Zusammenfassung
Stralsund im Jahr 1334: Anna rennt kopflos über den Markt. Ihr kleiner Bruder Heyno ist verschwunden! Wie oft hat sie sich gewünscht, den Quälgeist loszuwerden. Nun aber muss sie Hilfe holen: ihren besten Freund Leon, den Waisenjungen, der im Katharinenkloster aufwächst. Gemeinsam machen sich die beiden auf die Suche nach Heyno. Ihr Weg führt sie auf ein Handelsschiff, das nach Skanör fährt. Unterwegs wird das Schiff von Piraten überfallen. Und Anna gerät in ihre Gewalt! Leon hat nur noch ein Ziel: Anna heil von dem Schiff zu bringen …
Ein mitreißender Mittelalter-Krimi – spannend und hautnah erzählt.
Jetzt als eBook: „Leon und die Geisel“ von Eva Maaser. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch:
Stralsund im Jahr 1334: Anna rennt kopflos über den Markt. Ihr kleiner Bruder Heyno ist verschwunden! Wie oft hat sie sich gewünscht, den Quälgeist loszuwerden. Nun aber muss sie Hilfe holen: ihren besten Freund Leon, den Waisenjungen, der im Katharinenkloster aufwächst. Gemeinsam machen sich die beiden auf die Suche nach Heyno. Ihr Weg führt sie auf ein Handelsschiff, das nach Skanör fährt. Unterwegs wird das Schiff von Piraten überfallen. Und Anna gerät in ihre Gewalt! Leon hat nur noch ein Ziel: Anna heil von dem Schiff zu bringen …
Ein mitreißender Mittelalter-Krimi – spannend und hautnah erzählt.
Über die Autorin:
Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.
Ebenfalls bei jumpbooks erscheinen Eva Maasers Bücher Kim und die Seefahrt ins Ungewisse, Kim und das Rätsel der fünften Tulpe, Leon und der falsche Abt, Leon und die Geisel, Leon und die Teufelsschmiede und Leon und der Schatz der Ranen.
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eBook-Neuausgabe April 2016
Copyright © der Originalausgabe 2008 SchneiderBuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln
Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.
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Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
Titelbildabbildung: akg-images/Hoppe/Teller, Porträtbild: akg-images/J.C. Rößler
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-96053-069-5
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Eva Maaser
Leon und die Geisel
Band 2
jumpbooks
1. Kapitel
So schnell sie konnte, ließ Anna den Markt von Stralsund mit seinen Buden und Ständen hinter sich. Ihr war heiß, sie schwitzte, aber nicht wegen ihres Wollrocks. Sondern vor Angst. Immer wieder drehte sie sich um und spähte über die Schulter zurück.
Wo war Heyno?
Ihr siebenjähriger Bruder war auf einmal verschwunden gewesen. Einen kurzen Moment hatte sie sogar aufgeatmet. Endlich war sie den Quälgeist los, der sie mit seiner feuchten, schmutzigen Jungenhand hierhin und dorthin gezerrt hatte. Zu einem Wurf junger Hunde, die feilgeboten wurden, zum Bäcker mit seiner Zuckerware und zuletzt zu einem Gaukler, der mehr schlecht als recht mit fünf Bällen jonglierte, von denen er einen prompt fallengelassen hatte. Anna hatte über den Tölpel gelacht und den Ball aufgehoben, der ihr vor die Füße gerollt war. Und dann war Heyno nicht mehr an ihrer Seite gewesen.
Versteckte er sich vor ihr? Aber doch nicht so lange! Das war kein Spaß mehr!
Überall zwischen den Marktbuden und Karren hatte sie ihn gesucht, während das schlechte Gewissen immer heftiger an ihr nagte. Hatte sie nicht schon tausendmal gewünscht, den lästigen kleinen Kerl für immer los zu sein? Hatte sie das jemals ernst gemeint? Sie wusste nur, dass sie ihn allein nicht finden würde. Sie brauchte Hilfe. Dringend. Der vertraute Markt war auf einmal kein sicherer Ort mehr für einen kleinen Jungen. Fremde wie dieser Gaukler trieben sich dort herum.
Anna fiel das Atmen schwer, während sie in die Mönchstraße einbog, in der das Katharinenkloster lag. Das Tor in der hohen Mauer stand offen, um einen kleinen Karren mit Kornsäcken und einem Bierfass hineinzulassen. Wahrscheinlich die Spende eines frommen Stralsunder Bürgers.
Anna fegte am Bruder Pförtner vorbei, der sie verblüfft anstarrte und ihr verspätet etwas nachrief, was sie nicht verstand. Sie musste Leon finden, ihren besten Freund. Wo mochte er um diese Stunde sein? Sie hoffte nur, ihn nicht auf der Schweinewiese draußen vor der Stadtmauer suchen zu müssen. Bitte Gott, flehte sie inbrünstig, mach, dass er in einem der Gärten arbeitet.
Leon zog die Harke über den Weg und achtete darauf, dass die kleinen Furchen so gerade wie möglich ausfielen. Er hasste diese langweilige Arbeit von ganzem Herzen. Für gewöhnlich führte er sie schlampig aus, da sie letztlich für die Katz war. Im Kräutergarten trieb sich immer jemand herum, der seine Arbeit gleich wieder zunichte machte.
Für die Katz, für die Katz, zischte er unablässig aber so gut wie unhörbar zwischen den Zähnen hervor. Aus einer gewissen Entfernung mochte es sich wie Beten anhören. Hoffte er wenigstens.
Nicht weit von ihm entfernt standen einige Mönche auf dem kleinen Rasenstück in der Mitte des Kräutergartens. Sie waren in eine ernste, auf Latein geführte Unterhaltung vertieft. Nur hin und wieder schnappte er ein Wort davon auf. Es schien um eine Reise zu gehen, um eine wichtige und notwendige Mission.
Neben Abt Liudger gehörte Arnulf, der Cellerar oder Klosterverwalter, zu der Gruppe und außerdem Gernod, wie der Abt einer der älteren Brüder. Er war sowohl Apotheker als auch Arzt, einer der angesehensten Mönche des Katharinenklosters und weit über die Grenzen Stralsunds hinaus für seine Heilkunst berühmt. Der vierte war ein Fremder. Ein rundlicher, kurzbeiniger Mann um die vierzig mit weichen Gesichtszügen und grämlicher Miene. Edgar van Berghe. Ein Kollektor, der am Vortag mit zwei Knechten eingetroffen war und Unterkunft im Kloster gefordert hatte. So wie er auftrat, war sein Erscheinen eins der wichtigeren Ereignisse des Jahres 1334. Neugierig hatte sich Leon sofort nach dem Besucher erkundigt und erfahren, dass er ein hoher Würdenträger der Kirche war, - wie alle Kollektoren. Was allerdings ein Kollektor war, hatte er noch nicht ausreichend in Erfahrung bringen können. Sicher war nur, dass Edgar van Berghe mit Geld zu tun hatte, mit außerordentlich viel Geld. Leider verstand Leon von Geld nicht besonders viel.herauch? Er selbst besaß nicht einmal einen Kupferpfennig.
Cellerar Arnulf wirkte nervös, fast schon ein bisschen gereizt. Immer wieder trat er von einem Fuß auf den anderen und spähte mit einer ruckhaften Bewegung zu Leon, was diesem jedesmal einen kleinen Stich versetzte. Arnulf gehörte nicht gerade zu seinen Wohltätern im Kloster.
Auf einmal hörte Leon jemanden rufen. Jemand mit ungewöhnlich hoher Stimme. Eine Mädchenstimme!
Annas Stimme!
Nicht jetzt, dachte Leon entsetzt. Nicht hier. Von größtem Unbehagen erfüllt, ließ er die Harke sinken.
Anna preschte auf ihn zu und schien die anderen gar nicht wahrzunehmen. Was fiel ihr bloß ein, hier einzudringen? Der Kräutergarten war praktisch geheiligter Bezirk, nur den Mönchen vorbehalten. Hier schnappten die Genesenden aus dem Krankenrevier Luft, oder Klosterbrüder gingen ihren Meditationsübungen nach. Denn der Garten war wegen seines Dufts nach frischen, aromatischen Kräutern und ein paar Blumen sehr beliebt.
Jetzt lag nur noch ein etwas breiteres Beet zwischen Anna und ihm und zwang sie, anzuhalten. Ja, sie wollte etwas von ihm. Nur von ihm. Leon fühlte sich überrumpelt. Vor allem im Beisein der vier Mönche, die sich verblüfft so gedreht hatten, dass sie volle Sicht auf Anna hatten. Und auf ihn.
Leon spürte, wie er klatschmohnrot wurde.
Anna schrie. Irgendetwas über ihren kleinen Bruder, einen unausstehlichen Schlingel, der Leon gern bei jeder Gelegenheit gegen das Schienbein trat oder ihn unvermutet mit voller Kraft in die Rippen boxte.
Anscheinend war Heyno verschwunden. Sollte Anna doch froh sein. Hatte sie nicht mal behauptet, sie würde den lästigen Knirps gern im Brunnen ertränken? Vielleicht hatte das jemand anders für sie besorgt.
Leon zwang sich, die Harke wieder über den Weg zu ziehen. Dabei sah er verstohlen Anna ins Gesicht und wunderte sich über ihre Verzweiflung. Sie kannte doch ihren Bruder! Sicher war er einem Pferd oder Hund nachgelaufen. Na und? Er würde wieder auftauchen. Nur weil ihn Anna so oft zum Teufel gewünscht hatte, regte sie sich jetzt auf. Wenn Wünsche wahr werden, weiß man erst, was sie wert sind, würde Gernod sagen, der ihn immer wieder vor unklugen, unbedachten Äußerungen gewarnt hatte.
Zufällig streifte Leons Blick das Gesicht des Kollektors und schauderte unwillkürlich. Annas Auftritt würde dem Ruf des Kloster schaden, und Arnulf würde prompt ihm, Leon, die Schuld daran geben. Schließlich war Anna nur seinetwegen hier.
»Was ist jetzt? Kommst du und hilfst mir, ihn zu suchen?«, schrie Anna. Sie beherrschte kaum noch ihre Stimme.
Auf Arnulfs Gesicht braute sich eine wahre Gewitterwolke unverhüllten Zorns zusammen. Die Miene des Kollektors spiegelte dagegen tiefen Abscheu, ja schon Verachtung wider. In diesem Moment war sich Leon allzu bewusst, dass er im Kloster nur geduldet wurde, er gehörte gar nicht her. Sein Leben hier hing ganz von der Gnade der Mönche ab. Sie hatten ihn, den Sohn ihres Schweinehirten Swinefoot, eines berüchtigten Trunkenbolds, nach dessen Tod vor vier Jahren aufgenommen und zogen ihn seitdem groß. Gewährten ihm sogar Unterricht, obwohl nichts sie dazu verpflichtete. Jetzt war Leon dreizehn. Wohin sollte er gehen, wenn sie ihn hinauswarfen?
Nicht ein Meister in der Stadt würde ihn als Lehrling nehmen, denn in ihren Augen und nach den Gesetzen der Stadt war er ein Bastard, er war von unehelicher, das hieß unehrlicher Geburt. Niemand würde sich um ihn scheren. Flüchtig dachte Leon an die einzige Person, die ein Anrecht auf ihn geltend machen könnte, es aber ums Verrecken nicht tat. Ihm war das recht so, er dachte nur höchst ungern an diesen Mann.
Bruder Gernods Augenbraue zuckte fragend nach oben. Sonst blieb sein Miene so ausdruckslos wie die Abt Liudgers.
Leon lief der Schweiß in einem unangenehmen kleinen Bach den Rücken hinunter. Seine Haut prickelte und juckte.
Was erwartete Anna von ihm? Dass er sich vor den Mönchen mit ihr über das Verschwinden ihres Bruders unterhielt? Wahrscheinlich war der unleidliche Bengel längst allein nach Hause gelaufen. Der Amtssitz des Vogts von Stralsund lag nicht weit vom Katharinenkloster entfernt am Neuen Markt. Vogt Witzlaf war Annas und Heynos Vater.
»Du hörst mir ja gar nicht zu, schrie Anna außer sich. »Ist es dir zuviel, um was ich dich bitte?«
Leon wollte jetzt etwas sagen, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen. Es war alles schrecklich peinlich, und Anna merkte es nicht einmal. Sie war voll und ganz mit ihrem Problem beschäftigt und scherte sich nicht um das, was sie ihm gerade aufhalste. Wahrscheinlich würde er kein Abendbrot bekommen und zur Buße in der Kirche zehn pater noster auf den Knien beten müssen.
»Eine Schande«, ließ sich der Kollektor dumpf vernehmen.
Arnulf trat einen Schritt auf Anna zu. Da fuhr sie herum und sah endlich die anderen. Sie stieß einen wehen Laut aus und drehte sich wieder zu Leon um.
»Ich verstehe«, sagte sie leise, aber deutlich genug, sodass auch die Mönche sie hören mussten. »Es ist dir unangenehm, dass ich hier bin. Ich bringe dich in Verlegenheit. Du bist, du bist ...«, sie schnappte nach Luft, »... ein elender Feigling, Leon Swinefootsohn! Das hätte ich nie und nimmer von dir gedacht!« Anna wirbelte herum und lief mit gerafften Röcken davon. Als deutlich und für alle sichtbar ihre milchweißen Waden aufblitzten, keuchte der Kollektor zutiefst angewidert auf.
»Sündhaft!«, bellte er zornig.
Sie trägt nicht einmal Strümpfe, dachte Leon, sie zeigt ihre nackten Beine, auch das noch, das gibt fünf pater noster extra. Ängstlich schaute er zu den Mönchen und bemerkte verblüfft, dass Gernod einen winzigen Moment grinste.
Hatte er wirklich gegrinst?
Seine Miene war so ausdruckslos wie zuvor.
»Das wird Konsequenzen haben«, polterte Arnulf. »Verzeiht, Bruder Edgar, ich hab schon immer gesagt, der Bengel kennt keine Zucht, er gehört gar nicht ...«
Leon schaute Anna nach. Und wie eine große Welle überkam ihn auf einmal tiefe Scham. Arnulf fuhr fort, sich ausführlich über sein schlechtes Benehmen und seinen Ungehorsam zu verbreiten, aber er hörte nicht mehr hin. Nur Anna zählte jetzt noch. Anna, die ihn um Hilfe angefleht und die er gerade im Stich gelassen hatte.
Und während Arnulf drohend näher herantrat, nahm Leon die Harke in beide Hände. Er stemmte sie auf den Boden, holte tief Luft und schwang sich mit Hilfe des Stiels in hohem Bogen über das Beet auf den nächsten Weg zur Gartenpforte. Dann ließ er die Harke fallen und rannte Anna nach.
2. Kapitel
»Sie ist da lang«, sagte der Bruder Pförtner gemütlich, sobald er Leon heranpreschen sah, und wies nach links.
Ohne zu zögern jagte Leon durchs Tor und folgte der angezeigten Richtung. Ein Stück vor ihm leuchtete Annas roter Rock, sie bog gerade in eine Nebenstraße ein.
»Anna!«
Er musste sich schon etwas mehr beeilen, wenn er sie einholen wollte. Leon wich einem Pferdegespann aus, sprang über ein Hündchen, schob ein Schaf beiseite, das ihm entgegentrottete und im Begriff war, ihm samt dem Hirten den Weg zu versperren.
Wo war Anna jetzt?
Bestimmt hatte sie ihn abgeschrieben, aber das würde er nicht zulassen. Jetzt schon gar nicht, wo er so offensichtlich die Klosterregeln gebrochen hatte. Mädchenbesuch! Im Beisein des Abts davongelaufen! Das roch nach ewiger Verdammnis.
Vor der nächsten Quergasse erwischte er Anna am Rock und hielt sie fest. Wie eine Katze mit wütend ausgefahrenen Krallen ging sie auf ihn los.
»Hau ab! Verkriech dich hinter dem Rücken deiner Mönche! Ich hab verstanden, was ich dir wert bin. Nämlich gar nichts! Du bist bloß ein kleiner, kümmerlicher Wicht.«
Leon nickte kühl.
»Und ein Feigling. Das hast du schon gesagt. Du brauchst es nicht zu wiederholen, alle haben es gehört.«
»Richtig! Und jetzt lass mich in Frieden, ich hab nämlich zu tun. Ich kann mich nicht länger mit dir abgeben.«
»Bist du endlich still?«, brauste Leon auf. »Wahrscheinlich schmeißen sie mich jetzt raus. Weißt du überhaupt, was du angerichtet hast? Wieso glaubst du, nur weil du die Tochter des Vogts bist, kannst du dir alles erlauben?«
Der letzte Satz verschlug ihr die Sprache, aber nur für einen kurzen Moment. »Ach was! Du willst mich nur davon abbringen, dass du dich meinetwegen geschämt hast. Ich hab’s dir genau angesehen. Ich sag’s noch mal: Hau ab, geh beten, tu Buße oder was ihr im Kloster so tut, wenn ihr eine Regel übertreten habt«, sagte sie voller Hohn.
Leon hätte sie schütteln können. Er streckte schon die Hände nach ihr aus, sah ihr aber plötzlich in die Augen und erkannte im selben Moment, wie sehr ihr Gefauche dazu diente, ihre innere Not zu überdecken.
»Die Buße kommt noch, darauf kannst du wetten«, sagte er einigermaßen ruhig. »Aber das lass meine Sorge sein. Erzähl lieber, was passiert ist.«
Misstrauisch zögerte sie, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und warf ihren dicken blonden Zopf über die Schulter zurück auf den Rücken.
»Mein Bruder ist einfach weg.« Ein Schluchzer stahl sich in ihre Stimme.
»Ich kann mich erinnern, dass du dir das mindestens tausendmal gewünschst hast«, bemerkte Leon trocken. »Hätte ich an deiner Stelle auch.« Der kleine Heyno war das verzogenste Kind, das er kannte.
»Du, du Armleuchter ...«, schimpfte Anna, und sofort ging der Streit in die nächste Runde. Erst als ihnen die Luft zum Weiterstreiten ausging, konnte Leon fragen, wo Anna den Jungen zuletzt gesehen hatte. Und während sie ihm haarklein auseinandersetzte, wo sie überall mit Heyno gewesen war, liefen sie Seite an Seite zum Alten Markt.
»Wen hast du nach ihm gefragt?«
Anna seufzte. »Ich glaube, jeden, der mir zuhören wollte. Aber es hat ihn einfach kaum jemand bemerkt, er ist ja bloß ein Kind. Hast du gewusst, wie viele kleine Jungen sich an Markttagen zwischen den Ständen herumtreiben?«
»Trotzdem, wir fragen noch einmal. Sag mir, was er anhat, und wir beschreiben ihn so genau, wie wir können.«
»Einen grünen Wollkittel, er hat einen ganz gewöhnlichen grünen Wollkittel an und braune Hosen.«
»Das ist doch schon mal was. Wir finden bestimmt bald eine Spur von ihm«, sagte Leon zuversichtlich.
»Und wenn nicht?«
»Dann suchen wir weiter.« Angestrengt dachte Leon nach. Was würde einen Jungen anlocken, der abenteuerlustig die Stadt durchstreifte? Noch machte er sich nicht allzu viele Sorgen um ihn. Heyno war zwar noch klein, aber nicht dumm. Alles im allem hielt er Annas Furcht für übertrieben. So schnell verschwand ein Junge nicht aus Stralsund.
Den Markt hatten sie durchkämmt und keinerlei brauchbare Auskünfte erhalten. Inzwischen liefen sie ein Stück die Gassen ab, die vom Markt wegführten und riefen immer wieder nach Heyno. Vielleicht hatte ihn etwas in einen der Hinterhöfe gelockt, die von schmalen Durchgängen aus zu erreichen waren.
Vor der Jacobikirche saß ein Bettler und schaute ihnen mit leeren Blick entgegen. Erst als sie näher heran waren, sah Leon, dass es sich um einen Aussätzigen handelte. Die Hände des Mannes waren verbunden, aber er konnte erkennen, dass sich unter den grauen Lappen nur Stummelfinger verbargen. Und das halbe Gesicht war schon von der furchtbaren Krankheit weggefressen. Die Augen lagen in tiefen Höhlen. Wahrscheinlich lebte der Mann im Hospital zu St. Jürgen vor der Stadtmauer am Knieperteich. Es gab zum Glück nicht viele dieser Kranken in Stralsund, aber die wenigen flößten Leon jedesmal ein Schaudern ein.
Anna rannte zügig an dem Mann vorbei. Leon drehte sich zu ihm um, sah aber, dass dieser sich nicht rührte und nicht einmal die Bettelschale vorschob.
3. Kapitel
Zwei Stunden später hielten sie erschöpft inne. Sie hatten die halbe Innenstadt rund um den Markt abgesucht, hatten sich beinahe heiser nach Heyno gerufen und nichts erreicht. Noch einmal hatten sie den Aussätzigen gesehen, der reglos an ihnen vorbeistarrte und Leon das Gefühl gab, eine ganz und gar sinnlose Sache zu verfechten.
»Hast du dir überlegt, dass Heyno längst zu Hause sein könnte?«, nuschelte er.
»Was?« Anna stockte, dann setzte sie sich ohne ein weiteres Wort wieder in Bewegung, und nach einigen Schritten begann sie zu rennen.
Leon begriff. Sie rannte nach Hause. Zur Vogtei. Er setzte ihr nach und ärgerte sich, nicht schon früher auf die Idee gekommen zu sein. Bestimmt saß der kleine Quälgeist längst in der Küche, ließ sich mit Honigbrot und warmer Milch verwöhnen und lachte über seine große, dumme Schwester, während sich Anna vor Sorge um ihn beinahe umbrachte. Ein ganz ungewöhnlicher Zorn auf Heyno machte sich in Leon breit.
Im Tor lümmelte als Wache ein junger Mann, der gelangweilt in den Zähnen pulte. Als er Anna und Leon heransausen sah, griff er nach seiner Lanze, die er neben sich abgestellt hatte, und nahm eine etwas aufrechtere Haltung an. Je näher die beiden kamen, desto bekümmerter wurde seine Miene. Sobald Anna vor ihm stand, schüttelte er bedauernd den Kopf, noch ehe sie die Gelegenheit hatte, ein Wort an ihn zu richten.
»Er ist immer noch nicht zurück.«
Anna presste die Hand auf ihr Herz und stützte sich mit der anderen am offenen Torflügel ab, als ob sie befürchtete, vor Schwäche gleich ohnmächtig zu werden.
»Bist du sicher?« fragte Leon nach. Unauffällig legte er eine Hand unter Annas Ellbogen und trat dicht hinter sie. »Du könntest ihn übersehen haben. Er ist doch nur ein kleiner Junge. Komm, Anna, du musst im Haus nachfragen.«
»Wenn er im Haus wäre, wüsste ich es. Die Herrin war gerade noch am Tor. Ich hab ihr sagen müssen, dass Anna schon zweimal hier war, um nach Heyno zu fragen.« Der Wachhabende krampfte die Faust um den Schaft der Lanze und spähte über die Schulter in den Hof, als erwartete er, die Vogtin Isabella wieder aufkreuzen zu sehen.
Leon gestand sich ein, Anna unterschätzt zu haben. Natürlich hatte sie zuerst zu Hause nachgefragt. Und das schon zweimal. Er kam sich dämlich vor.
»Und noch etwas, Anna«, fuhr der Mann mit belegter Stimme fort, »deine Mutter ist ziemlich aufgebracht. Sie hat mir aufgetragen, dich festzuhalten, wenn du das nächste Mal auftauchst. Du sollst sofort ins Haus kommen. Sofort, hörst du? Sie erwartet dich.« Voller Bedauern und Mitleid hatte er seine Botschaft herausgebracht. Er mochte Anna, das war deutlich zu erkennen. Anscheinend wusste er genau, was sie erwartete.
Sacht schüttelte sie den Kopf. »Ich kann die Suche nicht aufgeben«, flüsterte sie, »ich kann nicht.«
Soviel Schmerz und Hoffnungslosigkeit schwang in ihren Worten mit, dass sich Leon vor Pein innerlich krümmte. Wenn er etwas nicht ertragen konnte, dann Anna leiden zu sehen. Und doch musste er sie zur Vernunft bringen.
»Wir haben doch überall gesucht, Anna, es hat keinen Zweck mehr«, sagte er heiser. »Du musst fürs erste aufgeben.«
»Nein!« Anna riss sich los und fegte wieder die Gasse hinunter.
Die Wache war im Begriff, ihr nachzustürzen, aber Leon fasste den Mann am Ärmel und hielt ihn energisch fest.
»Du hast sie nicht gesehen, hörst du? Im Haus kann sie doch gar nichts ausrichten. Da hat sie nur ihre Stiefmutter zu ertragen. Du weißt doch, wie die ist.«
Furchtbar, hätte Leon hinzufügen können. Aber der Wachhabende hatte ihn auch so verstanden.
»Lauft«, seufzte er und trat einen Schritt zurück, »macht bloß, dass ihr mir aus den Augen kommt.«
Anna war stehen geblieben und schaute ängstlich zurück. Leon ging zu ihr.
Der Markt löste sich gerade auf. Stände wurden abgebaut, Buden geschlossen. Käufer wie Verkäufer verliefen sich, auf dem Pflaster wurden Gemüsereste zertreten. Hier und da lagen Pferdeäpfel herum oder die Hinterlassenschaft von Schafen und Ziegen. Man musste schon sehen, wohin man seine Füße setzte. Um seine abgetretenen Sandalen machte sich Leon wenig Sorgen. Die waren eigentlich immer dreckig, und auch Anna achtete nicht auf den Boden, sondern schaute angestrengt umher. Hier hatte das Unglück begonnen. Wie eigentlich genau?, fragte sich Leon, als Anna auf einmal aufschrie.
»Da ist er!«
»Wer?«
»Heyno!« Aufgeregt wies sie mit dem Finger auf die gegenüberliegende Seite des Markts, wo das Rathaus stand.
Leon erspähte eine rundliche Frau mit einem Korb am Arm. Eine Magd mittleren Alters, die versuchte, einen widerspenstigen kleinen Jungen mit sich zu zerren.
»Wer ist sie?«, fragte Leon.
»Keine Ahnung, zu unserem Haushalt gehört sie nicht«, antwortete Anna verwundert und setzte sich in Bewegung.
Der Kleine riss sich los, lief zu einem Esel und piesackte das Tier mit einem Stöckchen. Das war genau das Verhalten, das sie von Annas Bruder kannten. Der Knirps hatte Prügel verdient. Aber das wichtigste war, dass ihre verzweifelte Suche ein Ende hatte.
»Jetzt komm schon, Heyno, oder es setzt gleich was, ich hab nicht ewig Zeit«, schimpfte die Frau laut.
Anna hatte wieder ihre Röcke gerafft und rannte das letzte Stück. Leon folgte bedächtiger und sah, wie sie von hinten die Arme um ihren Bruder schlang und ihn an sich zog.
Der Bengel trat um sich, und Anna schrie auf. Gleichzeitig begann die dicke Magd zu keifen. Mit voller Wucht hieb sie Anna ihren Marktkorb in die Rippen. Ein Fisch flog heraus und beschrieb eine Kurve, bevor er aufs Pflaster klatschte.
»Lässt du den Jungen los!«, kreischte die Magd, puterrot im Gesicht.
Mit einem Sprung war Leon heran und fing den nächsten Hieb ab, indem er nach dem Korbhenkel fasste. Die Magd und er zerrten den Korb zwischen sich hin und her. Fische und Kohlköpfe flogen ihnen um die Ohren. Heyno lachte laut auf und klatschte begeistert in die Hände. Unvermittelt ließ Leon los und die Frau taumelte zurück.
»Wache!«, schrie sie aufgebracht.
Leon drehte sich um. Anna stand mit hängenden Armen da und starrte fassungslos den kleinen Jungen an.
»Was ist?«, fragte Leon, bevor sich die Magd wieder einmischen konnte.
»Es ist nicht Heyno!«
»Aber ...« Jetzt sah auch Leon genauer hin. Tatsächlich, das Kind war nicht Annas Bruder, auch wenn er es noch so gern gehabt hätte. Er musste sich ordentlich zwingen, die Tatsache zu akzeptieren.
Der Kleine flüchtete sich zu der alten Magd und krallte eine Hand in ihren Rock, grinste aber spitzbübisch. Es stimmte alles: die Größe, die Haarfarbe, das Alter, der grüne Kittel. Und doch war es nicht Heyno.
Aber hatte die Magd ihn nicht so gerufen?
Sie drückte den Jungen an sich.
»Verschwindet! Lumpenpack, verdammtes. Sich an Kindern zu vergreifen! Noch einmal und ...« Würdevoll wandte sie sich ab. »Komm, mein Kleiner, komm, Heymo.«
Heymo und nicht Heyno! Fast derselbe Name.
Wie ein Stein legte sich die Enttäuschung Leon auf die Brust, er hätte schreien können vor Qual. Schwerfällig bückte er sich, hob die Fische und die Kohlköpfe auf und legte sie der Frau in den Korb.
»Verzeihung, es war ein Irrtum. Wir haben den Jungen mit einem anderen verwechselt, den wir schon seit Stunden suchen. Es tut uns leid, dich erschreckt zu haben.«
Die Frau nickte gnädig und verschwand eilig mit ihrem Schützling. Zu spät fiel Leon ein, dass er sie nach einem Jungen, der ihrem Heymo ähnlich sah, hätte fragen können.
Ein paar späte Marktbesucher hatten zugeschaut, schüttelten nun die Köpfe und wandten sich ab. Anna sah blicklos auf ihre Schuhe. Schatten lagen auf ihren Wangen, sichtbare Zeichen von Erschöpfung und Kummer. Schmerzhaft zog sich Leons Herz zusammen, und er musste sich zwingen, sie nicht in die Arme zu nehmen. Das wäre hier in der Öffentlichkeit kaum schicklich gewesen.
Eine Markthändlerin, die ihre unverkauften Kohlköpfe und Lauchstangen auf einen Karren lug, äugte zu ihnen herüber. Leon ging zu ihr. Ihm war etwas eingefallen.
Wie war das noch mal mit dem Anfang gewesen? Anna hatte ihm doch von einem Gaukler erzählt?
»Ähm«, druckste er herum. »Habt Ihr den Gaukler gesehen?«
Die Frau glotzte ihn verständnislos an.
»Ein Gaukler, der mit Bällen jongliert hat«, half er nach. »Ein Mann in bunten Kleidern.«
»Nä«, sagte die Frau, richtete sich auf und stemmte eine Faust in die Hüfte, »bunt war der nicht. Und der tollpatschigste Gaukler, den ich je zu Gesicht bekommen hab.«
»Wenn der Gaukler war, bin ich Pferdehändler«, rief ein Mann und band eine magere kleine Ziege hinten an seinen Gemüsekarren.
»Oder Hochseiltänzer«, sagte ein Junge, der sein Sohn sein musste. Er schirrte einen klapprigen Esel vor den Karren.
Andere Händler und Marktfrauen, begierig auf einen Schwatz, traten jetzt gleichfalls näher, und alle lästerten ausführlich über den Gaukler.
»Sich so dumm anzustellen, ist auch schon wieder eine Kunst«, sagte einer lachend.
»Und, wo ist er hin?«, näherte sich Leon der entscheidenden Frage.
»Auf einmal war er weg wie der Blitz«, erklärte jemand.
»Ja, als der Marktaufseher kam.«
»Der Hanswurst von einem Gaukler hatte nie im Leben eine Konzession, auf dem Markt aufzutreten«, mutmaßte ein beleibter Händler. »Klar, dass der Fersengeld gab, sobald der Aufseher sich sehen ließ.«
Das leuchtete Leon ein. In Stralsund musste man für alles und jedes eine Konzession, eine vom Stadtrat ausgestellte Genehmigung haben. Ohne diese konnte hier niemand rechtmäßig einen Pfennig verdienen. Manche versuchten es trotzdem, auch wenn sie Gefahr liefen, festgenommen und zu einer Strafe verurteilt zu werden. Der Händler konnte recht haben.
Aber der Gaukler musste kurz nach Heyno verschwunden sein, vermutete Leon und überlegte, ob beide Ereignisse vielleicht zusammenhingen. Dann verwarf er den Gedanken. Anna war neben ihn getreten und begann nun halbwegs ruhig und gefasst, die Leute zu befragen. Jemand erinnerte sich sogar, ihren Bruder und sie gesehen zu haben, aber wie Heyno abhanden gekommen war, hatte niemand beobachtet. Alle waren zu sehr mit dem albernen Gaukler beschäftigt gewesen.
»Und nun?« fragte Leon leise.
»Ich möchte noch einmal in den Straßen suchen«, sagte Anna, »kommst du mit?«
Leon sah nur einmal flüchtig in ihr graues Gesicht, dann war für ihn klar, dass er sie begleiten würde, selbst wider jede Vernunft. Er nickte nur.
4. Kapitel
Auf der flachen Stufe vor der Jacobikirche saß immer noch der Aussätzige. Anna lief wieder an ihm vorbei.
»He!«, raunzte der Mann. Sie achtete nicht auf ihn, aber Leon drehte sich nach ihm um. Der Mann stieß seinen Krückstock aufs Pflaster.
»Was seid ihr bloß für Christenmenschen?«, schimpfte er. »Kommt zum dritten Mal an mir vorbei und gebt mir nichts? Nicht mal einen Kupferpfennig? Gott verdamm euch.«
Beschämt blieb Leon stehen, obwohl er nichts hatte, was er dem Mann geben konnte. Und wenn er es ihm erklärte, würde er ihm nicht glauben und ihn als Geizhals verschreien.
»Anna, hast du ein paar Pfennige für ihn?«, rief er ihr verlegen nach.
»Wir haben keine Zeit«, wies sie ihn ab und wollte weitergehen, »später, dann ...«
»Und Heyno?«, höhnte der Aussätzige. »Ich könnte für ihn beten.«
Anna machte auf dem Absatz kehrt.
»Was hast du gesagt?«, schrie sie.
Der Mann betrachtete sie mit einem unergründlichen Blick. Seine Augen waren rundum von kleinen Narben umgeben. Die Wangen bildeten eine rote, entzündete Kraterlandschaft, und die Nase war so gut wie nicht mehr vorhanden. Wirr standen ihm die braunen Haare vom Kopf ab, aber hier und da war eine Stelle vollkommen kahl. Jetzt, da Anna und Leon nur wenige Schritte von ihm entfernt waren, erreichte sie der faulige Geruch des Aussatzes. Leon konnte sehen, wie Anna mit Abscheu und Übelkeit kämpfte.
Gegen den Aussatz gab es kein Mittel. Fernhändler und heimgekehrte Kreuzfahrer hatten ihn eingeschleppt. Aber weil Christus den aussätzigen Lazarus von seinem Leiden geheilt hatte, galten alle Aussätzige als Heilige. Jeder Christ sollte ihnen mit Demut und Verehrung begegnen.
Der Mann wusste genau, welchen Ekel sein Anblick in Anna hervorrief. Er schürte ihr Unbehagen noch, in dem er eine schorfige Stelle in seinem Gesicht aufkratzte, bis Blut floss.
Auch Leons Magen krampfte sich zusammen. Dem Jungen gelang es immer weniger, Mitleid mit dem Mann zu empfinden.
»Was weißt du von Heyno? Wieso kennst du überhaupt seinen Namen?«, stieß Anna hervor.
Unmissverständlich hielt ihr der Mann die Hand hin.
»Gib mir dein Almosen!«, befahl er.
Hastig zog Anna ihren Rock bis zum Knie hoch und begann, nach dem kleinen Lederbeutel zu fischen, den sie unter dem Rock an einem Band um die Taille trug.
Als sie einige Kupfermünzen herausgekramt hatte, packte Leon ihren Arm und zog sie einen Schritt zurück.
»Lass dich nicht hochnehmen. Er hat gehört, wie wir immerfort Heynos Namen gerufen haben. Er müsste taub sein, wenn er es nicht gehört hätte.«
Der beinahe lippenlose Mund grinste breit.
»Kluges Kerlchen!«
»Betrüger!«, schimpfte Anna aufgebracht und warf ihm ihre milde Gabe verächtlich vor die Füße.
»Bin ich das?« Der Bettler lehnte sich zurück und starrte teilnahmslos auf die Pfennige, die um ihn herum übers Pflaster sprangen, bevor sie liegenblieben. Er machte keine Anstalten, sie aufzuklauben.
Enttäuscht wandte sich Anna ab, mit einer Hand wischte sie sich über die Augen und schluchzte trocken auf.
Der Bettler wartete, bis sie sich ein Stück entfernt hatten, und rief ihnen nach: »Ungefähr sieben Jahre alt, grüner Wollkittel mit roter Pastel am Hals?« Obwohl er kaum die Stimme erhob, musste sie Anna wie Donner in den Ohren hallen. Leon jedenfalls empfand es so. Er zuckte zusammen und packte Anna am Arm.
»Bleib ruhig, lass mich das machen!«
Anna sah ihn verständnislos an, während sie zugleich kehrtmachten, um zu dem Bettler zurückzugehen.
»Warum?«, fragte sie leise.
»Vertrau mir«, zischte Leon noch, dann waren sie wieder da, wo sie vorher gestanden hatten.
»Dein kleiner Bruder?« Der Mann deutete auf Anna. »Hübscher Bengel, sieht dir ähnlich.« Geläufig wandte er sich an Leon. »Das kostet aber extra.«
Wieso badet der Kerl nicht, dachte Leon, es gibt doch genug Badestuben in der Stadt und Leute, die sich darum reißen, für ihr eigenes Seelenheil einem Aussätzigen ein Bad zu spendieren. Baden soll doch angeblich sogar gegen die Krankheit helfen. Nur glaubt Gernod das nicht.
Er stellte sich so, dass ihn der Gestank nicht mehr ganz so heftig traf und atmete möglichst flach.
»Erst die Auskunft, dann das Geld, wenn’s überhaupt etwas gibt, das einen Pfennig extra wert ist«, sagte Leon kalt.
»Einen Silberpfennig«, forderte der Kerl ungeniert, »und den will ich sehen, bevor ich rede.«
Ein Silberpfennig war viel. Zuviel, fand Leon und wunderte sich über die Unverfrorenheit des Mannes. Aber Anna kramte schon wieder nach ihrem Geld und hielt schließlich einen Silberpfennig hoch.
»Gib her! Auf die Hand!«, kreischte der Bettler und rutschte näher.
Anna wich aus seiner Reichweite. »Sag, was du zu sagen hast, und ich weiß, ob ich dir glauben kann«, sagte sie beherrscht.
Finster starrte sie der Mann an, bevor er endlich den Mund aufmachte.
»Zwei Männer. Es waren zwei Männer, die den Kleinen die Straße hinab zerrten. Er trat um sich und schrie, aber das nutzte ihm nichts. Da sind sie lang.« Er wies auf eine Straße, die an St. Jacobi vorbei zum Hafen führte.
Anna war im Begriff, ihren Silberpfennig herzugeben, aber Leon hielt ihre Hand fest.
»Der Kleine hat um Hilfe gerufen, und du hast dich nicht gerührt? Was bist du für ein Mensch? Du forderst von allen Beistand, aber selbst leistest du keinen? Nicht einmal einem hilflosen Kind?«, schnauzte er den Bettler an.
Soweit die Miene des Mannes noch eine Regung wiederspiegeln konnte, war es Betroffenheit. Er kroch in sich zusammen und schaute flehend zu Anna auf.
»Was denkt ihr euch? Was erwartet ihr von einem, der den Tod vor Augen hat. - Diesen Tod«, setzte er flüsternd hinzu. »Ich verfaule Stück für Stück.« Mühsam beugte er sich nach vorn und begann, den schmutzigen Verband von einem seiner Füße abzuwickeln.
»Lass uns gehen«, keuchte Anna.
»Warte!« Leon fixierte den Bettler. »Du hast sie angesprochen, diese Männer, nicht wahr? Was haben sie gesagt? Und was haben sie dir gegeben?« Plötzlich sprang er vor, fasste den Mann grob an der Schulter und riss seinen Stock an sich. »Oder!« Er hob den Stock.
»Nicht, nicht!«, winselte der Bettler und duckte sich.
»Also?« Es fiel Leon schwer, die Drohgebärde beizubehalten. So verhielt man sich nicht gegenüber einem vom Schicksal so hart Geschlagenen. Aber er hatte keine Wahl. Er musste alles in Erfahrung bringen, was zur Aufklärung von Heynos Verschwinden beitragen konnte.
»Der eine hat gesagt, er sei der Vater. Der Kleine streune immer wieder in der Stadt herum, aber diesmal würde er ihn bei Wasser und Brot einen Tag lang einsperren, nachdem er ihn so verprügelt hätte wie nie zuvor.«
»Das hat er dir alles erzählt?«, fragte Leon verwundert. Für ihn klang das nach Lüge. Kein Vater, der seinen ungehorsamen Sohn am Kragen packte, hätte es für nötig gehalten, einem Bettler seine Strafmaßnahmen in aller Ausführlichkeit zu erläutern.
Mit zitternder Hand hatte der Mann eine Münze aus seinem zerlumpten Kittel hervorgeholt. »Hier!«, sagte er. »Das haben sie mir gegeben.«
Ein Silberpfennig! Ein Grund mehr, der dafür sprach, dass die Männer gelogen hatten. Ein Schweigegeld.
»Behalt’s«, sagte Leon erschöpft. »Mehr weißt du nicht? Wohin die Männer mit dem Jungen wollten?«
Der Mann hatte den Kopf gesenkt, als wenn er sich schämen würde. »Nein, das war alles.«
»Dann gib ihm jetzt deinen Silberpfennig«, sagte Leon mit brüchiger Stimme zu Anna, »er hat ihn verdient.« Er wollte jetzt nur noch weg und weder diese Mischung aus Abscheu, Entsetzen und Mitleid, die ihm der Mann einflößte, noch den Ekel über sein eigenes Verhalten länger ertragen. Bedächtig legte er den Stock zurück.
Aber der Bettler war noch nicht mit ihnen fertig. Als Anna die Münze in seine Bettelschale werfen wollte, streckte er wieder herrisch die Hand aus.
»Willst du nicht mehr für dein Seelenheil tun? Berühr mich!«
Manche Leute berührten die Aussätzigen oder wuschen ihnen sogar Hände und Füße, weil das als gottgefällige Tat galt. Dafür wurden ihnen, glaubten sie, einige ihrer Sünden vergeben.
Leon fragte sich, was dieser Mann vor Ausbruch der schrecklichen Krankheit gewesen sein mochte. Ein Handwerker? Ein wohlhabender Kaufmann? Die Krankheit machte sie alle gleich. Vom juristischen Standpunkt galten sie als tot. Wer vom Aussatz befallen wurde, verlor alle bürgerlichen Rechte. Er war ein Ausgestoßener.
Es war auch möglich, dass der Kerl ein Halsabschneider und Betrüger gewesen war, die Krankheit konnte schließlich jeden befallen. Leon nahm Anna die Münze aus der Hand und warf sie mit Schwung in die Schale.
Als sie sich ein Stück entfernt hatten, rief ihnen der Mann mit heiserer Stimme einen Dank nach. Sie wandten sich nicht mehr nach ihm um.
»Was glaubst du?«, fragte Anna, sobald sie sich außer Hörweite befanden.
»Das gleiche wie du. Das, was wir gehört haben. Zwei Männer haben Heyno entführt. Wir wissen nicht, warum und wohin. Aber das werden wir auch noch herausfinden«, sagte er so ruhig und nüchtern wie möglich.
Er hatte erwartet, dass Anna darauf einging, aber sie überraschte ihn, indem sie von etwas völlig anderem sprach.
»Hat dir der Aussätzige leid getan?«, fragte sie.
Erst zuckte Leon unwillig die Schultern. Der Aussätzige war ja wohl das letzte, was sie interessieren musste, aber dann antwortete er doch.
»Ja«, gab er unbehaglich zu und fuhr fort: »Trotzdem hab ich mich vor ihm geekelt.« Hauptsächlich, dachte er, weil ihm der Mann so ganz und gar missfiel. Der Kerl hatte etwas Verschlagenes und Raffgieriges an sich, sodass sich das Mitleid von selbst in Grenzen hielt.
»Ich auch«, sagte Anna nachdrücklich. »Ich hatte so ...., so ... widersprüchliche Gefühle, du nicht?«
Leon verstand nicht, worauf sie hinauswollte, und es war ihm auch gleichgültig. Bei ihrer Suche nach Heyno hatten sie den Hafen ausgespart, nachdem Anna sehr bestimmt erklärt hatte, dass ihr Bruder sich niemals allein dorthin getraut hätte. Von kleinauf hatte er gehört, wie gefährlich es dort sein konnte. Gefährlich für ein ohne Aufsicht und Schutz herumstreunendes Kind. Soviel Verstand hatte Annas kleiner Bruder, die Warnungen ernst zu nehmen. Leon hatte leichte Zweifel gehabt. Aber die waren nun überholt. Der Bettler hatte eindeutig die Richtung zum Hafen gewiesen. Dort würden sie nach Heyno suchen. Fraglich war nur, ob der Bettler die Wahrheit gesagt hatte.
Anna hatte einen Augenblick geschwiegen.
»Weißt du, es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag. Ich mag ihn, nur ...«
»Wen?«, unterbrach Leon sie ungeduldig.
Abrupt blieb Anna stehen. »Heyno, natürlich.«
»Na, sicher«, sagte Leon.
Anna funkelte ihn an, deshalb gab er sich den Anschein, ihr nun mit voller Aufmerksamkeit zuzuhören, während er verlangend zum Stadttor spähte, einem der fünf Seetore der Stadt.
»Ja, ich mag ihn«, wiederholte Anna heftig, »aber ebenso oft auch nicht. Es ist so schwierig mit einem jüngeren Bruder, weißt du.«
Leon wusste es nicht. Er hatte keinen jüngeren Bruder, er hatte überhaupt keinen, er war das einzige Kind seiner Eltern, und die waren seit vielen Jahren tot. Anna hatte Angehörige - er nicht. Darüber gab es nicht viel zu reden. Aber dann erkannte er plötzlich, was in ihr vorging. Sie haderte immer noch mit sich und gab sich weiterhin die Schuld am Verschwinden ihres Bruders. Nur jetzt endlich konnte sie sich diesem Gefühl stellen. Denn jetzt wusste sie, dass noch etwas anderes im Spiel war als ihr Unwillen, auf einen lästigen kleinen Bruder aufzupassen.
»Und seit er da ist, hat Vater so wenig Zeit für mich.«
Auch das noch, dachte Leon entsetzt.
Der kleine Heyno würde der nächste Vogt von Stralsund werden, und deshalb widmete Witzlaf ihm wohl mehr von seiner kargen Freizeit, als Anna recht war und ertragen konnte. Aber Leon wusste auch, wie sehr Witzlaf an seiner Tochter hing.
Anna musste Leon einiges vom Gesicht abgelesen haben.
»Ich bin eifersüchtig auf meinen kleinen Bruder! Ich bin blöd, nicht wahr?«, fragte sie unverblümt.
»Sehr!« Leon nickte voller Überzeugung und handelte sich einen Puff ein. Er hatte sich gerade wieder in Marsch setzen wollen, strauchelte jetzt aber und fiel hart aufs Pflaster. Ein höllischer Schmerz zuckte ihm durchs Knie.
Erschrocken fasste ihn Anna unter den Arm und zog ihn hoch. »Das wollte ich nicht, o, Leon, wie konnte ich nur! Du blutest.«
Seine Hose war zerrissen, und durch die Reste des Stoffs sickerte Blut. Mit beiden Händen zerrte er das Tuch weiter auseinander, um sich die Wunde anzusehen.
Dreck klebte in der Aufschürfung, kleine Steinchen und ein Strohhalm, den er vorsichtig abzupfte, während er die Luft durch die Zähne einsog. Vorsichtig hinkte er einen Schritt. Es tat weh. Und wie es wehtat! Der Schmerz kroch das ganze Bein hoch und machte jeden Schritt zur Qual.
Anna hielt Leon fest und schlang die Arme um ihn.
»Ich bin unausstehlich, den ganzen Tag schon! O, Leon, bitte hau mir eine runter, ich hab’s verdient«, jammerte sie zerknirscht und drückte den Kopf an seine Schulter.
Ihm war nach etwas ganz anderem zumute, als sie zu schlagen. Das verletzte Knie hatte überhaupt keine Bedeutung mehr für ihn, er spürte es kaum noch. Nur Anna, ihren weichen, nachgiebigen Körper und ihren süßen, frühlingshaften Duft. Wie eine Woge überrollte ihn all das zärtliche Gefühl, das er für sie hegte. Das Knie war jetzt direkt ein Geschenk des Himmels. Behutsam legte er die Arme um sie und drückte sie fest an sich.
Jetzt müsste die Zeit stehen bleiben.
Aber Anna löste sich bereits wieder von ihm.
»Lass mich die Wunde anschauen. Du musst sofort zum Kloster zurück, damit Bruder Gernod sie dir auswaschen und versorgen kann. Ich will nicht, dass sie sich entzündet.«
Leon merkte bereits, wie das Knie anschwoll, trotzdem zog er Anna energisch mit sich fort in die Richtung, in der das Stadttor lag.
»Was glaubst du, wie oft ich mir die Knie aufschlage? Gernod schert sich einen Dreck um solche Kleinigkeiten. Komm schon, ich hab nicht bis zum Abend Zeit.«
Er sprach weiter auf sie ein, um sie abzulenken und wieder auf ihr eigentliches Problem zurückzuführen: Heyno. Einige Meter vor dem prächtigen Stadttor war vom Knie nicht mehr die Rede, aber er hatte die größte Mühe, nicht zu hinken.
»Ich bin blöd! Ich bin saublöd!« Stöhnend wandte sich Leon um und schaute zurück. »Weißt du, was wir vergessen haben?«
»Sag’s schon.«
»Wir hätten uns von dem Bettler die beiden Männer beschreiben lassen sollen. Dann könnten wir uns gezielter nach ihnen erkundigen. Wir müssen zurück.«
»Ich geh zurück«, sagte Anna bestimmt, »du bleibst hier und wäschst dir das Knie im nächsten Brunnen. Da vorn ist einer. Meinst du, ich merke nicht, dass du hinkst? Was ist mit deinem Knie?«
Er drehte sie mit beiden Händen um und schob sie vorwärts.
»Geh schon.«
Bis sie zurückkam, hatte er die Wunde notdürftig mit Wasser gereinigt, war sich aber im Zweifel, das Richtige zu tun. Gernod hielt nicht viel vom Stralsunder Wasser. Er hätte die Wunde wahrscheinlich mit Wein ausgewaschen.
Annas Miene verriet Leon sofort, was geschehen sein musste. Der Bettler war verschwunden. Tonlos bestätigte sie seinen Verdacht, dann liefen sie zusammen auf das Stadttor zu.
Die Torflügel standen weit und einladend offen. Aber als sie sich bis auf wenige Meter genähert hatten, trat auf einmal die Wache aus dem Schatten des großen überwölbten Durchgangs. Der Mann starrte ihnen entgegen, und Leon gewann die Überzeugung, dass er sie beobachtet und auf sie gewartet hatte.
Erschrocken blieb Anna stehen. »Das ist Hinrich Altefurt, einer von Vaters Männern. Ich glaube, er hat mich auch erkannt und ...«
Aufreizend langsam hielt der Mann die Lanze schräg. Eine unmissverständliche Geste. Mit der Waffe versperrte ihnen der Wächter den Durchgang. Bestimmt hatte er die Anweisung aus der Vogtei bekommen, Anna festzuhalten. Dafür sprach der zweite Mann, der nun neben dem ersten auftauchte. Ja, ganz sicher sollte einer von ihnen Anna unverzüglich nach Hause bringen.
»Was nun?«, seufzte Anna unglücklich.
5. Kapitel
Vorsichtig stieß Willibrod die Tür zur Apotheke einen Spalt breit auf und lugte hinein.
Gernod hob nur andeutungsweise den Kopf und sagte barsch: »Nein!«
Trotz der eindeutigen Abfuhr trat sich Willibrod vor der Schwelle die Sandalen ab und schob sich in den großen Raum. Drinnen roch es betäubend nach den frischen Kräutern, die draußen im Garten und auf den Frühlingswiesen vor der Stadt wuchsen und hier in dicken Bündeln zum Trocknen von der Decke hingen.
Die Apotheke war ein graues Steingebäude in einem Winkel des Kräutergartens zum Wirtschaftshof hin. Sie stand nicht weit entfernt von der Mauer, die das ganze Kloster umgab. Gebaut war sie nach Gernods eigenen Plänen. Er hatte die Türen so angeordnet, dass er sowohl Zugang zum Garten als auch zu den Ställen hatte. Außerdem konnte er beinahe ungesehen das Kloster durch eine eigene kleine Pforte in der Mauer verlassen. Spätnachmittagslicht fiel durch die Fenster herein und ließ die Ecken bereits in Dämmerung versinken. Gernod langte nach einer Kerze, um sie zu entzünden, ohne allerdings die Feder beiseite zu legen, mit der er in einem großen dicken Buch schrieb.
»Lass mich das machen!« Willibrod eilte herbei und nahm Feuersteine und einen Span zur Hand. Wenig später brannte die Kerze.
»Danke, und jetzt geh wieder«, sagte Gernod abwehrend, »oder ich werde mit dieser Seite nie fertig.«
Mit der Billigung des Abtes schrieb er an einem umfassenden Werk zur Kräuterheilkunde, das auch anderen Ärzten nützlich sein sollte. Eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, bei der er keine Ablenkung brauchen konnte. Jedes Detail musste stimmen und jeder Buchstabe bestechend scharf und akkurat aufs Pergament gebracht werden, damit später die Kopisten das Buch abschreiben konnten, ohne Fehler zu begehen.
Vor ihm auf dem Tisch standen eine Waage und eine Reihe von Schälchen mit verschiedenen Kräutern, die er für eine spezielle Mischung ausgewogen hatte. Willibrod verschob unruhig zwei der Schälchen.
»Ich merke«, knurrte Gernod, »dass sich in mir ein unchristlicher Zorn auf dich breitmacht. Willst du das verantworten?« Jetzt schaute er endlich auf.
Rasch angelte Willibrod mit dem Fuß einen Hocker heran und setzte sich.
»Ich mach mir halt Sorgen um Leon«, sagte er schlicht.
Gernod wies mit dem Finger auf ihn. »Sorgen, die dich bereits das dritte Mal hierher treiben? Das macht mir Sorgen, und es beweist mir, dass du genau wie ich die Sache falsch anpackst. Wir sind drauf und dran uns wie aufgeregte Glucken zu verhalten. Ich hab dir gesagt, ich schicke den Jungen zu dir, sobald er die Nase zur Tür herein steckt und noch bevor ich ihm die Ohrfeigen versetzt habe, die er sich heute redlich verdient hat. Er ist dabei, ein richtiger Lümmel zu werden.«
»Nein, das glaube ich nicht«, widersprach Willibrod ohne allzuviel Überzeugung. Als er das erste Mal auf der Suche nach Leon in die Apotheke gekommen war, hatte er sich ausführlich dessen ungebührliches Verhalten vor dem Abt und dem hohen Besucher, dem Kollektor, und das unpassende Auftauchen Annas schildern lassen. Für letzteres kam ja auch nur Leon als Schuldiger in Frage. »Sie müssten den Kleinen doch längst gefunden haben«, fuhr er bedächtig fort.
»Bestimmt«, bestätigte Gernod, »und jetzt traut sich Leon nicht heim, weil er weiß, dass er sich wie ein Esel aufgeführt hat.«
Es waren Gernod und Willibrod gewesen, die vor vier Jahren dafür gesorgt hatten, dass der Waisenjunge Leon im Kloster aufgenommen wurde. Seitdem kümmerten sie sich um ihn und unterrichteten ihn in allen Künsten, die sie beherrschten: der eine in der Apotheke und der andere in den weitläufigen Gärten des Klosters. »Ich verstehe nur Anna nicht«, fuhr Gernod fort. »Sie ist doch sonst so ein kluges, vernünftiges Mädchen. Warum hat sie so einen Wirbel entfacht? Ihr kleiner Bruder kann nicht weit gekommen sein, egal, wohin er sich verlaufen hat. Wenn er sich verlaufen hat! Es ist ein Kreuz mit verzogenen Kindern.«
Willibrod kratzte sich bedächtig eine Stelle auf der Tonsur, der kahlen Mitte oben auf dem Schädel, die er sich am Morgen hatte frisch scheren lassen. Das Messer des Barbiers war einmal abgerutscht und hatte eine rote Schramme hinterlassen.
»Ja, wenn er sich verlaufen hat ...«, wiederholte er gedehnt.
Gernods Augen verengten sich. »Davon wollen wir ausgehen, solange wir nichts anderes wissen. Du meinst, Heynos Verschwinden ist bedenklich, weil er der Sohn des Vogts ist? Ich hoffe nur, Anna und Leon haben nicht zu laut nach dem Kleinen gerufen. Es täte nicht gut, wenn sich herumspräche, dass Witzlaf seine Familie nicht unter Kontrolle halten kann.«
Die beiden Mönche mochten den stets um Gerechtigkeit bemühten Vogt von Stralsund, den Bevollmächtigten der Pommernherzöge, zu deren Herrschaftsgebiet Stralsund gehörte.
»Nein«, sagte Willibrod bedrückt, »er hat so schon genug Schwierigkeiten. Immer diese Streitigkeiten und das Gezänk um die Abgaben an die Herzöge. Du hast mir noch nichts über den Kollektor erzählt. Was will er bei uns? Ich habe gehört, Arnulf ist gar nicht glücklich über den Besuch.«
»Ja, das sollte dir mehr Sorgen machen, denn der Besuch geht uns alle an. Geld will er, was sonst? Edgar van Berghe fordert im Namen des Bischofs einiges mehr von unseren Klostereinnahmen als Arnulf erwartet hat. Eine Sonderabgabe. Den neuen Schuppen für deine Gartengeräte wirst du nicht bekommen, es sei denn, du überredest ein paar mildtätige Stralsunder, dir das Baumaterial dafür zu spenden. Und ich muss noch länger auf neue Steintiegel und Mörser warten, die alten sind kaum noch zu etwas zu gebrauchen. Wir dürfen uns in den Tugenden üben, die wir beim Eintritt in den Orden gelobt haben: Geduld, Demut und Verzicht.« Es klang eindeutig ironisch, ein deutliches Zeichen für Gernods Verärgerung.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (eBook)
- 9783960530695
- Dateigröße
- 1.9 MB
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (April)
- Schlagworte
- 14. Jahrhundert Schweden Mittelalter Jugendbuch ab 12 Jahre historischer Roman für Jungen Seefahrt für Mädchen Freundschaft Piraten Stralsund Kinderkrimi eBooks