Lade Inhalt...

Kim und das Rätsel der fünften Tulpe - Band 3

©2016 181 Seiten

Zusammenfassung

„Kim hatte eine Türklinke in der Hand, drückte sie herunter und taumelte hinaus. Sofort drang ihm beißender Rauch in die Kehle und er begann zu husten. Er blinzelte verstört.“

Die magische chinesische Reiseuhr verschlägt Kim, Lisa und Dennis nach Amsterdam, in das Jahr 1637. Mitten hinein in die Zeit des Tulpenwahns, in der eine Zwiebel dieser Blume mehr wert war als ein Klumpen Gold und die Zukunft vieler Familien an einer einzigen seltenen Tulpenzwiebel hing ... Als die drei Freunde den Tulpenhändler Abraham van de Bos und seine kinderreiche Familie kennenlernen, steht diese kurz vor dem Ruin. Kim, Lisa und Dennis wird schnell klar, dass das Schicksal der Familie van de Bos in ihren Händen liegt. Und sie haben nur dann eine Chance, sie zu retten, wenn alle zusammenhalten ...

Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser aus der Zeit des Tulpenwahns!

Jetzt als eBook: „Kim und das Rätsel der fünften Tulpe“ von Eva Maaser. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Die magische chinesische Reiseuhr verschlägt Kim, Lisa und Dennis nach Amsterdam, in das Jahr 1637. Mitten hinein in die Zeit des Tulpenwahns, in der eine Zwiebel dieser Blume mehr wert war als ein Klumpen Gold und die Zukunft vieler Familien an einer einzigen seltenen Tulpenzwiebel hing ... Als die drei Freunde den Tulpenhändler Abraham van de Bos und seine kinderreiche Familie kennenlernen, steht diese kurz vor dem Ruin. Kim, Lisa und Dennis wird schnell klar, dass das Schicksal der Familie van de Bos in ihren Händen liegt. Und sie haben nur dann eine Chance, sie zu retten, wenn alle zusammenhalten ...

Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser aus der Zeit des Tulpenwahns!

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei jumpbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher:

Kim und die Verschwörung am Königshof
Kim und die Seefahrt ins Ungewisse

Leon und der falsche Abt
Leon und die Geisel
Leon und die Teufelsschmiede
Leon und der Schatz der Ranen.

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2008 Coppenrath, Münster

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Sotheby's/akg-images; akg-images/De Agostini Pict.Lib.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-067-1

***

Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Kim und das Rätsel der fünften Tulpe an: lesetipp@jumpbooks.de

Gerne informieren wir dich über unsere aktuellen Neuerscheinungen – melde dich einfach für unseren Newsletter an: http://www.jumpbooks.de/newsletter.html

Besuch uns im Internet:

www.jumpbooks.de

www.facebook.com/jumpbooks

https://twitter.com/jumpbooksverlag

http://youtube.de/jumpbooks

Eva Maaser

Kim und das Rätsel der fünften Tulpe

Band 3

jumpbooks

1. Dreckarbeit ((12.32Uhr))

In der letzten Nacht hatte der Regen endlich aufgehört. Aber die Erde in Tante Bettys Garten war immer noch vollgesogen. Der Lehm klebte so an Kims Stiefeln, dass es sich anfühlte, als wären seine Füße in Beton eingegossen. Bei jedem Schritt schleppte er einen Zentner Gewicht mit sich. Ein kalter Wind wehte, der den nahen Winter ankündigte. Ein Winter mit Schnee und Eis, wie ihn Kim noch nie erlebt hatte. Und nicht erleben wollte. Denn innerlich lebte er immer noch in Shanghai, er war noch gar nicht richtig in diesem fremden Land angekommen. Deutschland. Und ausgerechnet Drensteinfurt. Das Kaff war so winzig, dass man an einem Ende einen Stein werfen konnte, der am anderen wieder herausfiel. Das war Drensteinfurt! Hätte es nicht wenigstens die Kreisstadt Münster sein können, wo er ja schließlich zur Schule ging?

Aber sein Vater Lutz Reimer hatte darauf bestanden, dass sie ins Haus des verstorbenen Großvaters zogen, Kims deutschem Großvater. Dessen Schwester, Kims Großtante Betty, lebte schon seit vielen Jahren allein in diesem Haus.

Beim Gedanken an seinen Vater zog sich Kims Herz schmerzhaft zusammen. Würde er wirklich Weihnachten kommen? Oder würde er ihn mit einer alten Frau allein lassen, die ständig an ihm herumnörgelte? Die ihn genauso abstoßend fremd fand wie er sie.

Vor drei Monaten hatte Kims Vater ihn nach Drensteinfurt gebracht und war sofort wieder nach Shanghai zurückgeflogen, um dort noch etwas an seinem alten Institut zu regeln. Lutz Reimer war Biotechnologe. Diese letzten Arbeiten zogen sich anscheinend endlos lange hin, und Kim versauerte inzwischen an einem Ort, der ihn schaudern ließ.

Die Luft war noch so feucht, dass er bestimmt bis zum Abend Schimmel ansetzte. Kims Freundin und Klassenkameradin Lisa Wagner schien das schlechte Wetter nichts auszumachen. Eifrig wühlte sie neben ihm in der Erde, die er zuvor mit einer Grabegabel aufgelockert hatte, und holte unansehnliche Zwiebeln heraus. Geradezu andächtig wischte sie die größeren sauber. Sie hatte etwas von Papageien gemurmelt, aber Kim hatte nicht genau hingehört.

Papageien? Die Zwiebeln hatten nun wirklich keinerlei Ähnlichkeit mit Papageien. Was sollte das also? Ein blöder Witz?

Ihre Haare hatte Lisa nachlässig mit einem Tuch am Hinterkopf zusammengebunden. Einige Locken hatten sich befreit und fielen ihr ins Gesicht. Das machte sie noch hübscher. Manchmal konnte Kim Lisa kaum ansehen, so sehr gefiel sie ihm mit ihrem Feuerhaar, den Sommersprossen und den jadegrünen Augen. Das würde er natürlich aus Furcht, sich lächerlich zu machen, niemals offen zugeben. Lisa war immer noch ein paar Zentimeter größer als er, obwohl er in den letzten drei Monaten ein Stück gewachsen war. Irgendwann würde er sie einholen, hatte er sich geschworen. Sie waren ja beide genau gleich alt, dreizehn Jahre und ein paar Monate.

Lisa würde er vermissen, wenn er wieder in Shanghai war. Sie war fast die Erste, die ihn hier willkommen geheißen hatte, und es war ein glücklicher Zufall, dass sie direkt im Nachbarhaus wohnte.

Ihr elfjähriger Bruder Dennis half ebenfalls bei der Gartenarbeit. Das hieß, er hielt seiner Schwester mit wichtigtuerischer Miene den Korb hin, in den sie die gereinigten Knollen legte. Dabei vermied er es, in den Matsch zu treten, und blieb an der Rasenkante stehen. So erreichte er gleich zweierlei: Er blieb sauber und brauchte sich in keiner Weise anzustrengen. Das war typisch für ihn. Der rundliche Dennis hatte es nicht so mit körperlichen Anstrengungen.

Hinter ihnen auf der Terrasse lag bereits der Weihnachtsbaum, den Tante Betty hatte besorgen lassen. Noch vierzehn Tage bis Weihnachten. Es würde das erste Weihnachten ohne Kims Mutter sein, die vor einem dreiviertel Jahr gestorben war. Ihr Tod war der Anlass für den Umzug nach Deutschland gewesen. Von seiner Mutter hatte Kim die mandelförmigen Augen und das lackschwarze Haar geerbt, denn sie war Chinesin gewesen. Er war also Halbchinese, hatte sich aber in Shanghai immer nur als Chinese gefühlt. Er dachte wie ein Chinese und er fühlte wie einer. Oder etwa nicht? Manchmal kam es ihm so vor, als würde langsam etwas daran ins Wanken geraten. Und das wollte er nicht. Er wollte nicht verwestlichen und die barbarische hiesige Lebensart annehmen. Ein Grund mehr, nach China zurückzukehren.

Wie eine heiße Welle überfiel ihn die Sehnsucht nach Shanghai, nach seinen Freunden und – nach Großvater Kao. Sein chinesischer Großvater war uralt, hatte lange als Mönch in Tibet gelebt, war jahrelang herumgereist und steckte voller Geheimnisse, die er nur widerwillig preisgab. Er wohnte in einem kleinen Holzhaus am Meer, an das Kim gerade heute intensiv denken musste. Ein Haus voller Licht und Wärme, die er jetzt so notwendig wie noch nie brauchte. Unverhofft überkam ihn Wut. Eine geradezu mörderische Wut. Viel zu heftig stieß er die vierzinkige Gabel in die Lehmerde und riss sie wieder heraus.

Lisa schrie gellend auf.

Wie ein Echo ertönte hinter ihr ein zweiter Schrei. Kim schaute an ihr vorbei und sah Tante Betty auf der Terrasse stehen. Wahrscheinlich hatte sie gerade verkünden wollen, dass das Mittagessen fertig sei. Flüchtig fragte er sich, was es diesmal geben würde: Mehlklöße, die wie Steine im Magen lagen? Mit zerkochtem Fleisch und pappiger brauner Soße?

Wegen einer wichtigen Lehrerkonferenz war für alle Schüler nach der dritten Stunde der Unterricht ausgefallen, und so war auch Dennis, der das gleiche Gymnasium besuchte wie Lisa und Kim, mit ihnen nach Hause gekommen. Tante Betty hatte die Geschwister unter der Bedingung zum Essen eingeladen, dass sie vorher Kim bei der Gartenarbeit halfen, die sie ihm allein wohl nicht zutraute. Gartenarbeit! Für richtige Dreckarbeiten hatte man in Shanghai Angestellte, niemand, der auf sich hielt, machte so etwas selbst. Es war einfach entwürdigend, im Dreck zu wühlen.

Lisa starrte mit aufgerissenen Augen auf Kims Gabel.

Auf dem zweiten Zinken von rechts saß eine Zwiebel.

Na und?

Eine ziemlich dicke braune Zwiebel, durch die der Zinken glatt hindurchgegangen war.

Matsch tropfte von der Gabel.

Blass und zitternd – war Lisa vor Schreck wirklich blass geworden? – streckte sie die Hand nach der Zwiebel aus.

Sie tat geradeso, als wäre dieses hässliche braune Ding aus purem Gold. Das ist bloß eine schrumpelige Zwiebel, wollte er am liebsten schreien.

Warum machten Lisa und Tante Betty so ein Theater darum?

Tante Betty hatte eine lange Schimpftirade begonnen, in die sich Willie einmischte, indem er laut aufheulte. Auch das noch! Als ob Lisas kleiner Wuschelhund, der sich an der Rasenkante niedergelassen hatte, zu der aufgespießten Knolle auch etwas Vorwurfsvolles zu äußern hätte.

Dennis grinste schadenfroh.

Kim jedenfalls hatte genug von allen.

Er schmiss die Gabel samt Zwiebel ins Beet und stapfte davon. Er wusste genau, was er nun zu tun hatte. In der vergangenen Nacht war Vollmond gewesen. Kurz vor der Morgendämmerung hatte er ihn durch einen Spalt in den Vorhängen in sein Zimmer lugen sehen. Ein lockender, silbriger Vollmond, der ihm etwas zu sagen schien. Jetzt hatte er die Botschaft verstanden. Nach chinesischer Auffassung war die Zeit des abnehmenden Mondes die beste Reisezeit. Vollmond war schon fast wie abnehmender Mond. Ja, heute war genau der richtige Tag, um zu verreisen.

Er war an der Terrasse vorbeigelaufen, ohne die schimpfende Tante Betty zu beachten, und schlüpfte an der Seite durch die Küchentür ins Haus. Auf die Dreckspur, die seine Stiefel hinterließen, konnte er jetzt wirklich keinen Gedanken verschwenden. Wenn Tante Betty sie entdeckte, war er hoffentlich schon weit weg.

Heute musste es klappen! Heute war der Tag, an dem sein größter Traum in Erfüllung gehen würde.

Heimkehren!

Ganz genau sah er die wunderbare Skyline von Shanghai vor sich, mit all den prachtvollen Glaspalästen und Hochhäusern. Shanghai, seine Heimat.

Er rannte die Treppe in den zweiten Stock hinauf und bemerkte, wie sich Lehmklumpen von seinen Sohlen lösten. Seine Stiefel wurden immer leichter. Auch gut. Er lächelte zufrieden. Den heimlich nachgemachten Schlüssel zur Bodentreppe trug er an einem Band um den Hals, dass er nun aus dem Ausschnitt seines dicken Wollpullovers fingerte.

Bei Großvater Kao gab es sicher Nudeln zu Mittag, mit süß-saurer Sauce, viel knackigem Gemüse und vielleicht einer Handvoll gerösteter Nüsse. Fast meinte Kim den unbeschreiblichen Duft dieses Essens riechen zu können und daher lief ihm bereits das Wasser im Mund zusammen. Aber erst musste er die Uhr in Gang setzen.

Großvater Kaos Reiseuhr.

Würde es diesmal klappen? Würde ihn die Uhr zurück nach Shanghai bringen?

Er polterte die Bodentreppe hoch und stieß die Tür auf.

Dämmerlicht umfing ihn. Staubgeruch stieg ihm in die Nase.

Großtante Bettys riesiger Dachboden stand voller Gerümpel: Da waren Truhen mit alten Sachen und Akten, die noch von ihrem Bruder stammten und in denen Kim nicht herumwühlen sollte. Als wenn ihn alte Akten interessierten! Aber wegen dieser Akten hatte Tante Betty den Speicher zur Sperrzone erklärt und hielt ihn verschlossen. Nur hatte Kim gleich nach seiner Ankunft in diesem Haus in einem klotzigen alten Schrank hier oben seinen größten Schatz versteckt, an den sich all seine Hoffnung klammerte. Und noch immer schien ihm der Schrank das beste Versteck zu sein. Kim hatte sich wiederholt vorgestellt, wie Tante Betty in seinem Zimmer herumschnüffelte und zufällig auf die Uhr stieß, während er in der Schule war. Wahrscheinlich würde Tante Betty angesichts eines schäbigen, achteckigen Holzkastens sofort an Holzwürmer und anderes Ungeziefer denken und den Kasten in den Müll werfen,- gerade noch rechtzeitig, bevor die Tonne geleert wurde.

Großvaters Kaos Abschiedsgeschenk im Müll! Unwiderbringlich verloren. Eine Katastrophe! Tante Betty hatte keine Ahnung, welches Geheimnis diese Uhr barg. Ein Geheimnis, das er selbst noch nicht recht ergründet hatte. Auf dem Flughafen von Shanghai, als Großvater Kao ihm die Uhr überreicht hatte, hatte so ein Krach geherrscht, dass er von den Erklärungen zu der Uhr nicht einmal die Hälfte verstanden hatte. Mit dem bisschen, was er wusste, hatte er schon zweimal ziemlich daneben gelegen und sich in die größten Schwierigkeiten manövriert.

Was würde diesmal geschehen?

Eine unsägliche Beklemmung befiel ihn, Vorbote kommenden Unheils, aber aufgeben mochte er nicht. Irgendwie musste es ihm doch gelingen, der Uhr seinen Willen aufzuzwingen.

Unten im Wohnzimmer begann Tante Bettys Standuhr zu rasseln, gleich würde sie zu schlagen beginnen. Wie spät war es jetzt? Es war wichtig, sich die Uhrzeit zu merken. Kim bekam den ersten Schlag noch mit, wurde aber dann abgelenkt. Ein Poltern drang die Treppe herauf. Jemand kam ihm nach.

Hastig öffnete er die Schranktür. Er war fest entschlossen, allein zu verschwinden, ohne Lisa, Dennis und Willie, die ihn die beiden anderen Male mehr oder weniger freiwillig begleitet hatten. Inzwischen war Dennis geradezu wild darauf, mit der Uhr zu verreisen, egal wohin. Doch Kim wollte nur nach Hause.

Der Kasten mit der Uhr steckte unter ein paar Lumpen im Schrank. Er riss die Lappen beiseite, kroch in den Schrank und nahm die Uhr an sich. Ohne zu zögern, klappte er den Deckel des Kastens hoch.

Grünes Blitzen empfing ihn. Das war unheimlich.

Ein winzig kleiner Zeiger zitterte verräterisch.

Kim hatte wirklich nur den Deckel hochgeklappt und schon regte sich die Uhr. Wieso?

Benommen starrte er auf den normalerweise farblosen Kristall in der Mitte, der jetzt das grüne Funkeln aussandte.  Noch vor einer Woche hatten die vielen Zeiger und die ineinander geschachtelten Zahnräder festgerostet gewirkt. Wie oft hatte er mit Dennis versucht die Uhr in Gang zu setzen und nichts war geschehen – absolut gar nichts. Und jetzt das hier. Das Funkeln, das Schimmern.

Unzweifelhaft war die Uhr zum Leben erwacht.

Kim visierte noch einmal den Zeiger, schloss die Augen und flehte: lauf bitte nicht rückwärts!

»Dacht ich mir’s doch!«, rief Lisa und drängte sich neben ihn. »Du willst heimlich abhauen.«

Kim stöhnte auf und öffnete die Augen, den Blick wieder starr auf die Uhr gerichtet, auf das Gewirr der verschiedenen Ziffernringe, die jedoch keine Ziffern aufwiesen. Sondern chinesische Schriftzeichen. Die meisten von solcher Seltenheit, dass er nur ein oder zwei davon erkannte. Vielleicht auch drei. Da war das für Mond, dort das für Wasser und hier war ein eigentlich recht ungebräuchliches für Erde.

»Aber nicht ohne uns!« Jetzt schob sich auch noch Dennis in den Schrank. Es wurde eng, vor allem, als zum Schluss Willie hereinsprang. Gleich darauf jaulte er furchtsam auf.

Willie hatte allen Grund, sich zu fürchten. Und nicht nur er.

Man konnte mit der Uhr, wenn man sie nur richtig einzustellen verstand, an jeden beliebigen Ort der Welt gelangen. Ja, wenn ...

Es war nämlich keine gewöhnliche Reiseuhr, die man auf Reisen mitnahm, sondern eine magische Uhr. Wenn man Pech hatte, wurde man durch sie an einen Ort geschickt, wohin man überhaupt nicht wollte. Schon zweimal hatte er das Experiment gewagt und beide Male waren Lisa, Dennis und Willie dabei gewesen.

Nur waren sie nie nach Shanghai gelangt, wie er es vorgehabt hatte. Beim ersten Mal waren sie mitten in Paris gelandet, im Louvre, und auch noch in der falschen Zeit. Nämlich in der Vergangenheit. Im siebzehnten Jahrhundert. Beim zweiten Mal hatten sie sich auf einem Segelschiff im Jahr 1761 wiedergefunden. Wer wollte das schon?

Die Richtung, die der Zeiger einschlug, war jetzt unverkennbar: rückwärts! Kim wurde flau zumute. Vor allem, als noch ein zweiter sich zu drehen begann. Der Kristall in der Mitte der Uhr pulsierte immer hektischer, das Licht ließ ihre Gesichter käsig aussehen. Der Schrank begann zu rumpeln und zu klappern, als die Zeiger volle Fahrt aufnahmen. Sie rasten! Kim hatte sich fest vorgenommen, diesmal nicht zu schreien, aber er konnte es nicht länger unterdrücken. Ein ungeheurer Wirbel hatte ihn erfasst und riss ihn herum und herum und Dennis, Lisa und Willie mit ihm. Der Hund heulte vor Angst in den höchsten Tönen und war doch in dem dröhnenden Lärm, der jetzt herrschte, kaum zu hören. Ihre Gesichter verzogen sich, sie zerflossen regelrecht, während der Schrank vor ihren Augen verschwand. Alles löste sich auf! Kim sah nichts mehr, er hörte nichts mehr und einen langen Augenblick strampelte er irgendwo in einer Schattenwelt, die keine Grenzen kannte. Im Nirgendwo. Es verschlug ihm den Atem.

Er hörte auf zu denken und zu fühlen.

Und dann war mit einem Donnerschlag die Welt wieder da. Sie stand still.

Nur der Schrank brach auseinander.

Oder doch nicht?

2. Im Reich der Dämonen!? ((13.00Uhr))

Kim hatte eine Türklinke in der Hand, drückte sie herunter und taumelte hinaus. Sofort drang ihm beißender Rauch in die Kehle und er begann zu husten. Brannte der Dachboden? Er blinzelte verstört.

Hinter sich spürte er die anderen, die wie er in den Rauch spähten. Wie Teer hingen dicke Schwaden unter einer niedrigen, schwarz geräucherten Balkendecke, die ganz sicher nicht zu Tante Bettys Dachboden gehörte. Wo waren sie bloß diesmal gelandet? Ein Stück von ihm entfernt gloste Feuer in einem riesigen Kamin.

Blaues Feuer!

Mit tränenden Augen versuchte sich Kim zu vergewissern.

Tatsächlich, blaues Feuer, da war kein Irrtum möglich, obwohl ihm von der Reise mit der Uhr noch heftig schwindelte.

Vor diesem unglaublichen Feuer saßen ein paar finstere Gestalten, die ihnen misstrauisch – nein, drohend entgegen blickten. Blaues Licht waberte um die Gestalten. Sie selbst stießen bläulichen Qualm aus, der in Spiralen bis zur Decke zog.

Kim stöhnte auf. Seine Hände krampften sich um den Uhrenkasten, den er wie ein Schutzschild vor seine Brust hielt.

Das blaue Feuer konnte nur eins bedeuten: Die Uhr hatte sie aus der bekannten Welt heraus und in ein Geisterreich geschleudert. Das da vor ihnen waren Schreckgespenster und Dämonenwesen. Vor lauter Furcht zog sich ihm der Magen zusammen.

Einer der Männer erhob sich, riesig groß wuchs hinter ihm sein Schatten an der Wand empor.

Instinktiv wich Kim zurück, stieß aber gegen Lisa oder Dennis.

Hastig machte er wieder einen Schritt nach vorn, dann noch einen. Die Angst saß ihm in den Beinen, machte sie wachsweich und so ungelenk, wie die eines frisch geschlüpften Kükens. Er ging nicht, er stakste.

Dämonen können überall sein, ziehen es allerdings vor, möglichst nicht in der sichtbaren Welt aufzutauchen. Am liebsten wirken sie im Verborgenen. Wenn sie sich aber doch zeigen ... Auf einmal nahm Kim undeutlich eine Bewegung von der Seite wahr. Jemand schlich sich an ihn heran. Ein dunkler, massiger Schatten. Wo kam der auf einmal her?

Dämonen wechseln blitzschnell den Ort, tauchen auf und verschwinden, wie es ihnen passt. Und dieser sandte eine Welle drohender Gefahr aus, die Kim vor Schwäche schwanken ließ. Die ihn vor Grauen lähmte. Nichts ist so schlimm wie ein Feind, den du nicht fassen kannst, der dich anrührt, ohne dir die Gelegenheit zu geben, ihn überhaupt richtig wahrzunehmen. Es gab sie also wirklich, die Dämonen, das hier war der Beweis.

»Nein!« Lisa schrie, er erkannte ihre Stimme, sie lenkte ihn ab, ließ ihn eine Viertelsekunde lang zögern, statt sofort auszuweichen.

Oder sich zu ducken!

Zu spät.

Im nächsten Moment spürte er einen harten Schlag im Nacken und fiel vornüber. Die Uhr, die Uhr FESTHALTEN, hämmerte es in seinem Kopf. Aber sie ließ sich nicht festhalten,  er spürte, wie sie ihm aus den Händen rutschte. Noch im Fallen wehrte er sich mit aller Macht dagegen, das Bewusstsein zu verlieren. Es musste ihm doch  gelingen, wach zu bleiben – schon wegen der Schmerzen. Er musste Lisa und Dennis warnen, sie hatten ja gar keine Ahnung von Dämonen. Sie würden sie alle vernichten, ihren Verstand aussaugen, sie zu Schattenwesen machen, die für immer in Zwischenwelten gefangen waren, böse, hinterhältig und gemein.

Er fiel und fiel und ...

Sein Kopf schmerzte, als ob ihm jemand mit der Brechstange immer wieder eins überzog. Geradezu unerträglich. Und er hatte Durst, einen mörderischen Durst, seine Kehle war wie ausgedörrt.

Plötzlich durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Wo waren Dennis und Lisa geblieben?

Neben ihm seufzte jemand.

»Ich glaube, er hat sich bewegt.« Eine unbekannte hohe Stimme, eindeutig die eines Kindes.

»Ach, was!« Der Klang dieser anderen Stimme – laut und poltrig – ließ ihn unmerklich zusammenzucken.

Was war passiert?

Ein Schlag in den Nacken! Deshalb schmerzte der Kopf so. Er war niedergeschlagen worden, jetzt erinnerte er sich. Und dann? Anscheinend war er nach dem Schlag eine Weile ohnmächtig gewesen. Als nächstes fiel ihm der Rauch ein. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er roch ihn nicht mehr. War nicht etwas Besonderes mit dem Rauch gewesen? Er versuchte sich zu konzentrieren.

Bestimmt hatte man ihn während seiner Ohnmacht woandershin geschafft. Bloß wohin? Das musste er herausfinden, ohne gleich zu verraten, dass er nun hellwach war. Plötzlich durchzuckte ihn wieder ein Schreck. Da waren doch Dämonen gewesen, blauhäutige Dämonen!

Kicherten Dämonen? Angespannt lauschte er. Das Kichern klang verführerisch harmlos. Wahrscheinlich eine Falle. Dämonen liebten es, sich über Menschen lustig zu machen und sie zu necken, bevor sie sie fertig machten. Um ihn herum kicherten und flüsterten sie, hörten sich aber wie Kinder an. Kim beschloss sich davon nicht in die Irre führen zu lassen.

Er lag ausgestreckt auf einer erstaunlich bequemen Unterlage. Seine Finger ertasteten verstohlen eine weiche Wolldecke, die über ihm ausgebreitet war, und ein etwas steifes Gewebe, vermutlich ein Leinenlaken. Anscheinend lag er in einem Bett. Die Frage war, wer ihn wohl so komfortabel untergebracht hatte. Und wozu. Sein Kopf ruhte auf einem Kissen, er spürte es, als er ihn wie im Schlaf leicht zur Seite drehte. Und natürlich hämmerte niemand auf ihn ein. Aber an seinem Hinterkopf, dort, wo ihn der Schlag getroffen hatte, klebte etwas. Ein Verband vermutlich. Er verbreitete etwas angenehme Kühle und half gegen den Schmerz, der allmählich nachzulassen begann.

»Ich hab’s genau gesehen, er hat sich bewegt!«, fing die aufgeregte Kinderstimme wieder an.

»Ich auch!«, rief eine zweite.

»Aber ich zuerst.«

Um Kim herum entwickelte sich ein alberner Streit, in den sich immer mehr Stimmen mischten. Jemand lachte glucksend. Alles in allem nahm das Treiben um ihn herum Züge einer Party an. Die amüsierten sich ja köstlich!

Kim blinzelte vorsichtig.

Dann riss er verblüfft die Augen auf.

Schlagartig herrschte Stille.

Über ihm befand sich ein Betthimmel aus dunkelrotem Samt. Kein Zweifel: er ruhte auf einem breiten Himmelbett, dessen vier gedrechselte Pfosten diesen Baldachin trugen. Die roten Bettvorhänge waren zur Seite gerafft. Durch milchige kleine Scheiben, die sich zu hohen Fenstern zusammensetzten, fiel in breiten Bahnen gedämpftes Sonnenlicht herein. Staub tanzte und flimmerte im Licht. Und um das Bett herum standen lauter Kinder, die alle absolut gleich aussahen, abgesehen von der unterschiedlichen Größe. Sie hatten runde, rosige Gesichter, die ihn ein bisschen an Ferkel erinnerten.

Lieber Ferkel als Dämonen.

Lauter blaue Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Ganz langsam und vorsichtig entspannte sich Kim, traute all den freundlichen Gesichtern aber nicht wirklich. Viel zu deutlich erinnerte er sich noch an seine Angst. Und an die Dämonen, obwohl sie ihm jetzt schon ein wenig wie Hirngespinste vorkamen.

Als er sich mühsam und schwach vor Staunen aufrichtete, lachten die Kinder und begannen zu klatschen.

Süß sahen sie aus, richtig goldig, obwohl ihre einheitliche Kleidung ziemlich trist wirkte. Die Mädchen trugen weite schwarze Röcke und dunkelrote oder braune Mieder. Und dazu weiße Schürzen aus feinem, hauchdünnem Stoff, durch die das Schwarz aber deutlich hindurchschimmerte. Ihre Haare verschwanden unter eng anliegenden weißen Häubchen. An den Jungen fielen Kim die breiten, weißen Spitzenkragen auf und das helle Lockenhaar, das ihnen bis auf die Schultern wallte.

Aus der Kinderschar löste sich ein winziges Mädchen und tappte mit unsicheren Schritten auf ihn zu.

»Da!«, sagte die kleine Maus, deutete auf ihn und lachte kreischend.

Kim rieb sich die Augen und blinzelte. Konnte das alles wahr sein? Nicht eine vertraute Gestalt in dem ganzen Gewusel, aber dann fing er einen Blick ein. Einen Blick aus grünen Augen. Grün, nicht blau! Und eine rote Locke hatte sich aus dem weißen Häubchen hervorgestohlen. Lisas Haare sahen ja meistens etwas unordentlich aus. Ansonsten fiel es ihm schwer, sie zu erkennen, so sehr hatte die schwarz-weiße Tracht sie verändert. Und neben ihr, der dicke Junge in den glänzenden schwarzen Kniehosen, war Dennis, der mit seinen blonden, langen Locken noch pausbäckiger als gewöhnlich aussah.

»Na, also!«, dröhnte wieder die tiefe Stimme. Aus dem Hintergrund schob sich ein Mann nach vorn, der Kim unverwandt anschaute, während er die Kinder, die ihm im Weg standen, beiseite drängte. »Willkommen in meinem Haus, in ...,« er deutete mit einem dicken Finger auf sich selbst, »... im Haus von Abraham van de Bos. Abraham van de Bos bin nämlich ich«, setzte er zum Schluss unnötigerweise hinzu.

Er hatte die Statur eines Bären, eines mächtig dicken Bären, der die ganze Schar überragte. Jedenfalls wirkte er kein bisschen wie ein Geist oder Dämon. Kim sah ihn benommen an und ließ sich auf das Kissen zurücksinken, als wäre ihm das Gewimmel um ihn herum auf einmal zuviel.

Missbilligend schüttelte Abraham den Kopf. »Na, na, Kleiner, so schlimm steht’s um dich doch nicht. Oder hast du noch Schmerzen?«

Verwundert lauschte Kim auf den Klang der Stimme, vielmehr der Sprache. Deutsch war das nicht, Chinesisch schon gar nicht. Aber er verstand, was der Mann sagte, und er war sicher, in der gleichen Sprache antworten zu können, obwohl er sie nie gelernt hatte. So war es bei den vorherigen Reisen mit Großvater Kaos Uhr auch gewesen: Im Louvre hatte er mühelos Französisch verstanden und gesprochen, und auf dem Segelschiff Englisch, aber das konnte er bereits. Denn Englisch hatte er auf der internationalen Schule in Shanghai gelernt. Diese neue Sprache klang, als ob die Laute hinten im Hals kratzten. Ziemlich viele »chs« kamen darin vor. Welche Sprache war das? Eine, die er noch nie gehört hatte, schien ihm. Und er war überzeugt davon, wieder in der Vergangenheit gelandet zu sein, dafür sprach die Kleidung der Leute, die er, wie er nun bemerkte, selbst trug. Auch das entsprach seinen bisherigen Erfahrungen mit der Uhr. Jedesmal war er vollkommen in eine fremde Zeit eingetaucht. Dies hier war nicht das einundzwanzigste Jahrhundert. Aber welches dann?

Lisa machte ihm verstohlen ein paar Zeichen, aus denen er nicht schlau wurde.

»Mein Freund Dr. Tulp hat uns versichert, dass du in Ordnung bist. Dein Kopf ist nicht sehr beschädigt, nur eine kleine Beule, die von selbst vergeht, verstehst du?«, fuhr Abraham aufgeräumt fort.

Dass da eine Beule an seinem Hinterkopf wuchs, ganz unten, wo fast schon der Hals anfing, hatte Kim begriffen, ohne mit der Hand nach der Stelle tasten zu müssen. Der pochende Schmerz genügte als Beweis völlig.

»Dr. Tulp?«, fragte er schwach, nur um seine eigene Stimme zu hören.

»Das war ein Glück, dass er gerade zu Besuch da war«, ging Abraham auf ihn ein. »Und nun ...«, weiter kam er nicht.

»Was machen die Kinder hier?« Eine ältere Frau schob sich in Kims Gesichtsfeld. Sie war gleichfalls schwarz gekleidet, trug eine weiße Schürze und einen tausendfach gefältelten Kragen, hoch und dick wie eine Sahnetorte. Ihre Miene war eindeutig verdrossen. »Ist er endlich wach? Wird aber auch Zeit! Sich mittags in Kaschemmen herumzutreiben und sich auf Raufhändel einzulassen. Pfui Teufel!«

 Die Frau hielt es wohl nicht für notwendig, auch nur einen Schimmer von Höflichkeit zu zeigen. Eine lange, spitze Nase ragte vorn aus ihrem Gesicht, dass so eng von der Haube umschlossen wurde wie eine zweite Haut. Eine unangenehm straff gespannte Haut. Nicht ein bisschen Haar war zu sehen.

Abraham wandte sich kurz zu Kim um. »Das ist meine liebe Schwester Griet, die mir den Haushalt führt, aber wie es bei uns zugeht, wirst du schon noch alles erfahren.«

»Nicht von mir«, sagte Griet boshaft.

»Und das sind alles Ihre Kinder?«, fragte Kim mit schwacher Stimme und stützte sich wieder auf die Ellbogen.

»Nein, nein.« Abraham winkte lachend ab. »Aber die meisten. Und heute morgen ist noch eins angekommen. Jetzt hab ich neun. Und nun ihr drei. Na ja, in diesem Haus kommt es auf ein paar mehr weiß Gott nicht an. Ich mag Kinder. Kann gar nicht genug davon kriegen.« Seine Wampe hüpfte.

»Was du nicht sagst! Und wer hat die Arbeit mit den Blagen?«, keifte Griet. »Das Essen wird kalt«, fuhr sie entrüstet fort. »All die Mühe umsonst.«

Diese Griet und Tante Betty müssten sich prima verstehen, dachte Kim.

»Gleich, Griet, gleich, aber zunächst wollen wir doch noch die wichtige Frage klären: Was habt ihr mitgebracht? Deine Freundin Lisa sagt, du bist hier der Boss. Also«, wandte er sich wieder an Kim, während sein Blick nicht mehr ganz so väterlich wohlwollend auf ihm ruhte, »was habt ihr dabei? Bizarden? Violetten? Rosen? Stückware, nehme ich an. Aber das sag ich dir noch: Mit eurer Ware in den Duivelskopp zu gehen, war gar keine gute Idee.«

Lisa verdrehte die Augen. Kim verstand gar nichts, bemerkte aber, dass Abraham auf einmal verschlagen dreinsah.

»Jetzt reicht es, Abraham van de Bos!«, keifte Griet. »Sofort hörst du mit diesem Teufelszeug vor den Kindern auf. Das will ich nicht hören! Das ist gottlos.«

Abraham holte tief Luft, als wollte er zu einer scharfen Entgegnung ansetzen, aber dann atmete er aus und verkniff es sich.

Bestimmt hatte Abraham ihn nicht aus reiner Nächstenliebe in diesem weichen Bett untergebracht, überlegte Kim. Überhaupt: Nächstenliebe! Wie die in Europa funktionierte, erstaunte ihn immer wieder. In China waren die Nächsten nur die eigenen Verwandten und Freunde, um die musste man sich kümmern, wenn man nicht für ein Untier gehalten werden wollte. Aber einem Fremden auf die Beine helfen, nur weil er direkt vor der eigenen Nase ausgerutscht war? Das fiel in China niemandem ein. Diese europäische Nächstenliebe hatte aber was für sich. Ohne sie wäre er jetzt nicht hier, egal was für Hintergedanken der dicke Abraham bei seinem Samariterdienst hegte.

»Meinst du, du kannst aufstehen und zum Essen herunterkommen?«, fragte Abraham Kim und nahm das kleine Mädchen, das sich am Bett festhielt, liebevoll auf den Arm.

»Ich glaub schon«, antwortete Kim und schlug die Decke zurück. Schwindelig war ihm noch ein wenig, aber er schaffte es, die Füße auf den Boden zu setzen. Dennis half ihm auf.

»Wo ist Willie?«, fragte er ihn leise.

»Der Hund ist unten«, sagte Griet barsch, sie musste Ohren wie ein Luchs haben. »Dass du mir den dreckigen Hund nie mit ins Bett nimmst!«, fuhr sie Kim an.

3. Ein Haus voller Kinder  (( 14.02Uhr ))

»Gegessen wird in der Küche!«, erklärte Griet naserümpfend, nachdem Kim aufgestanden war und sie einen Blick auf seine schmutzigen Füße geworfen hatte. Verlegen zog er sich die dunklen Strümpfe und die Stiefel an, die auf beziehungsweise unter einem Hocker lagen und die man ihm anscheinend ausgezogen hatte, bevor man ihn ins Bett gelegt hatte. Auch an den Stiefeln klebte Dreck.

Auf dem Weg zur Küche stiegen sie mehrere Treppen hinab. Kim trat so vorsichtig wie möglich auf, damit sich nicht auf jeder Stufe der Schmutz von den Sohlen löste. Er meinte geradezu Griets bohrenden Blick im Rücken zu spüren. In der Küche würde er sie um einen Besen bitten, um sich vorm Haus die Stiefel abzukehren.

Im Treppenhaus hingen eine Menge Gemälde in schweren dunklen Rahmen. Auch in dem Zimmer, in dem er aufgewacht war, schmückten Gemälde die Wände, und der Holzfußboden war mit dicken Teppichen belegt. Die schlicht wirkende Kleidung von Abraham und seinen Kindern täuschte: Der Mann war offensichtlich reich.

Unauffällig versuchte Kim sich zu Lisa durchzudrängen, aber es gelang ihm nicht. Die Treppe war so eng, dass kaum zwei Personen auf einer Stufe nebeneinander Platz hatten. Wie waren bloß die Betten, Tische und Truhen in die oberen Stockwerke geschafft worden? Beim nächsten Treppenabsatz blieb Lisa stehen und ließ lächelnd Abraham, Griet und die Kinder vorbei. Aufatmend stellte sich Kim neben sie und als letzter kam Dennis zu ihnen. Die Gelegenheit, mit den beiden zu reden, hatte Kim schon regelrecht herbeigesehnt. Endlich konnte er ein paar Dinge klären, ohne sich mit Fragen bei seinem Gastgeber verdächtig zu machen.

»Habt ihr herausgefunden, welches Datum wir haben?« Angespannt wartete er auf die Antwort.

Lisa zögerte, bis das Getrappel auf den Stufen ein bisschen gedämpfter klang.

»Sicher. Was schätzt du?«

»Ein Tag in der Vergangenheit. Ziemlich tief in der Vergangenheit. Lisa, bitte!«

»Heute ist der siebte Februar 1637. Freitag, wie bei uns.«

Unwillkürlich stöhnte Kim auf. Sie waren im siebzehnten Jahrhundert gelandet!

»Das heißt, keine Klos, sondern Pisspötte«, sagte Dennis düster. »Ich hasse Pisspötte.«

»Wo bleibt ihr?«, rief eins der größeren Mädchen von unten herauf.

»Wir kommen!«, antwortete Lisa laut.

»Bloß keine Eile«, murmelte Kim. »Wie lange war ich bewusstlos? Und wo sind wir gelandet? Ich meine, in welchem Land und in welcher Stadt?«

Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung, hielten aber genug Abstand zu den anderen, um unbelauscht miteinander reden zu können.

Sie waren in Amsterdam, erfuhr Kim, in der Republik der Vereinigten Niederlande, wie Dennis etwas umständlich erklärte.

»Es sind sieben protestantische Provinzen, die sich ...«

»Erspar mir die Einzelheiten«, fuhr Kim dazwischen. »Niederlande, Amsterdam, 1637, Freitag, ist klar. Aber was war das für ein Raum mit dem blauen Feuer ...« Er vermied es, die Geister zu erwähnen und hoffte, dass Dennis oder Lisa von sich aus darauf kamen.

»Das sah schräg aus, was?«, bemerkte Dennis. »Das war Torffeuer, die heizen hier mit Torf. Der macht die Flamme blau und lässt alle Leute blau erscheinen – wie Geister.«

Also keine Geister.

»Und woher wisst ihr das?«, fragte er dennoch nach.

»Von Maarten, Abraham van de Bos Ältestem. Er hat uns das mit dem Torf erklärt. Du musst Maarten gesehen haben. Der große Blonde«, mischte sich Lisa ein.

Kim horchte auf. Er konnte sich an keinen großen blonden Jungen erinnern, aber so, wie Lisa von ihm sprach, mit einer gewissen Weichheit in der Stimme, begleitet von einem verklärten, nicht für ihn bestimmtem Lächeln, stellten sich bei ihm die Nackenhaare auf. Maarten gefiel Lisa, das war sehr gut herauszuhören.

»Er hat geholfen dich heraufzutragen, er ist in Ordnung«, ergänzte Dennis, »du wirst ihn auch mögen. Ich glaube, alle mögen ihn.«

Hoffentlich ist er ein bisschen einfältig, dachte Kim erbittert, dann hat Lisa schnell genug von ihm.

»Na ja, Hauptsache er ist friedlich. Und jetzt verrate mir, wer mir eins übergebraten hat und warum. Und erzählt es mir schnell, wir sind gleich unten.«

Dennis antwortete und ab und zu unterbrach Lisa ihn, um etwas hinzuzufügen.

Ihre Reise mit der Uhr hatte sie in eine üble, düstere Kaschemme verschlagen, in den Duivelskopp, den Teufelskopf. In eine kleine Kammer zwischen der eigentlichen Gaststube und einem Hinterzimmer. Beim Verlassen der Kammer waren sie mitten in eine Versammlung geplatzt und hatten große Aufregung ausgelöst. Einer von den Männern hatte Kim mit einem leeren Bierhumpen niedergeschlagen, der Kerl hatte direkt hinter ihm gestanden. Es hätte noch schlimmer kommen können, wenn nicht Abraham gerade aufgetaucht wäre und sie alle drei in Schutz genommen hätte. Ohne zu zögern, hatte er sich Kim auf die Schulter geladen und war mit ihnen abzogen, hierher in sein Haus.

»Und die Uhr, habt ihr die Uhr?«

Sie hatten das Ende der Treppen erreicht, wo ein paar von Abrahams Kindern auf sie warteten.

Dennis schüttelte nur den Kopf, was Kim einen heißen Schrecken versetzte.

»Warum habt ihr euch nicht darum gekümmert?«

Lisa legte ihm die Hand auf die Schultern. »Der da ist Maarten«, sagte sie und deutete auf einen gut aussehenden großen Jungen. Er musste wenigstens siebzehn sein, wenn nicht schon achtzehn. Aber was kümmerte Kim in diesem Moment Maarten? Ohne die Uhr würden sie nie nach Hause zurückkehren können. Sie wären für immer in diesem Pisspottjahrhundert gefangen.

Beim Essen bekam Kim trotz seines Bärenhungers zunächst kaum einen Bissen herunter. Denn er musste ständig an den Duivelskopp denken und wie sie es bewerkstelligen sollten, dorthin zurückzufinden, um nach der Uhr zu fahnden. Seit ihrer Ankunft war etwas mehr als eine Stunde vergangen, hatte Lisa erklärt, es blieben ihnen also knapp dreiundzwanzig Stunden. In dieser Zeit mussten sie die Uhr finden und sich in das Kämmerlein im Duivelskopp stehlen, damit sie den Rückreisezeitpunkt nicht verpassten. Nur wenn sie sich nachgenau vierundzwanzig Stunden zusammen mit der Uhr am gleichen Ort wie bei ihrer Ankunft befanden, hatten sie eine Chance, wieder auf Tante Bettys Dachboden zu landen, in ihrer eigenen Zeit. Zweiundzwanzig Stunden erschienen ihm furchtbar kurz, wenn er bedachte, dass sie nichts über das Schicksal der Uhr wussten. Im Geist sah er, wie einer der Gäste in der Kaschemme mit der kostbaren Uhr unter dem Arm auf Nimmerwiedersehen davonzog. Wahrscheinlich war das längst geschehen. Er schielte zu Dennis. Wie konnte der bei ihren trüben Aussichten auf Rückkehr nur so ungehemmt schlingen? Das war unanständig.

Griet schien essen überhaupt für unanständig zu halten. Um ihnen den Appetit zu verderben, hatte sie, bevor sich alle hinsetzen durften, erst ein ellenlanges Gebet gesprochen, das im Grunde genommen nur aus Ermahnungen bestand und der Ausmalung von Höllenstrafen, die ihnen bereits drohten, wenn sie auch nur lachten. Jesus Christus, sagte Griet, hätte niemals gelacht, jedenfalls stand nichts davon in der Bibel. Erst ganz zum Schluss dankte sie Gott für die aufgetischten Speisen.

Die fielen erfreulich üppig aus. Saftiger Braten, Pasteten mit köstlicher Füllung,  Hähnchen, außen schön kross und innen zart, ein paar geschmorte Kaninchenrücken und jede Menge leckere Sauce. Die Niederländer des siebzehnten Jahrhunderts verstanden etwas vom Kochen, das musste Kim zugeben. Und die ganze Tischrunde wurde kreuzfidel, sobald Griet nach ein paar hastigen Bissen die Küche verlassen hatte. Schon bald kam Gelächter auf und Kim begann sich wohlzufühlen. Trotz allem.

Merkwürdig war, dass es in der geräumigen Küche nicht nach Kochen aussah. Dabei stand an einer Schmalseite ein von blau bemalten Kacheln eingefasster, eingemauerter Herd. Darüber hingen blank geputzte kupferne Töpfe, Pfannen und andere Gerätschaften. Daneben, in einem kunstvollen Gestell, war prächtiges, bunt bemaltes Geschirr aufgereiht. Alles wirkte sehr ordentlich und unbenutzt. Maarten hatte Kims verwunderte Blicke bemerkt und beugte sich zu ihm über den langen Tisch, an dem sie alle saßen.

»Das ist nicht die Kochküche«, sagte er verschmitzt, »hier wird nur gegessen. Gekocht wird dort, wo Tante Griet gerade unsere Tries auszankt.«

Ihre keifende Stimme drang zu ihnen durch eine offen stehende Tür, die auf einen Flur hinausführte. An dessen Ende musste die Küche liegen, in der gekocht wurde. Außer Griets Stimme war die eines schluchzenden Mädchens zu hören.

»Hat Griet auch Kinder?«, fragte Kim schaudernd und schaute sich in der Tischrunde um. Einer der Jungen fiel ihm auf. Im Gegensatz zu den übrigen Kindern hatte er braunes Haar und er wirkte so missmutig wie Griet. Er musste ein oder zwei Jahre jünger als Maarten sein und seine Verdrossenheit machte ihn extra unansehnlich.

»Du meinst David, nicht wahr?« Unauffällig deutete Maarten auf den Jungen. »Nein, er ist nicht Tante Griets Sohn. Sie hat keine Kinder, sie war nie verheiratet. David und seine Geschwister – sie sind fünf, musst du wissen – gehören zu Vaters Bruder Johan. Er und seine Frau befinden sich auf einer Handelsreise. Damit die Kinder nicht allein sind, hat Vater sie zu sich genommen. Wir warten jetzt seit einem Jahr auf Onkel Johans Rückkehr.« Ein Schatten flog über Maartens hübsches Gesicht.

»Das ist aber nett, dass euer Vater eure Cousins und Cousinen aufgenommen hat«, murmelte Kim, der sich nicht wirklich dafür interessierte.

»Das ist nicht nett.« David, der zwei Plätze weiter saß, schräg gegenüber von seinem ältesten Vetter, hatte den Kopf gehoben und funkelte Maarten an. »Das ist nur Berechnung. Wir sind ein Pfand, das Onkel Abraham bis zu Vaters Rückkehr in der Hand behält. Solange wir bei ihm sind, ist er sicher, dass ordentlich geteilt wird. Vaters Reise ist ja keine wie jede andere«, fügte David scharf hinzu. Es war nur allzu klar, dass er Maarten nicht mochte. Vielleicht war er aber auch grundsätzlich schlechter Laune. Weil er seine Eltern vermisste und sich im Haus seines Onkels offensichtlich nicht wohl fühlte, empfand Kim Sympathie für ihn, ein bisschen wenigstens.

Maarten schüttelte nur amüsiert den Kopf, die Feindseligkeit von David prallte vollständig an ihm ab, nur seine Augen blickten härter.

Kim ließ sich in ein Gespräch mit seiner Nachbarin ziehen, einer der älteren Töchter Abrahams, und bald schon vergaß er den kleinen Schlagabtausch zwischen den Vettern. All der Lärm der Unterhaltung, die Enge am Tisch, die Fröhlichkeit machten ihn selbst froh. Das war echtes Leben, das war genau das, was er in Drensteinfurt vermisst hatte.

Keinen in der großen Runde schien es zu scheren, dass Kim Chinese war. So oft schon war ihm seit seiner Ankunft in Deutschland in den Blicken und im Verhalten von Mitmenschen ein ganz unmerklicher Vorbehalt, Vorsicht oder eine leichte Zurückhaltung begegnet, die er klarsichtig auf seine Herkunft schob. Für so etwas bekam man ein Gespür. Hier war nichts davon zu bemerken. Warum nicht? Die Leute im siebzehnten Jahrhundert lebten doch noch hinter dem Mond, sie hätten bei seinem Anblick eigentlich platt vor Staunen sein müssen. Oder voller Furcht und Misstrauen. Am liebsten hätte er laut gesagt: Ich komme von der anderen Seite der Erdkugel, aus China! Meine Haare sind tintenschwarz, solche Haare hat keiner von euch. Und dann erst meine Schlitzaugen!

Es war, als ob sie alle blind wären.

»Gibt es viele Fremde in Amsterdam?«, fragte er schließlich schüchtern.

Erstaunt sah ihn das Mädchen an, dann glitt ihr Blick langsam über sein Haar und sein Gesicht. Erst lächelte sie, dann begann sie zu kichern.

»Kim hat gefragt, ob es viele Fremde in Amsterdam gibt!«, rief sie in die Runde.

Kim kam es vor, als hätte ihm jemand einen Kübel kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet.

Alle lachten, bis das Mädchen – sie hieß Saskia – seinen Gesichtsausdruck sah. Betreten legte sie ihm die Hand auf den Arm.

»Seid still, seid alle still!«, forderte sie die anderen auf und sah ihn dann um Verzeihung bittend an. »Warst du noch nie hier? Ich glaube, du weißt nicht, dass Amsterdam die größte Handelsstadt der Welt ist. Hierher kommen Menschen aus aller Herren Länder. Portugiesen, Flamen, Balten, Deutsche, Russen, Chinesen, Inder, viele leben hier inzwischen, und wir sind glücklich, dass sie da sind.«

»Die Fremden haben uns geholfen reich zu werden«, mischte sich Abraham ein. »Sogar sehr reich. So reich wie Amsterdam ist keine Stadt der Welt. Du denkst, du bist hier was Besonderes? Wir handeln mit China. Ich bin Tee- und Gewürzhändler.« Stolz schlug er sich auf die Brust und zwinkerte ihm zu. »Um zu handeln seid ihr doch sicher selbst hier. Also, um auf meine Frage von vorhin zurückzukommen: Was habt ihr aus Haarlem mitgebracht?«

Verwundert linste Kim zu Lisa hinüber. Sie hob unmerklich die Schultern, um anzudeuten, dass sie vergessen hatte ihm mitzuteilen, welche Geschichte sie Abraham aufgetischt hatte. Sie kamen also aus Haarlem. Na gut. Aber was wollten sie hier? Hatte Lisa auch das Abraham verraten? Mit was außer Tee und Gewürzen handelte man in Amsterdam?

»Eine Viceroy werden sie nicht haben«, mischte sich Maarten ein.

»Eine Viceroy?«, wiederholte Kim dümmlich.

Abraham gab Maarten einen Wink. »Hol die Viceroy. Wir wollen sie ihnen zeigen, damit sie Vertrauen zu uns fassen.« Er wandte sich wieder an Kim. »Dein Misstrauen zeigt mir, dass du kein Dummkopf bist.«

4. Ein großes Unglück (( 14.57))

Maarten kam mit einem Tuch zurück, in das etwas eingewickelt war und das er mit beiden Händen hielt, als hätte er Angst, er könnte es aus Versehen fallen lassen. Äußerst vorsichtig legte er es vor seinen Vater auf den Tisch. Abraham winkte Kim, Lisa und Dennis zu sich. Alle Kinder waren verstummt und blickten gebannt auf das Tuch, als erwarteten sie eine Kostbarkeit, etwas ganz und gar Erlesenes.

Und dann ließ sich Abraham auch noch Zeit mit dem Auspacken, als wollte er alle extra auf die Folter spannen. Aber möglicherweise enthielt das Tuch ja einen höchst zerbrechlichen Gegenstand.

Zum Vorschein kam eine Art unordentliches Vogelnest aus Heu und Holzwolle. Mit großer Behutsamkeit schob Abraham das Zeug auseinander. Mitten drin lag nichts anderes als eine Zwiebel! Eine ganz gewöhnliche unansehnliche Zwiebel, an der unten zwei winzige Knöllchen saßen. Wieso alle andächtig die Zwiebel anstarrten, war Kim ein so vollkommenes Rätsel, dass er nur den Kopf schütteln konnte.

Ein Mädchen fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und krampfte die Hände in ihre weiße Schürze. Ein anderes seufzte ergriffen.

»Das ist eine Viceroy!«, sagte Abraham heiser vor Stolz und Ehrfurcht. »Na, wie gefällt sie dir, Kim?« (Viceroy: Name einer Tupensorte)

Kim schwieg und betrachtete die Zwiebel eine Weile ungläubig. Sie hatte eine glatte, braune, ein bisschen lilafarbene Haut.

»Die Zwiebel?«, fragte er vorsichtig nach. »Das ist doch eine Zwiebel?«

Ein Junge prustete laut, bis Abraham ihm einen strengen Blick zuwarf, der ihn eingeschüchtert verstummen ließ.

Dann streckte Abraham den Kopf vor und musterte Kim abschätzend. Vielleicht überlegte er, ob er gerade auf den Arm genommen wurde. »Aber ja.«

»Sieht gut aus. Ich würde sie mit Essig und Öl anmachen oder vielleicht braten«, sagte Kim tapfer, während er das Gefühl hatte, vollkommen im Nebel zu tappen. So viel Aufregung wegen einer Zwiebel? »In einer Eisenpfanne. Nehmt unbedingt Sesamöl.«

Abraham schloss entnervt die Augen. Alle anderen waren erstarrt.

»Das ist eine Tulpenzwiebel«, zischte Lisa, »eine wie die von Tante Bettys kostbaren Papageientulpen, die dich nicht interessiert haben.«

Er hätte in Tante Bettys Garten doch besser hinhören sollen, dachte Kim reumütig. Aber wie hätte er ahnen sollen, dass Tulpen auf einmal so eine Wichtigkeit haben könnten? Zumindest bei den Niederländern im siebzehnten Jahrhundert.

»Ist die wertvoll?«, fragte er vollkommen verwirrt. »Ich meine, die Viceroy

Abraham machte die Augen wieder auf und funkelte Kim an. »Du machst mich wütend, Junge. Du machst mich wirklich wütend! Ich dachte, ich hätte etwas Besseres verdient, als diese Unverschämtheiten. Eine Viceroy wertvoll!«

»Na, ja.« Kim zuckte verzweifelt die Schultern und gab sich den Anschein, zu verstehen, was Abraham ihm mitzuteilen versuchte. »Bestimmt ist sie wertvoll«, sagte er und grinste unsicher.

Was um Himmels willen ging hier vor? Abraham stellte sich mit seiner verdammten Zwiebel ja noch schlimmer an als Tante Betty. Deutlich hatte Kim ihr Gekeife im Ohr, als er die Blumenzwiebel aufgespießt hatte. Was kostete so eine Zwiebel, wenn sie wertvoll war? Fünf oder sechs Euro? Sechs Euro für einen braunen Knubbel, aus dem im Frühjahr eine Tulpe wuchs, die spätestens nach zwei Wochen verwelkte?

Dieses Rätsel drohte seinen Kopf zu sprengen. Vorsichtig tastete er nach der Beule, den Verband hatte er bereits entfernt. Der Schmerz, den er spürte, war ihm schon beinahe willkommen. Er zeigte ihm, dass er sich in der Wirklichkeit und nicht in einem verrückten Traum befand.

»Wertvoll?« Abraham kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Du bist ausgekocht, nicht wahr? Du willst mich provozieren. Die Viceroy ist die Königin der Tulpen!«

»Na ja«, sagte Kim kühl, »da gibt es ja immer noch einen Kaiser, nicht wahr?«

Zunächst wurde Abraham kalkweiß im Gesicht, dann fuhr ihm die Röte wie eine Stichflamme in die Wangen. Schwerfällig stemmte er sich hoch.

»Entschuldigt mich, Kinder, ich bin gleich zurück.« Er stampfte hinaus. »Diesem Jungen werde ich noch das Maul stopfen«, murmelte er erregt.

Verwundert hörten sie ihn die Treppe hinaufpoltern und eine Tür zuschlagen.

»Diese Viceroy, wie wertvoll ist sie?«, fragte Dennis.

»Im Dezember war sie noch für etwa fünfhundert Gulden zu haben, aber jetzt?« Maarten furchte in gespieltem Nachdenken die Stirn. »Was meinst du, David?« Es war das erste Mal, dass er sich direkt an seinen Vetter wandte.

»Dreitausend auf der letzten Auktion, von der ich gehört habe. Das war vor einer Woche. Wer weiß, wo der Preis jetzt steht. Bei viertausend vermutlich, denn da sind ja noch die beiden Brutzwiebeln.« Lässig deutete er auf die winzigen Auswüchse unten an der Knolle.

Das klang nach viel Geld. Aber ... Kim bemerkte, wie Dennis die Augen aufriss. Rasch flüsterte er ihm zu. »Was ist ein Gulden wert? So viel wie ein Euro oder mehr?«

Lisa fasste nach seinem Arm, sie hatte die Frage mitbekommen. »Viel mehr, so weit ich weiß, sehr viel mehr, zumindest in diesem Jahrhundert. Ich hab noch nie gehört, dass jemals so viel Geld für eine einzige ...«

Ein furchtbarer Schrei ließ alle zusammenfahren, ein Schrei der von oben kam, aus dem Stockwerk über ihnen. David war der Erste, der zur Tür rannte, dann folgten ihm alle anderen. Sie rasten die Treppe hinauf, einen langen Flur entlang, an dessen Ende ein großes Zimmer lag.

Es war ein Schlafzimmer, noch prächtiger ausgestattet als das, im dem Kim erwacht war. Und mitten auf einem Teppich vor dem Himmelbett lag Abraham lang ausgestreckt, die Augen starr nach oben gerichtet. Es sah ganz danach aus, als hätte ihn der Schlag getroffen.

War er tot?

Maarten kniete sich neben ihn hin, während immer noch Kinder in den Raum drängten und auf die ausgestreckte Gestalt starrten. Leises Schluchzen kam auf, ein Mädchen schlug sich die Schürze vors Gesicht.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530671
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
historisch Maaser magische Uhr Tulpenwahn Seefahrt Freundschaft 17. Jahrhundert Spannung Zeitreise Amsterdam Abenteuer Jugenbuch eBooks
Zurück

Titel: Kim und das Rätsel der fünften Tulpe - Band 3
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
181 Seiten