat er ja recht.«

»Unsinn«, behauptete Boris. »Wenn er recht hat, dann erklär mir den Lift und die Dusche. Ganz zu schweigen von Max.«

»Und wenn«, seufzte Thomas. »Mein Gott, Boris, du hast es selbst gesagt – wir sitzen tief genug in der Tinte, auch ohne uns gegenseitig anzufahren. Es spielt doch überhaupt keine Rolle, wer von euch beiden nun recht hat. Wir sind nun einmal hier, und so, wie es aussieht, haben wir sowieso keine andere Wahl als abzuwarten.«

»So?« machte Stephen. »Ich wette mit dir, wenn wir die Tür aufbrechen, finden wir ein Labor und eine Menge nervöser Männer in weißen Kitteln.«

»Versuch es doch«, sagte Boris. »Aber hol vorher noch einmal sehr tief Luft. Nur für den Fall, daß du dich doch täuschen solltest.«

Stephen ballte die Fäuste und wollte auffahren, aber die dünnen Metallgurte hielten ihn unverrückbar auf seinem Platz fest. »Ich will hier raus«, sagte er. Seine Stimme schwankte hörbar. »Max, hast du gehört? Ich will raus hier!«

Max wandte ihm sein leuchtendes Auge zu. Einer der dünnen silbernen Arme des Roboters glitt auf Stephen zu und berührte ihn flüchtig am Hals. Stephen stöhnte, sank wie vom Blitz getroffen zurück und erschlaffte.

»Was hast du mit ihm gemacht?« fragte Thomas erschrocken.

»Ein harmloses Beruhigungsmittel«, antwortete die Maschine. »Er wird bis kurz vor der Landung schlafen. Es war nötig. Stephen hatte einen akuten Anfall von Klaustrophobie. Er erträgt es nicht, eingesperrt zu sein. Wenn ihr wollt«, fügte der Roboter nach einer winzigen Pause hinzu, »versetze ich euch ebenfalls in Tiefschlaf. Die Wartezeit wird euch lang werden.«

Thomas wehrte hastig ab. »Nein, danke«, sagte er. »Ich … drehe schon nicht durch.«

Max wandte sich wieder seinen Kontrollen zu. Thomas ließ sich zurücksinken und schloß die Augen. Sein Herz jagte, aber er suchte vergeblich nach so etwas wie Angst oder gar Panik in sich. Dabei hätte er Angst haben müssen. Aber vielleicht war alles einfach zuviel. Vielleicht stand er unter einer Art Schock, ohne es selbst zu merken. Die Furcht würde später kommen.

Das monotone Summen der Triebwerke begann ihn einzulullen. Er spürte plötzlich Müdigkeit in sich aufsteigen und rutschte in eine etwas bequemere Lage. Seine letzten Worte taten ihm plötzlich leid, und er war froh, daß Stephen sie nicht gehört hatte. Der Amerikaner hatte nicht ›durchgedreht‹, wie er es ausgedrückt hatte. Wenn er wirklich unter Klaustrophobie litt, wie Max behauptete, dann hatte er sich sogar ausgezeichnet in der Gewalt gehabt. Jeder Mensch hatte irgend etwas, vor dem er sich fürchtete. Beim einen waren es Spinnen, beim anderen Ratten oder Mäuse, bei wieder anderen vielleicht die Dunkelheit oder – wie bei Stephen – Angst vor engen Räumen. Thomas wußte, daß man gegen diese Art von Ängsten absolut hilflos war; er hatte schon Männer mit der Statur eines Preisboxers beim Anblick einer harmlosen Spinne erbleichen sehen. Nein; seine Äußerung war einfach unfair gewesen, und er entschuldigte sich in Gedanken bei Stephen.

Er döste eine Weile vor sich hin und schrak plötzlich hoch, als ein sanftes Beben durch das Schiff ging.

»Was ist?« fragte er erschrocken.

»Nichts«, antwortete Max. »Eine Kurskorrektur. Wir schwenken in die Umlaufbahn ein.«

Thomas brauchte eine Weile, um die Worte des Roboters zu verstehen. »Umlaufbahn?« echote er. »Aber wieso …« Er schwieg ein paar Sekunden und sah die Maschine mißtrauisch an. »Max, hast du etwa …«

»Ich habe den Eigenzeit-Koeffizienten an Bord ein wenig beschleunigt«, gestand die Maschine.

»Aha«, machte Thomas. »Und was bedeutet das, bitte schön?«

»Die Zeit ist wie alles relativ«, führte Max aus. »Während die Kapsel zwölf Stunden durch das All flog, sind hier an Bord nur wenige Minuten vergangen. Ein kleiner technischer Trick, um euch die Wartezeit zu verkürzen. Und Sauerstoff zu sparen.«

Thomas wußte nicht so recht, ob er nun wütend sein sollte oder nicht. Aber im Grunde war er ganz froh, nicht noch zwölf endlose Stunden dasitzen und warten zu müssen, und so schwieg er.

Nach einer Weile begann sich das Geräusch der Triebwerke zu verändern. Es wurde höher, schriller, und gleichzeitig hatte Thomas das Gefühl, als ob jemand mit Sandpapier draußen über die Hülle schliffe.

»Ich beginne jetzt mit der Landung«, verkündete Max.

Thomas fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Es wurde wärmer, und diesmal war er sicher, es sich nicht nur einzubilden. Das Geräusch des Triebwerkes überschritt die Grenzen des Hörbaren, aber das Sandpapier draußen schien gröber zu werden, und die gesamte Kabine begann allmählich zu vibrieren. An den Wänden begannen Dutzende von verschiedenfarbigen Lampen zu flackern.

Die Kapsel begann zu bocken. Zwei, drei, vier kurze, harte Stöße gingen durch den Rumpf des Miniatur-Raumschiffes und schleuderten sie in die Gurte, und irgendwo knisterte etwas, als würde Metall von einer ungeheuren Gewalt zermalmt.

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Boris. »Max, was ist los?«

Der Roboter antwortete nicht. Sein Auge war erloschen, aber seine vier Arme flogen mit hektischen Bewegungen über Schalter und Tasten.

»Max!« schrie Thomas. »Was ist los?«

Das Schiff stellte sich mit einem Ruck auf den Kopf, kippte wieder in normale Fluglage zurück und begann zu trudeln. Tai Lin schrie auf, als sie zuerst in die Gurte und dann mit brutaler Wucht zurück und gegen die Kopfstütze ihres Sitzes geschleudert wurde. Ein dumpfer Schlag erschütterte die Kapsel, dann schoß eine grellweiße Stichflamme quer durch die Kabine, sengte dicht neben Thomas' rechtem Arm eine schwarze Spur in den Lederbezug seines Sessels und explodierte an der Rückwand.

»Festhalten!« schrie Max.

Seine Warnung erfolgte wenig mehr als eine halbe Sekunde vor dem Aufschlag.

Thomas hatte plötzlich das Gefühl, sich auf einem gewaltigen Amboß zu befinden, auf den ein noch gewaltigerer Hammer schlug. Das Schiff brach splitternd und berstend durch ein Hindernis, bäumte sich auf und überschlug sich. Ein greller Blitz löschte die Beleuchtung aus. Er wurde wie von einer unsichtbaren Riesenfaust gepackt und tief in die Polster gepreßt. Irgendwo explodierte etwas. Greller Feuerschein erleuchtete für Sekunden die Kabine und gewährte Thomas einen Blick auf ein Chaos aus zersplitternden Instrumenten, brechendem Glas und zerberstendem Metall. In einer der Seitenwände entstand ein langer, gezackter Riß. Schwarzer Qualm drang in das Raumschiff.

Dann, genauso abrupt wie es begonnen hatte, war es zu Ende. Das Schiff kam mit einem letzten, machtvollen Knirschen zum Stehen, und alles, was noch zu hören war, war das Knistern unzähliger kleiner Brände und ein auf- und abschwellendes Klingeln in seinen Ohren, das nur allmählich verklang.

»Alles in Ordnung?« fragte Max.

Thomas nickte mühsam. »Ja.«

»Bei mir auch«, sagte Boris.

»Stephen? Tai Lin?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
eBook-Lizenz
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531395
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)
Schlagworte
eBooks Sci-Fi Dystopie Sandplanet Hohlbein Jugendliche Weltall Entfuehrung Abenteuer Aliens
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Titel: Nach dem großen Feuer
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